„Man kann aus Venedig nicht abreisen, ohne sofort wiederkommen zu wollen!“ Mit diesem Satz von Claude Monet kann sich wohl so ziemlich jeder Venedig-Reisende identifizieren. Nicht mehr als 13 Quadratkilometer ist Venedig groß, doch seine Anziehungskraft bewegt bis heute Massen. Die Ausstellung im Bucerius Kunstforum widmet sich dem Blick der Künstler auf Venedig vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart – und ermöglicht einen ausgezeichneten Einstieg in das Thema. Die Bedeutung der venezianischen Schule von der Renaissancemalerei der Bellini und des Tizian sowie der „Export“ der Rokokomalerei Tiepolos bis nach Würzburg und Madrid steht in Hamburg nicht im Zentrum. Stattdessen beleuchtet die Präsentation das Bild der Stadt von der Erfindung der Vedute im 18. Jahrhundert bis zur Wiederentdeckung der Lagunenstadt durch englische Künstler während des 19. Jahrhunderts.1 William Turner und Claude Monet sind wohl nach Canaletto die berühmtesten Venedig-Interpreten der Malereigeschichte. Doch die von Inés Richter-Musso kuratierte Schau versammelt auch Zeichnungen (Karikaturen) und Fotografien der berühmten Architekturschätze der Stadt.
Deutschland | Hamburg: Bucerius Kunstforum
1.10.2016 - 15.1.2017
Die außergewöhnliche Lage der „Serenissima Repubblica di San Marco [Die Durchlauchtigste Republik des hl. Marco]“ im Meer, ihre ökonomische Macht im Mittelalter, die sich in den herrschaftlichen Palästen am Canal Grande ausdrückt, ihre republikanische Stadtverfassung2, ihr Karneval und ihre Theater begeisterten Reisende zunehmend, bis sie schließlich im 19. Jahrhundert Rom den Rang als schönste Stadt Italiens ablief. Im Kontrast zur „Ewigen Stadt“ mit ihren klassischen Ruinen entzündete Venedig die Fantasie von Romantikern und Impressionisten. Venedig, die von Untergang bedrohte Stadt der Farbe und des Lichts, und die venezianische Malerei, in der die Farbe über die Linie gestellt wurde, verkörpern idealtypisch das Kunstwollen Turners und Monets.
Der Jacopo de’ Barbari zugeschriebene, monumentale „Plan von Venedig“ besteht aus sechs Einzelblättern und zeigt die Anlage der Serenissima von 1500. Obwohl es dem Entwerfer dieser Vogelschau unmöglich war, den Blickpunkt der Betrachterinnen und Betrachter in ca. 500 Metern über dem Erdboden einzunehmen, kompilierte de‘ Barbari eine höchst präzise Beschreibung des Grundrisses und der Fassaden. In diesen Jahren entstanden bereits Ansichten der Stadt, da sie als Kulisse von Prozessionen, politischen Veranstaltungen und Wundern immer wieder im Hintergrund mitgeschildert wurde. Das in Hamburg ausgestellte, Vittore Carpaccio zugeschriebene Porträt, zeigt den wenig geschätzten Staatsdiener Lorenzo Loredan in goldener Robe, camauro (weiße Haube) und corno ducale (hornartige Kopfbedeckung), deren plastische Widergabe von Goldbrokat und Gesichtszügen ihn wie eine Ikone erscheinen lässt.3 Hinter dem Dogen öffnet sich ein Fenster auf die Lagune mit Blick auf die Klosterinsel San Giorgio Maggiore.
Der wirtschaftliche Abstieg Venedigs im 18. Jahrhundert ging mit einer reichen Produktion venezianischer Veduten einher. Besonders englische Reisende genossen auf ihrer Grand Tour die pittoreske Anmutung und die Vergnügungen Venedigs und nahmen Stadtansichten als Souvenirs mit nach Hause. Joseph Heintz d. J. (Augsburg 1600–1678) kam 1625 zum ersten Mal nach Venedig und ließ sich wenig später in der Lagunenstadt nieder. Ohne auf eine Camera obscura zurückzugreifen, widmete er sich den kuriosen und manchmal skurrilen Ereignissen ihrer Bewohner. In der Hamburger Ausstellung sind zwei seiner Gemälde zu sehen, in denen die Stadt nur die beschauliche und naiv gestaltete Bühne für das Treiben ihrer Bevölkerung abgibt – vom Kampf verfeindeter Stadtteile („Wettstreit auf der Ponte dei Pugni in Venedig“) bis zur „Stierhatz auf dem Campo San Polo“. Massen von beweglichen, kleinen Figuren erlauben einen augenzwinkernden Einblick in das barocke Lebensgefühl. Sein „Wettstreit auf der Ponte dei Pugni in Venedig“ (1673, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) wirkt wie ein hypertropher Bericht einer Volksbelustigung, die mit einem Hauch von Ulk festzuhalten verstand.
Die venezianische Vedute nahm mit einem Niederländer ihren Anfang: der aus Utrecht stammende Maler Gaspar van Wittel (auch: Gaspare Vanvitelli, 1653–1736) erfand Venedig als eigenständiges Bildsujet. Ab dem Frühjahr 1695 lebte er in der Lagunenstadt und schuf vor allem für englische Adelige wie dem Earl of Leicester und dem Earl of Burlington auf der Grand Tour Ansichten der Stadt. „Mole, Piazzetta und Dogenpalast“ ist der Prototyp für das Stadtbild (imago urbis) mit analytischer Qualität.
Der Friulaner Luca Carlevarijs (1663–1730) konzentrierte sich auf die berühmten Plätze Venedigs, die er mit Realismus festhielt und so kanonische Ansichten prägte. Diese Fähigkeit empfahl ihn als Chronisten der Stadt. So widmete er sich in seinem Werk ausschließlich der Piazza San Marco [Markusplatz], der Piazzetta, der Hafenmole mit Blick in Richtung Canal Grande oder in Richtung Riva degli Schiavoni. „Venedig: Der Markusplatz“ (Ende 1710er Jahre, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam) und vor allem das Großformat „Der offizielle Einzug von Henri-Charles Arnauld de Pomponne“4 und den hier stattfindenden Ereignissen. Carlevarijs Gemälde dokumentieren Stadt und Protokoll gleichermaßen. Ihm folgte der äußerst produktive, aber mit 33 Jahren jung verstorbene Michele Marieschi (1710–1744). Wie Canaletto hatte Marieschi eine Lehre als Bühnenbildner abgeschlossen, bevor er sich der Vedutenmalerei zuwandte.
Der Hauptmeister der Vedutenmalerei in Venedig ist zweifellos Canaletto (Giovanni Antonio Canal) (1697–1768). Gemeinsam mit seiner Werkstatt etablierte er ab 1721 das Genre der Vedute als venezianische Leitgattung. Canalettos Zeichnungen bestechen durch ihre akribische, detailreiche Ausführung und Perfektion in der Raumwiedergabe. Hierin lässt sich seine Herkunft als Bühnenbildner noch nachvollziehen. Gleichzeitig erschien der mit Lineal und Zirkel arbeitende Künstler den Kunstwissenschaftler des 19. Jahrhunderts mehr wie ein Topograf denn ein Maler. Die Präzision in der Wiedergabe der Gebäude darf jedoch nicht mit einem fotografischen Blick verwechselt werden, beobachteten doch die Zeitgenossen Canalettos dessen Freiheit in der Wiedergabe der Paläste. Wirklichkeitsnähe musste sich der Bildhaftigkeit der Komposition unterordnen. Zu den häufig anzutreffenden Veränderungen zählen beispielsweise die Verbreiterung der Wasseroberflächen, wie in „Das Markusbecken, Blick nach Norden“ (um 1730, Amgueddfa Cymru – National Museum of Wales, Cardiff) oder „Ansicht des Markusbeckens in Venedig“ (1735, Städel Museum) zu beobachten ist. Der Ruhm des Künstlers erreichte bald (und mit Unterstützung seines Förderers und Agenten Joseph Smith, der Stiche von Antonio Visentini anfertigen ließ) England. Gemälde wie „Markusplatz mit Dogenpalast“ (1740–1750, Arp Museum Bahnhof Rolandseck / Sammlung Rau für UNICEF, Remagen) oder Zeichnungen wie die „Ansicht des Canal Grande und der Rialtobrücke, Venedig“ (1738–1740, Rijksmuseum, Amsterdam) bezeugen die viel diskutierte Detailverliebtheit ihres Schöpfers.
Sein Neffe und Schüler Bernardo Bellotto (1722–1780) ging in seinem umfangreichen Werk zwar über die venezianische Vedute hinaus, indem er sich auch die Landschaft erschloss, ist in der Hamburger Ausstellung jedoch in venezianischen Ansichten vertreten. Bald nach Abschluss seiner Ausbildung entwickelte er 1739/40 eine eigene Formensprache, indem er Elemente der Kompositionsweise seines Onkels übernahm (z. B. die perspektivische Überzeichnung), jedoch kontrastreicheres, härteres Licht verwendete. Dadurch wirken seine Ansichten, wie man in Hamburg an „Campo Santo Stefano“ und „Ansicht des Rio dei Mendicanti und der Scuola di San Marco“ (um 1741, Gallerie dell’Accademia, Venedig) überprüfen kann, plastischer als die Canalettos. Bellotto verließ Venedig und trug die Kunst der nüchternen Beschreibung des Alltäglichen von Dresden (ab 1746), Prina über Wien und München bis nach Warschau (→ Rembrandt – Tizian – Bellotto).
Mit Francesco Guardi (1712–1793) fand die repräsentative Vedute ihren Ausklang. Die melancholische Note seiner Malerei deutet bereits Reaktionen auf den Niedergang der barocken Gesellschaftsordnung und der republikanischen Verfassung an. Diese finden sich auch in den Beobachtungen des zeitgenössischen Alltags und der Vergnügungskultur bei Pietro Longhi und Gabriel Bella. Kuratorin Inés Richter-Musso streicht den Unterschied zwischen Canaletto und Guardi sinnträchtig hervor, indem sie im ersten Stock des Bucerius Kunstforums Zeichnungen der beiden nebeneinander hängt. Canaletto lässt sich angesichts der aufgelockerten, von Lasierung und Atmosphäre bestimmten Blätter Guardis als ein detailversessener Meister der Perspektive beschreiben. Ansichten des Canal Grande, des Markusplatzes, der Basilika und des Dogenpalastes mit den ankernden Schiffen dokumentierten und glorifizierten die bauliche Pracht – zeigen aber auch Glanz und Elend ihrer Bevölkerung. Regatten, Volksfeste, Karneval, religiöse Feste, wenn auch klein in den Veduten eingefügt, so zeigen sie doch das Leben in der Stadt. „Regatta auf dem Kanal der Giudecca“ (1784/1789, Alte Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München) ist bereits deutlich atmosphärischer gestaltet als die Vorbilder Canalettos. Das Blau der Wasserstraße und das Blau des Himmels gehen ineinander über. Zunehmend wandte sich Guardi ab den späten 1740er Jahren auch wenig bekannten Teilen von Stadt und Lagune zu. Seine Käufer schätzten die Bravur von Guardis Malerei. Die Ästhetisierung der Lichtstimmung, wie sie von Turner und Monet zu einem Höhepunkt geführt werden würde, nahm im Werk Francesco Guardis ihren Anfang.
Theater und Karneval – mit einer Dauer von sechs Monaten – wurden gepflegt und zum Symbol auserkoren für eine venezianische Gesellschaft, die sich ihrer gesellschaftlichen Freiheit wohl bewusst war.5 Sänger wie Farinelli feierten internationale Erfolge und wurden in Karikaturen dennoch dem Gespött der Bevölkerung ausgesetzt. Die Festkultur der Lagunenstadt beförderte aber auch den beginnenden Massentourismus und überdeckte den politischen und wirtschaftlichen Verfall. Das Leben eine Bühne – und Venedig das perfekte Bühnenbild!
Die Malerei Venedigs während des 18. Jahrhunderts wird aus heutiger Perspektive zwar von der Vedutenmalerei dominiert, dennoch darf nicht vergessen werden, dass auch maßgebliche Leistungen auf dem Gebiet der Historienmalerei erbracht wurden. Der international bekannteste Maler ist zweifellos Giovanni Battista Tiepolo (Giambattista, 1696–1770), der mit seinem Sohn Giovanni Domenico Tiepolo (Giandomenico, 1727–1804) Höfe und Residenzen in Venedig, Bergamo, Mailand, Würzburg (1750–1753) und Madrid (1762–1770) mit Fresken ausstattete. In der Hamburger Ausstellung ist Giandomenico Tiepolo mit einigen karikierenden Zeichnungen und der „Karnevalsszene. Pucinellas Triumph“ (1760–1770, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen) zu sehen. Die Porträtistin Rosalba Carriera (1675–1757) wurde mit Pastellzeichnungen europaweit berühmt, wird als Porträtistin im Bucerius Kunstforum jedoch nicht gezeigt.
Innerhalb der venezianischen Malerei wird Pietro Longhi (1701–1785) – gemeinsam mit Canaletto – als Künstler der Aufklärung geführt. Der unter dem Namen Pietro Falca getaufte Künstler war um fünf Jahre jünger als Giovanni Battista Tiepolo und vier Jahre als Canaletto. Nach seiner Ausbildung bei Antonio Balestra und in Bologna (bei Giuseppe Maria Crespi?) widmete er sich erst ab seinem dreißigsten Geburtstag als genauer und privilegierter Beobachter der venezianischen Gesellschaft und ihren Sitten. In realistischen6, wenn auch kleinformatigen Genrebildern hielt er häusliche Szenen der venezianischen Gesellschaft fest: „Unterhaltung zwischen Maskierten“ (1750–1760, Ca’ Rezzonico, Venedig). Diese Bilder gelten als ein enthüllender Abgesang an die spätbarocken Verhaltensweisen, Sitten, Gebräuche und Volksfrömmigkeit Mitte des 18. Jahrhunderts, denen Longhi mit psychologischem Scharfsinn begegnete. Ihr subversiver Gehalt scheint sich u. a. in der „einfachen“ Malweise zu zeigen, wie auch seinen zwischen nüchterner Beobachtung und satirischem Zugang. Der Künstler gehörte dem heftig angefeindeten, radikalen Kreis um den venezianischen Intellektuellen Padre Carlo Lodoli an und war mit dem Komödiendichter und Librettisten Carlo Goldoni (1707–1793) befreundet. Der Padre forderte Realismus in der Kunst und vertrat damit eine Giambattista Tiepolos entgegengesetzte „aufklärerische“ Malerei. Dessen Sohn, Giandomenico Tiepolo, zeigt sich in seinen Karikaturen und Genrebildern hingegen aufgeschlossen gegenüber dieser Realitätsbeschreibung.
„Ich werde mich bemühen, die Linien dieses Bildes zu zeichnen, bevor es für immer verloren geht, und, soweit es mir möglich ist, die Warnung zu erfassen, die mir jede einzelne dieser siegreichen Wellen auszusprechen scheint, die unerbittlich, wie die Schläge einer Totenglocke gegen die Steine von Venedig schlagen.“7 (John Ruskin)
Venedig galt im 19. Jahrhundert als Sehnsuchtsort englischer Maler. Die Herrschaft von Napoleon, die 12. Mai 1797 mit der Auflösung des Großen Rates der Adelsrepublik durch den Dogen Lodovico Manin angesichts des Vormarsches der französischen Truppen begann, war zwar 1815 beendet – aber die Stadt am Boden. Im Wiener Kongress wurde Venedig dem Habsburgerreich zugeschlagen und erst 1866 mit Italien vereint. Hatte sich zuvor Napoleon in die Struktur der Stadt eingeschrieben, so taten die Habsburger genau das Gegenteil, nämlich gar nichts. Waren Venedig-Enthusiasten im 18. Jahrhundert noch von den Stadtansichten Canalettos, Bellottos und Guardis mit ihren mehr oder weniger realistischen Darstellungen berühmter und weniger bekannter Plätze und Straßen der Lagune begeistert, so trugen Maler wie James Mallord William Turner, Richard Parkes Bonington, James McNeill Whistler und Claude Monet diese Faszination an der „Stadt aus Licht“ in das 19. und 20. Jahrhundert weiter.
„Karnevalsabend auf dem Markusplatz in Venedig“ (1860, Fondazione Musei Civici di Venezia, Galleria Internazionale d’Arte Moderna di Ca’ Pesaro, Venedig) von Ippolito Caffi (1809–1866) zeigt, wie lange sich die Tradition der Vedute im Stil Canalettos in der venezianischen Malerei hielt. Caffi gilt heute als der Dokumentarist der Festkultur des 19. Jahrhunderts, wobei besonders Feuerwerke und Lichtspektakel seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der nahezu gleichzeitig entstandene „Ausgang des Dogenpalasts unter der Seufzerbrücke“ (um 1870, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) von Félix Ziem (1821–1911) lässt mit einer aufgelösten Malweise Caffi als Anhänger der romantischen Malerei im Stile des im Bucerius Kunstforum gut vertretene deutsche Romantiker Friedrich Nerly (1807–1878), der ab 1835 in Venedig wohnte, erscheinen. Die Begeisterung des Publikums lässt sich u. a. daran ermessen, dass Nerly seine dramatisch beleuchtete „Piazetta bei Mondschein“ (1842, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln) insgesamt 36 Mal wiederholte!
Das verfallende Venedig gab Künstlern wie John Ruskin (1819–1900) neue Sujets, die er in Fotografien und Druckgrafiken festhielt und damit dem Beispiel der italienischen Fotografen Carlo Naya und Domenico Bresolin folgte. Der 1835 erstmals nach Venedig Reisende erklärte sich sogar zum Adoptivsohn der Stadt. Vor allem sein Buch „The Stones of Venice [Die Steine Venedigs]“ (1851–1858, zweite Edition 1879) begeisterte Touristen und Künstler für die folgenden 50 Jahre und wurde auch noch Inspirationsquelle für Paul Signac. Ziel der dokumentarischen Aufnahmen war aber nicht nur ein Fixieren des Zustandes der architektonischen Schätze der Stadt, sondern deren Erhaltung. Künstler der Romantik, des Symbolismus und des Impressionismus fanden unzählige Anregungen in der Lagunenstadt, deren Mythos sich gegen Ende des Jahrhunderts immer mehr mit Untergang und Tod verband. Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911 verfasst, 1912 publiziert) markiert nach Inés Richter-Musso End- und Höhepunkt der Begeisterung der Décadence für die Stadt im Wasser.
„Zu den Farben des Himmels von Venedig, der Mosaiken von Sankt Markus gesellen sich neue Farben, noch glänzender diese, weil es diejenigen einer wunderbaren Einbildungskraft sind, die Farben Ruskins, welche dessen Prosa durch die Welt trägt, wie ein verzaubertes Schiff.“8 So resümierte Marcel Proust seine Faszination für John Ruskins „Steine von Venedig“.
Zum Ende des Jahrhunderts suchten Amerikaner wie John Singer Sargent und James McNeill Whistler ihre Motive weit ab von der Piazza San Marco und machten einsame Gassen und schmale Seitenkanäle bildwürdig. Whistler, der mit seiner Serie von Venedig-Ansichten in Radierungen das Bild der verfallenden Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts berühmt machte, ist mit nur zwei Drucken vertreten. Sargent kam 1880 nicht zum ersten Mal nach Venedig und kehrte 1882 wieder. Seine in Hamburg ausgestellte „Venezianische Zwiebelverkäuferin“ (um 1880–1882, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid) zeigt das Mädchen als Halbfigur und die Bravour der Malerei gleichermaßen. Doch meist sind Sargents realistisch gemalte Bilder aus der Stadt deutlich von Verfall und moralischer Verderbtheit durchzogen. Eine andere Kategorie stellen die Einblicke in die angloamerikanischen Salons in der Stadt dar, die Ziel vieler Bohemiens aus ganz Europa wurden.
Die Kombination von Schönheit und Dekadenz, die sich im 18. Jahrhundert bereits angekündigt hatte, zog Künstler an. Zu den ersten Malern, die im 19. Jahrhundert nach Venedig kamen, gehörte William Turner (1775–1851). Er kam im August 1819 erstmals in die Stadt und füllte zahlreiche Skizzenbücher (160 Zeichnungen und vier Aquarelle), bevor er weiter nach Rom fuhr. Im Anschluss begann er zwar ein riesiges Ölgemälde, kam jedoch nie über das erste Entwurfsstadium hinaus. Erst während seiner späteren Italien-Besuche 1833 und 1840 konzentrierte er sich gänzlich auf Venedig. Vor allem während seines längsten Aufenthalts vom 20. August bis zum 3. September 1840 entstand eine Serie von Aquarellen, die ihresgleichen sucht. Ab 1833 beschickte er die Akademie häufig mit Gemälden, die Venedig als Bildmotiv hatten. Turners Malerei löste die traditionelle Vedute eines Canaletto in einem von Licht, Luft und Wasser abhängigen Wahrnehmungserlebnis auf. Turners Venedig-Bilder der 1830er (ab 1833) schildern noch das geschäftige Treiben in Stadt und Hafen. Die späteren Kompositionen sind der weiten Wasserfläche gewidmet. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens verherrlichte der englische Maler in seinen Landschaftsvisionen Licht und Luft – und wenige Orte scheinen so für diese Art der Auflösung, für seine spektakulären Licht- und Witterungseffekte geeignet zu sein wie Venedig. Mit subtilen Farb- und Tonvariationen fing Turner die weite Wasserfläche ein, löste die Architektur in Nebelschleiern auf, brachte die Assoziation von Vergänglichkeit und Verfall in die Bilder.
Mit „Venedig, die Seufzerbrücke“ (1840 ausgestellt, Tate, London) und „Venedig: Santa Maria della Salute“ (1844 ausgestellt, Tate, London) wartet die Ausstellung „Venedig. Bild einer Stadt“ mit zwei kapitalen Venedig-Ansichten von Turner auf. Dennoch sollte man nicht die zarten Arbeiten auf Papier übersehen, die der englische Maler mit Kreide, Gouache und Aquarell skizzierte und die ihm im Atelier als Ausgangspunkt für seine großformatigen Bilder dienten!
Claude Monet (1840–1926) folgte den Spuren James M. William Turners, Edouard Manets (→ Edouard Manet und Venedig), Pierre-Auguste Renoirs, Eugène Boudins (1824–1898) und Félix Ziems (1821–1911), als er sich von Oktober bis Anfang Dezember 1908 für seinen letzten Auslandsaufenthalt für Venedig entschied. Es war von Charles Hunter, einem englischen Freund, und dessen Frau nach Venedig eingeladen worden. Das Paar wohnte im Palazzo Barbaro, der einem Verwandten von John Singer Sargent gehörte. Die ersten beiden Wochen ihres Aufenthalts wohnten Claude und Alice Monet im Palazzo Barbaro und zogen dann in das Hotel Britannia um. Hier hatte Claude Monet einen offenen Blick über den Canal Grande hinweg bis zur Santa Salute Kirche und der Dogana vor sich.
„Ohne Zweifel kam ich dank Ihnen hierher. Es war ein Fest für den Künstler, eine große Freude für mich.“9 (Claude Monet in einem Brief an Mrs. Sargent Curtis, 7.21.1908)
1908/09 entstand eine Serie von 37 Venedig-Bildern, in denen der französische Maler Palazzi am Canal Grande, Blicke über die Wasseroberfläche auf barocke Kirchen etc. festhielt. Noch 1901 hatte sich Monet überzeugt gezeigt, dass keine Stadt sich so sehr für seine Malerei eigenen würde wie London und die Themse. Erst im Jahr 1908 entdeckte der 68-jährige Maler die Lagunenstadt und war begeistert, wie er an Georges Clemenceau und George Bernheim-Jeune schrieb. Bereits während seines London-Aufenthalts während des Deutsch-französischen Kriegs 1871 hatte er die Gemälde von William Turner kennengelernt. Vielleicht haben ihn aber wirklich die spontanen und vor den Motiven entstandenen Aquarelle des englischen Malers mehr beeindruckt als dessen Gemälde.
Wie in vielen impressionistischen Gemälden von der Seine und ab 1890 in den Gartenbildern aus Giverny nutzte Monet auch in Venedig ein Boot als Atelier (→ Der moderne Garten in der Malerei von Monet bis Matisse). Quasi aus Froschperspektive taucht daher so mancher Palazzo frontal aus dem Meerwasser auf, oder er konstruierte sie mit einem hohen Horizont, weiten Wasserflächen und farbigen Nebeln darüber. Nur selten in seinem Werk näherte sich der Maler Architektur so vorbehaltlos wie in Venedig (vergleichbar sind nur die Kathedrale von Rouen, das Parlament in London). Hier widmete er sich den Palazzi Dario, Contarini und Mula, dem Palazzo Ducale, San Giorgio Maggiore. Monet selbst bezeichnete seine Venedig-Bilder als „Studien“ und „Anfänge“, die er in seinem Atelier in Giverny vollendete. Als Alice am 10. Oktober 1911 starb, war es für Monet unmöglich nach Venedig zurückzukehren. Zwischen 28. Mai und 15. Juni 1912 präsentierte er 29 Gemälde in der Galerie Bernheim-Jeune, wo sie Künstlerkollegen wie Paul Signac und Marcel Proust beeindruckten.
Den chronologischen Abschluss der Ausstellung „Venedig. Bilder einer Stadt“ im Bucerius Kunstforum bildet eine kleine Sektion zeitgenössischer Kunst aus Deutschland. Bereits 1904 hatte Wassily Kandinsky sich in Venedig aufgehalten und das Bildpaar „Erinnerung an Venedig 3“ und „Erinnerung an Venedig 4“ (beide Centre Pompidou, Paris) geschaffen. Zwischen Turner, Henri Le Sidaners „Die Seufzerbrücke (Le Pont des Soupirs)“ (1906, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) und zwei Venedig-Ansichten von Claude Monet „vermittelt“ Martin Kippenbergers „Sozialkistentransporter“ (1989, Deichtorhallen / Sammlung Falckenberg). Die Gondel ist aus Stückwerk zusammengezimmert, Pasta und Soziales werden in Kisten transportiert. Dem romantischen Bild von Venedig setzt das Enfant Terrible aus Deutschland einen Hinweis auf Lebensverhältnisse hinter den Fassaden entgegen (→ Martin Kippenberger: XYZ).
Gerhard Richter (geb. 1932) vereinte in „Venedig“ (1986, Museum Frieder Burda, Baden-Baden) das romantische Landschaftsmotiv mit seiner farbigen Abstraktion. Indem er über das von einer Fotovorlage aus dem Jahr 1983 präzise abgemalte Venedig-Bild setzte Richter dynamische Strichlagen und dekonstruierte damit seine eigene Malweise. Die Fotografen Thomas Struth (geb. 1954) und Candida Höfer (geb. 1944, Candida Höfer. Düsseldorf) gehören (bzw. gehörten) der so genannten Düsseldorfer Photoschule an und zeigen in ihren großformatigen Aufnahmen die Reaktionen der Touristen in „San Zaccaria, Venedig“ (1995) bzw. die Fotografin architektonische Meisterwerke wie die „Biblioteca Nazionale Marciana Venezia IV“ (2003) und das „Teatro La Fenice di Venezia II“ (2011).
1895 mit der „Esposizione internazionale d’arte della Città di Venezia“ die erste Weltausstellung der Kunst veranstaltet wurde. Die Megaausstellung im Zweijahresrhythmus war es auch, die nach dem Zweiten Weltkrieg Peggy Guggenheim dazu animierte, ihren Lebensmittelpunkt nach Venedig zu verlegen und erneut die nationale und internationale Kunstwelt mit der „Serenissima“ zu verbinden. Ihr seit 1951 für das Publikum geöffneter Palazzo Venier ist auch heute noch eine der wichtigsten Attraktionen Venedigs.
Franz Wilhelm Kaiser und Kathrin Baumstark (Hg.)
Mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, Tiziana Bottecchia, Barbara Dayer Gallati, Laura De Rossi, Daria Dittmeyer-Hössl, Martin Gaier, Inés Richter-Musso
192 Seiten, 220 Abbildungen in Farbe
22,5 × 28 cm, gebunden, Halbleinen
ISBN 978-3-7774-2607-5
Hirmer Verlag
Franz Wilhelm Kaiser und Kathrin Baumstark (Hg.), Venedig. Stadt der Künstler (Ausst.-Kat. Bucerius Kunstforum, Hamburg), München 2016.
Dietmar Elger, Gerhard Richter, Maler, Köln 2008.
Katharine Lochnan (Hg.), Turner – Whistler – Monet (Ausst.-Kat. Art Gallery of Ontario, Toronto; Galeries nationales du Grand Palais, Paris; Tate Britain, London), London 2004.
Giovannna Sciré Nepi, Augusto Gentili, Giandomenico Romanelli, Philip Rylands, Malerei in Venedig, München 2003.
Georg-W. Költzsch (Hg.), William Turner. Licht und Farbe (Ausst.-Kat. Museum Folkwang, Essen; Kunsthaus Zürich, Zürich), Köln 2001.