London, 19. Juli 1938 – Salvador Dalí traf den aus Wien geflohenen Sigmund Freud. Die erste und einzige persönliche Begegnung des Künstlers mit seinem Idol kam auf Vermittlung von Stefan Zweig und Edward James zustande. In einer außergewöhnlichen Schau widmet sich das Belvedere in der Orangerie der folgenreichen Lektüre Dalís und zeigt den Einfluss des Psychoanalytikers auf desssen Werk. Der in feuriges Rot getauchte Ausstellungsraum spürt den Obsessionen des Malers gekonnt nach. Schwarze Vitrinen, die formal an Werke von Alexander Calder oder Friedrich Kiesler erinnen, inszenieren Ölgemälde und Zeichnungen, während die Textebene sich an den Wänden des langen, schmalen Raumes entwickelt.
Österreich | Wien: Belvedere, Orangerie
23.10.2020 - 7.3.2021
1.2. - 29.5.2022
Drei selten ausgestellte Hauptwerke Dalís stechen in der Präsentation deutlich heraus. Zeichnungen von Santiago Ramón y Cajal, dem 1906 der Nobelpreis für seine Forschungen an der Feinstruktur des Nervengewebes verliehen worden war, und eine charakteristische Landschaft von Yves Tanguy übten - neben Freuds Schrifttum - wichtige Einflüsse auf den sich formierenden Dalí aus (→ Salvador Dalí: Biografie).
Salvador Dalí gilt mit Fug und Recht als einer der wichtigsten Vertreter des Surrealismus, verarbeitete er doch in seinen Werken Unterbewusstes und Traumzustände. Dass sich der Spanier diesen Weg hart erarbeitete, wird angesichts der ausgestellten Frühwerke rasch klar. Der 1904 als Sohn eines liberalen und kunstsinnigen Notars geborene Dalí war ein Wunderkind. Bereits als Jugendlicher lernte er den Umgang mit Ölfarben, in den folgenden Jahren experimentierte er mit den wichtigsten Stilrichtungen der Moderne: Impressionismus, Pointillismus (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus) und Kubismus. Als Dalí im September 1922 an der Kunstakademie San Fernando in Madrid aufgenommen wurde, hatte er bereits mehr als zehn Jahre Erfahrung als Maler, erste Ausstellungen beschickt, Werke verkauft und ein großes Selbstbewusstsein entwickelt gehabt. Zweifellos war das Studentenwohnheim Residencia de Estudiantes, wo Dalí wohnte, wichtiger für seine künstlerische Entwicklung als der Besuch der Akademie: Dort freundete er sich mit dem Dichter Federico García Lorca und dem Regisseur Luis Buñuel an und entdeckte 1925 die Schriften von Sigmund Freud. Erste Zeichnungen aus diesem Jahr belegen, dass er sich - ebenso wie Lorca - für die histologischen Zeichnungen von Santiago Ramón y Cajal begeisterte und sich verstärkt dem Einfluss der Surrealisten öffnete. Das mit 190 × 200 cm größte Werk der Ausstellung, „Komposition mit drei Figuren“ oder „Neokubistische Akademie“ (Museu de Montserrat, Barcelona) von 1926 zeigt die Leichtigkeit, mit der sich Dalí über den Kubismus hinwegsetzte und dem Werk Pablo Picassos der 1920er Jahre näherte. Der Matrose, der an den Apoll von Belvedere gemahnt, am Scheideweg zwischen zwei leichtbekleideten Frauen - oder doch in direkter, vertikaler Verbindung zum offen homosexuellen Dichter García Lorca? Dieses Werk ist beredtes Zeugnis sowohl für Dalís Suche einer sexuellen Identität als auch für seinen Ausdruckswillen, der mehr als eine Stilübung sein will. Eine Reise nach Paris (11.4.–14.6.1926) überzeugten den Kunststudenten endgültig, dass er in Madrid nichts mehr lernen konnte. Dalí verweigerte eine Prüfung und sprach den Prüfern das Recht ab, sein Werk zu beurteilen, woraufhin er vom Studium ausgeschlossen wurde.
Der Unterschied zu „Le jeu lugubre [Das düstere Spiel]“ von 1929 zur „Komposition mit drei Figuren“ könnte nicht größer sein. Nur drei Jahre liegen zwischen diesen beiden Gemälden. Jaime Brihuega, Kurator der Ausstellung, betont die Auseinandersetzung des jungen Dalí mit den histologischen Zeichnungen Santiago Ramón y Cajals sowie mit den geheimnisvoll unbestimmten Landschaften Yves Tanguys.
„Der Schlaf setzt in uns eine Aktivität frei, die sich über die Grenzen von Zeit und Raum, aber auch der Logik hinwegsetzt. Und falls wir Freuds berühmte Theorien ernst nehmen sollten, so würde der Traum außerdem das höchste Glück bescheren, das darin bestünde, die liebsten und angenehmsten Wünsche wahr werden zu lassen.“1
Inspiriert durch die Arbeiten von Ramón y Cajal sowie Freud begann Dalí sich gemeinsam mit Lorca dem Seelenleben zu öffnen. Dabei bediente sich der Maler gleichsam einer Zangenbewegung, wenn er die Bedingungen der Reizweiterleitung studierte und den Folgen des Erlebten in den Schriften Sigmund Freuds nachspürte. Sein eigenes Familienleben könnte Dalí dazu angeregt haben, hatte er doch einen namensgleichen älteren Bruder, eine cholerischen Vater, der heimlich die Tante heiratete, nachdem Dalís Mutter 1921 verorben war. Die sexuell aufgeladene Beziehung zu Lorca und die vielleicht libidinöse zu seiner jüngeren Schwester Ana María (1908–1989) führten zu weiteren Fragestellungen, die Dalí in den Büchern von Freud beantwortet fand.
„Das düstere Spiel“ darf als Schlüsselwerk angesprochen werden! 1929 hatte Dalí mit Hilfe von Joan Miró Kontakt zu den Surrealiysten aufgenommen und mit Luis Buñuel das Drehbuch für den Film „Un Chien andalou [Der andalusische Hund]“ gedreht. Im August 1929 verliebte er sich in Gala, die für ihn ihren Mann verließ. All das ließ Dalí in „Das düstere Spiel“ einfließen: Auf technischer Ebene ergänzte edr die Malerei mit ausgeschnittenen Bildern (kubistische Technik). Auf inhaltlicher Ebene zeigt er sich selbst mit geöffnetem Nacken, aus dem seine Gedanken, (sexuellen) Obsessionen strömen. Zwei Männer im Vordergrund aber auch die Statue im Hintergrund nutzen homoerotische Symbole, während im Zentrum der Gedankenwelt nun ein weiblicher Po samt ausgestrecktem Finger und Hostie platziert werden. Dalí hatte sich zum Bürgerschreck entwickelt, zum Surrealisten ersten Ranges, indem er unbewusste Begierden zum Thema seiner Bildwelt machte. In den folgenden Jahren nutzte er die Figur der Gradiva oder auch der Sphinx, um die (unheilvolle) Verbindung von Mann und Frau aufzuzeigen.
Salvador Dalí hatte ab den frühen 1920er Jahren Zugang zu Übersetzungen der Schriften Sigmunds Freuds und studierte sie ausführlich. Beeinflusst von diesen Texten setzte er sich ab 1926 mit der Poetik des Surrealismus auseinander und entwickelte eine neue Bildsprache, die sein Werk bis heute einzigartig macht. Persönlich traf er den Wiener Psychoanalytiker allerdings nur ein einziges Mal, 1938 in London.
In Anlehnung an Freuds epochale Erkenntnisse, begann Salvador Dalí 1930/31 mit einer eigenen Methode der Bildgestaltung zu experimentieren, die er „paranoisch-kritische“ Methode nannte und in seinem Aufsatz „L’Âne pourri [Der Eselskadaver]“ vordtellte. Darin erklärte Dalí, wie er mit Bilfe von Doppelbildern Kompositionen aufbaute, um den Surrealismus mit dem positiv besetzten Wahnsinn in einen produktiven Zusammenhang zu bringen. Und damit wäre auch schon der wichtigste Unterschied zu Sigmund Freuds Beschäftigung mit dem Seelenleben beschrieben: Der Wiener Arzt wollte seinen Patient:innen helfen, ihre Leiden lindern, während der Surrealist in diesem Zustand eine anti-bürgerliche, anti-kapitalistische, künstlerische Haltung sah. Auch die Überzeugung, dass mit Hilfe surrealistischer Methoden das Unbewusste gleichsam angezapft werden könnte, widersprach der Psychoanalyse grundlegend.
Dalís „paranoisch-kritische“ Methode erschließt sich in einer Vorstudie zu „Der unsichtbare Mann“ (um 1930) aus dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid. Die „Unsichtbarkeit“ resultiert aus der geschickten Kombination unterschiedlicher Elemente, darunter ein Kerzenhalter, eine Säule, ein weiblicher Rückenakt, deren Formen den Umriss des Mannes bilden bzw. diesen beschreiben. Die Betrachter:innen sind angehalten diese Werke länger zu studieren, um überhaupt das sprachlich markierte Thema des Bildes aufzufinden. Wer sich dabei fern an Werke des Manieristen Arcimboldo erinnert fühlt, liegt nicht unrichtig - auch wenn dessen spielerische Köpfe bar jeder psychanalytischen Note sind. Der Umzug nach Paris und Dalís Anschluss an die Künstler:innen des Surrealismus führte aber auch zu einer inhaltlichen Neuausrichtung seiner Kunst:
„Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei alles rund um das thema sexuelle Begierde und ihre unterschiedlichen Ausprägungen wie Obsession, Perversität, onanistische Praktiken, moralische Bedenken sowie quälende Frustrationen ein. Gala wurde zum epizentrum seines persönlichen Universums“2, wie Stephanie Auer in ihrer Analyse zusammenfasst.
Höhepunkt der Ausstellung ist das Ölgemälde „Cisnes reflejando elefantes [Schwäne spiegeln Elefanten wider]“ von 1937 aus der Esther Grether Family Collection. Die Spiegelungen der Schwäne und der Totbäume auf einer kleinen Insel vereinigen sich zu höchst realistischen Abbildungen von Elefanten. Eine eigentümliche Konstallation links erinnert an Hieronymus Bosch, ein hyperralistisch wiedergegebener Mann am linken Bildrand wendet sich ab, auf der gegenüberliegenden Seite brennt es, am blitzblauen Himmel - eine Reminiszenz an Andrea Mantegna - schweben sonderbar geformte Wolken. Das eigentümliche Bildsujet bliebt in seiner Ambivalenz verhaftet, lässt sich nicht schlüssig auflösen. Deutlich wird aber die präzise Maltechnik und die qualitativ hochstehenderen Farben, zu denen Gala Dalí ihren Mann anregte.
Dass der spanische Maler seinem Idol Sigmund Freud unbedingt diese neue Methode vorstellen wollte und sich dem Wissenschaftler ebenbürtig fühlte, erstaunt nicht. Ein erster Versuch, im Frühjahr 1937 Freud in Wien aufzusuchen, scheiterte. Stattdessen entdeckte Dalí Jan Vermeers „Die Malkunst“, die ihn nachhaltig beeindruckte. Im selben Jahr malte er „Metamorphose des Narziss“ (1937), das die Tate Gallery leider nicht zur Wiener Ausstellung schickte. Stattdessen prangt eine wandgroße Reproduktion des Werks am Ende der Schau, hatte Dalí doch dieses Gemälde zu Freud mitgenommen, als er den verehrten Psychoanalytiker 1938 in London endlich treffen konnte. Dalís Mäzen Edward James und Stefan zweig hatten das Treffen eingefädelt. James war der Besitzer des Gemäldes und Ko-Autor einiger surrealistischer Objekte, darunter des berühmten Hummertelefons (→ Surreale Begegnungen: Dalí, Ernst, Miró, Magritte…). Als das Trio Freud vorsprach, war die Situation allerdings wenig günstig. Freud hatte sich bereits eine Meinung zum Surrealismus gebildet gehabt. Der gerade im Londoner Exil Angekommene war krank, taub und sprach kein Französisch. Die Unterhaltung muss für sehr Dalí unbefriedigend gewesen sein, hatte er sich doch einen intellektuellen Austausch auf Augenhöhe erhofft. Während der Begegnung zeichnete Dalí ein Porträt von Freud. Auch wenn der Forscher zwei Tage danach an Zweig seine Hochachtung zum Ausdruck brachte, so sollte dies für die weitere Entwicklung von Salvador Dalí keine Rolle mehr spielen.
„Wirklich, ich darf ihnen für die Fügung danken, die die gestrigen Besucher zu mir gebracht hat. denn bis dahin war ich geneigt, die Surrealisten, die mich scheinbar zum Schutzpatron gewählt haben, für absolute (sagen wir 95 Prozent wie beim Alkohol) narren zu halten. der junge Spanier mit seinen treuherzig fanatischen Augen und seiner unleugbaren technischen Meisterschaft hat mir eine andere Schätzung nahe gelegt.“3
Auch wenn Salvador Dalí wichtige Inspiration aus der medizinischen Forschung bezog, das macht die Ausstellung deutlich, so setzte er diese Erkenntnisse doch in einem höchst individuellen Maße ein. Freud verweigerte sich deshalb den Surrealisten - und das persönliche Treffen zwischen Dalí und dem hochbetagten und kranken Freud muss deshalb als Ausnahme gewertet werden.
Kuratiert von Jaime Brihuega; kuratorische Assistenz Stephanie Auer.
Quelle: Belvedere, Wien