Die Biblioteca Reale in Turin besitzt dreizehn Zeichnungen von Leonardo da Vinci – darunter das berühmte „Selbstporträt“ und die zauberhafte „Kopfstudie eines Mädchens“. König Carlo Alberto erwarb die kostbaren Blätter 1840. Teodoro Sabachnikoff schenkte 1893 König Umberto I. den Codex über den Vogelflug [Codice sul volo degli uccelli, Codex Turin]. Die Ausstellung in den Musei Reali kreist mit etwa 50 Werken um den Turiner Bestand an Leonardo-Zeichnungen sowie die Recherche über das Flugverhalten samt Versuch, ein Fluggerät zu konstruieren.
Italien / Turin, Musei Reali
15.4. – 14.7.2019
Alle Leonardo-Werke in Turin sind zwischen 1480 und 1515 zu datieren und dokumentieren mit ihrer Vielfalt an Themen und Funktionen die verschiedenen Interessensgebiete wie Aufgabenbereiche des Künstlers von dessen Jugend bis ins reife Alter. Einige Zeichnungen entstanden in Verbindung mit bekannten und vielgerühmten Werken des Renaissance-Meisters: Akte für die „Schlacht von Anghiari“, Pferde-Studien für die Denkmäler Sforza und Trivulzio, die außergewöhnlich idealisierte Kopfstudie eines Mädchens für den Engel in der „Felsgrottenmadonna“. Das Hauptwerk ist aber zweifellos das „Bildnis eines alten Mannes“ (1515/16), das für das einzige authentische Selbstporträt Leonardos gehalten wird.
Die Entstehung der Turiner Zeichnungen wird im Verhältnis zu ähnlichen Werken anderer Künstler untersucht – von Andrea del Verrocchio bis Pollaiolo, von Michelangelo Buonarroti bis Raffael, bis zu den Lombardischen Malern Bramante und Boltraffio. Der Vergleich mit seinen Zeitgenossen und Nachfolgern macht schnell deutlich, was die Besonderheit von Leonardos Werk ist.
Der erste Teil des Ausstellungsrundgangs ist in sechs Kapitel unterteilt, die Schlüsselthemen und -erfahrungen aller Renaissance-Künstler vorstellen:
Leonardos Studien des Vogelflugs und das bisher unerforschte Thema „Leonardo und der Piemont“, für das die in den Schriften Leonardos genannten Orte erstmals analysiert werden. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Piemont ist das Blatt „Naviglio di Ivrea“ aus dem Codex Atlantico.
Der Codex über den Vogelflug (Codice sul volo degli uccelli) ist unter der Signatur Varia 95 in der Bibliotheca Reale in Turin verwahrt. Leonardo beschrieb das kleinformatige, etwa 15 × 21 cm große Heft mit seinen Studien über den Vogelflug in Spiegelschrift. Dazu fügte er auch noch Illustrationen. Leonardos „bionische“ Studien münden in dessen Versuch, ein Fluggerät zu konstruieren und Flugversuchen am Monte Ceceri bei Florenz. Allerdings war es nicht Leonardo selbst, der sich mit der neuartigen Maschine in den Himmel stürzte, sondern dessen Mitarbeiter Tommaso Masini. Da die menschliche Muskulatur im Vergleich zum Gewicht des Menschen zu schwach entwickelt ist, misslang das Experiment und Masini brach sich ein Bein und mehrere Rippen.
Im Jahr 1893 schenkte der russische Sammler Fiodor Sabachnikoff das unvollständige Manuskript König Umberto I.; nach 1920 stellte man es mit den drei fehlenden Blättern, die der Genfer Henri Fatio an Königin Margherita geschenkt hatte, neu zusammen.
Ein besonderer Schatz der Biblioteca Reale ist das „Bildnis eines alten Mannes“ (1515/16) aus der ehemaligen Sammlung von Giovanni Volpato, das für das einzige authentische Selbstporträt Leonardos gehalten wird. Die sehr präzise Zeichnung eines faltigen Gesichts entstand während Leonardos Dienst für Franz I. von Frankreich. Am unteren Rand des Blatts findet sich die Bezeichnung „Leonardus Vincius Ritratto di se stesso assai vechio“, die nicht von Leonardo selbst geschrieben wurde.
Die Zeichnung zeigt das Gesicht eines reifen Mannes mit langen, weißen Haaren, langem Bart, Halbglatze, leicht hängenden Mundwinkeln. Der strenge Blick ist nach recht gerichtet, aus dem Gesicht lässt sich Ernsthaftigkeit oder auch Nachdenklichkeit ablesen. Tiefe Falten zeugen von einem erfahrungsreichen Leben.
Neben der Identifikation des Bildnisses als Selbstporträt Leonardos wird in der Literatur die Deutung der Zeichnung als Bild eines antiken Philosophen (von Pythagoras bis Demosthenes) oder von Leonardos Vater, Piero da Vinci, diskutiert. Dennoch steht das Abbild heute weltweit als Synonym für den Wissenschaftler und Künstler Leonardo – ist quasi dessen „Marke“.
Nach dem „Selbstporträt“ ist die „Kopfstudie eines Mädchens“ das berühmteste Leonardo-Blatt der Biblioteca Reale von Turin. Der berühmte Kunsthistoriker Bernard Berenson bezeichnete es 1952 als das schönste, gezeichnete Porträt auf der Welt.
Leonardo zeichnete meisterhaft ein Mädchen, das über seine linke Schulter aus dem Bild herausschaut. Trotz der Einschränkungen durch den Silberstift und einigen wenigen Korrekturen an den Konturen von Hals, Kinn und auf der rechten Seite des Gesichts wirkt das idealisierte Bildnis perfekt. Der Maler konzentrierte sich ganz auf die Durcharbeitung der Gesichtsformen und des Blicks, indem er mittels Schatten Volumen andeutete und die Höhungen mittels Weiß herausarbeitete. Die Formen der Mütze, Haare, Schulter und Kleidung werden nur mit wenigen Linien umrissen.
Normalerweise stellte Leonardo weibliche Köpfe im Profil dar. Vielleicht kam er auf die Idee für diese außergewöhnliche Pose – schräg von hinten und mit dem Gesicht in Richtung der Betrachter, weil er Figuren in Werken des Florentiner Malers Fra Filippo Lippi (1406–1469) studierte. Lippis „Madonna und Kind mit zwei Engeln“ (um 1460–1465, Uffizien) zeigt einen ähnlich angeordneten Engel. Auch in den Werken von Andreal del Verrocchio, Leonardos Lehrmeister, finden sich solche die Außenwelt und das innerbildliche Geschehen miteinander verbindende Figuren (z.B. die „Taufe Christi“, an der Leonardo mitarbeitete).
Um 1490 malte Leonardo da Vinci das Porträt von Cecilia Gallerani (1473–1536 → Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ bleibt in Polen), der Geliebten von Ludovico Sforza. Sie ähnelt dem Mädchenkopf und zeigt in ihrem Porträt eine ähnliche Spannung zwischen Kopf und Oberkörper.