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Kunstmuseum Stuttgart: Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels Die Welt als Labyrinth von Manierismus bis Neoavantgarde (1520–1970)

Bridget Riley, Hesitate, 1964, Dispersion auf Hartfaserplatte, 107 × 113 cm (Tate, London, presented by the Friends of the Tate Gallery 1985)

Bridget Riley, Hesitate, 1964, Dispersion auf Hartfaserplatte, 107 × 113 cm (Tate, London, presented by the Friends of the Tate Gallery 1985)

Op Art, Abkürzung für Optical Art, also die Kunst der Illusion und Täuschung, der faktischen und vermeintlichen Bewegung, die in den 1950er und 1960er Jahren ihre Hochphase hatte, wird im Kunstmuseum Stuttgart gänzlich neu interpretiert.

 

Op Art, der erste abstrakte Manierismus

Die multimediale Schau ist nicht der Geschichte der Bewegung gewidmet, sondern geht von der Hypothese aus, dass die Op Art in einem spannungsreichen Verhältnis zur konkreten Kunst steht. Oder wie Eva Badura-Triska, die die Schau gemeinsam mit Markus Wörgötter für das Wiener mumok konzipierte (→ mumok: Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970), also die Kuratorin es formulierte: „Op Art ist der Manierismus der konkreten Kunst.“ Manierismus wird in diesem Sinne nicht als Epochenbegriff aufgefasst, sondern als Haltung, die die Übertreibung liebt, das Verzerren und das Spiel hochhält und sich ganz allgemein als „anti-klassisch“ gibt. Auf zwei Ebenen des Museums führen Badura-Triska und Wörgötter auf ebenso spielerische und unhierarchische Weise die „Manierismen“ vom frühen 16. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zusammen.

Parmigianinos berühmtes „Selbstporträt im Konvexspiegel“ (um 1523/1524) aus dem Kunsthistorischen Museum trifft - noch in der Wiener Station - auf Bridget Rileys „Blaze 1“ aus dem Jahr 1962. Wer bisher angesichts des weiß-schwarz gemusterten Tondos an Marcel Duchamps in den frühen 1930er Jahren geschaffenen Rotorreliefs denkt, wird Erstaunliches entdecken: Die strukturelle Ähnlichkeit der sich in einer Spiralbewegung konzipierten Kunstwerke. Zwar trennt sie mehr als 450 Jahre und höchst unterschiedliche Kontexte ihrer Entstehung doch die Rundform, die Extremsituation der Darstellung, die auf den Körper und die Wahrnehmung bezogene Darstellungen verbinden das Selbstbildnis mit der ungegenständlichen Komposition. Das mumok versammelt in diesem Sinne Werke der Renaissance und des Barock, um sie in den Diskurs rund um die Op Art einzuführen. Das mumok schließt mit dieser Schau eine Lücke in der Aufarbeitung der Kunst der 1960er Jahre.

 

 

Wahrnehmungsexperimente für verschiedene Betrachterstandpunke

Unter den bahnbrechenden Kunstströmungen der 1960er Jahre wurden der Op Art und der kinetischen Kunst bislang nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Viele Kritiker deklassierten sie als zu spektakulär und daher oberflächlich. Zweifellos beweist die mumok-Ausstellung die Freude am Experiment, am Spiel, an der mathematisch geleiteten Recherche, am verrutschten Raster, an der Irritation der Materialität. Die Werke erzählen nichts, sondern bieten Versuchsstationen für das Publikum. Im Gegensatz zur Abstraktion eines Piet Mondrian steht auch keine metaphysische oder spirituelle Erhebung am Ende der Kunsterfahrung. Werke der Op Art sind im besten Sinn „offen“ für die Wahrnehmung, wie es Umberto Eco in seinem epochalen Aufsatz „Das offene Kunstwerk“ 1962 beschrieb. Doch dadurch werden Op Art und kinetische Kunst nicht entwertet schärfen das Bewusstsein für die Ambivalenz der Wirklichkeit. Sie führen buchstäblich vor Augen, dass die Wahrnehmung nicht objektiv, sondern von veränderlichen Parametern wie Kontext und Betrachterpositionen abhängig ist.

Wenn man sie wie die beiden Kuratoren als „Scharnier zwischen klassischer Moderne und Postmoderne“ begreift, erhält die Op Art eine neue entwicklungsgeschichtliche Brisanz. Sie erkennt die Rolle der Rezipierenden an und bindet sie ein, begreift die Erscheinung eines Objekts als ambivalent und geht von der Relativität der Erfahrungen aus. Anders gefragt: Welchen Betrachterstandpunkt hast du?

 

 

Optische Täuschung, Bewegung und der Schwindel

Mit „Vertigo“ wählt das mumok einen doppeldeutigen Titel. Zum einen bedeutet das Lateinische Wort „Schwindel“, das Gefühl, dass der Raum sich bewegt, und dass man sich nicht sicher in ihm bewegen kann. Genau in diesem Wortsinn verwendete ihn Alfred Hitchcock für seinen 1958 erschienen, gleichnamigen Film, wobei sich die Bedeutungen Irritation, Illusion und Instabilität anlagern. Damit wird beschrieben, dass die Op Art nicht nur den Sehsinn herausfordert, sondern sich körperlich manifestiert. Op Art Werke aus Büchern zu rezipieren, macht daher nur halb so viel Spaß und Sinn, wie sie im musealen Raum zu erleben – auch auf die Gefahr hin, sich unsicher zu fühlen (oder angesichts eines Flickerfilms von Peter Kubelka und Tony Conrad gar einen epileptischen Anfall zu haben).

Badura-Triska weist darauf hin, dass Bridget Riley Bilder daher ihre Werke mit Begriffen betitelt, die physische Erfahrungen oder Zustände benennen: beispielsweise „Blaze“, „Static“, „Cateract“, „Hesitate“ oder „Climax“. Die britische Malerin ist mit einigen eindrucksvollen Arbeiten in der Schau vertreten. Ihren Werken gegenüber findet sich eine für das mumok überraschende Leihgabe: eine Zeichnung von Matthias Grunewald. Das Haar der „Maria der Verkündigung“ (1512–1516) fällt in sanften Wellen, was als formale Übereinstimmung mit den abstrakten Bildern von Riley angeboten wird. Ebenso farbig reduzierte oder gar auf den Schwarz-Weiß Effekt aufbauende Gemälde von Victor Vasarely, Rasterkonstruktionen von François Morellet, sich scheinbar vor- und zurückwölbende Muster von Richard Anuszkiewicz, Farben-Fäden mit starkem Moiré-Umspringeffekt von Carlos Cruz-Diez, ZERO-Strukturen von Gerhard von Graevenitz, vibrierende Metallstäbe von Jesús Rafael Soto.

 

 

Die Bedeutung italienischer Künstlerinnen und Künstler für die Op Art – hier sei nur kursorisch auf Gianni Colombo verwiesen – führte zur oben bereits erwähnten theoretischen Auseinandersetzung von Umberto Eco mit dem Kunstwerk. Ebenfalls 1962 erschein sein Aufsatz „Arte programmata“, der der Op Art ihren italienischen Namen gab. Dem Anti-Klassischen rang schon Piranesi in seiner berühmten Serie der „Carceri“ wunderbar verstörende Illusionen ab. Die Kerker werden zu Labyrinthen, aus denen es kein Entrinnen gibt – oder angesichts deren architektonischer Struktur der Wunsch nach Überblock, Ordnung und Kontrolle gänzlich aufgegeben werden muss. Dementsprechend orientierten sich die Ausstellungsmacher am Labyrinth für die Präsentation. Besonders augenfällig wird dies auf der 2. Ebene des mumok, wo installative Arbeiten und der wissenschaftlich-historische Teil auf kinetische Lichtobjekte treffen.

Claude Mellans außergewöhnliche „Vera Icon“ (1649) zeigt zwar einen „klassischen“ Christuskopf, sie ist aber als Bravurstück auf einer einzigen Linie aufgebaut. Durch Vertiefung und Verbreiterung der Taille des Kupferstichs erzielte Mellan dunklere und hellere Liniensegmente. Erst der Wahrnehmungsprozess macht aus der Spirale ein „Bild“. In der Nachkriegszeit von der Abbildungsfunktion gänzlich befreit, arbeiteten Op Art Künstlerinnen und Künstler mit Licht, Spiegel, Plexiglas oder spiegelnden Metalloberflächen, um Räume zu verändern. Sie versetzten ihre Objekte in Bewegung, um das Licht zu lenken oder zu brechen. Sie arbeiteten mit mehr als nur einer Ansicht und eroberten sich den Raum. Spielerisch, affirmativ aber auch das strenge orthogonale Raster der Klassischen Moderne immer wieder aus dem Gleichgewicht bringend, wecken diese Werke Interesse und unterhalten im positiven Sinn.

 

 

Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970 im mumok

Die Ausstellung „Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970“ umfasst ein breites Spektrum an künstlerischen Arbeiten: Gemälde, objekthafte Tafelbilder, Reliefs und Objekte, installative Arbeiten und Erfahrungsräume bis hin zu Film und computergenerierter bzw. -gesteuerter Kunst. Der Dialog mit der Kunst der Alten Meister ist höchst gelungen und führt die These von den „Manierismen“ der Kunstgeschichte als übersteigerter Klassizismus deutlich vor Augen. Diachrone Schnitte – erzeugt durch Gegenüberstellungen formal ähnlicher Werke oder durch die Einführung in historische Verwirr-Techniken wie das Vexierbild oder die Anamorphose – lassen die Op Art nicht nur als „Brücke zur Postmoderne“ erscheinen, sondern bringt sie mit historisch erprobten Konzepten in Verbindung, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Aktualität erhielten. Der Katalog führt tief in diese Auseinandersetzung ein, gibt aber bewusst keine Informationen zu den ausgestellten Künstlern. Im Anschluss an die Wiener Schau wie die Ausstellung „Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970“ in Stuttgart zu sehen sein.

 

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

Marc Adrian (→ Op-Art und Konkrete Kunst in Wien ), Getulio Alviani, Richard Anuszkiewicz, Marina Apollonio, Giuseppe Galli-Bibiena, Alberto Biasi, David Bomberg, Vladimir Bonačič, Davide Boriani, Gianni Colombo, Toni Costa, Carlos Cruz-Diez, Marcel Duchamp, Gerhard von Graevenitz, Matthias Grünewald, GRAV, Gruppo T, Gruppo N, Erika Giovanna Klien, Peter Kubelka, Heinz Mack, Enzo Mari, Almir Mavignier, Claude Mellan, László Moholy-Nagy, François Morellet, Lev Nusberg, Julio le Parc, Helga Philipp, Ivan Picej, Giovanni Battista Piranesi, Vjenceslav Richter, Bridget Riley, Dieter Roth, Nicolas Schoeffer, Robert Smithson, Jesús Rafael Soto, Aleksandar Srnec, Abbott Henderson Thayer, James Turrell, Grazia Varisco, Victor Vasarely, Simon Vouet, Edward Wadsworth, John und James Whitney.

Kuratiert von Eva Badura-Triska und Markus Wörgötter
Ausstellungsgestaltung von Kuehn Malvezzi, Berlin

 

Bilder

  • Richard Anuszkiewicz, Convex & Concave, 1966 (Privatsammlung, Mailand)

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.