Eine lose Gruppe von Künstlern um Henri Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck führte anfangs des 20. Jahrhunderts revolutionäre Farbexperimente durch. Der Kunstkritiker Louis Vauxcelles gab ihnen 1905 ihren Namen: Um diese im Jahr 1905 noch unbekannte Künstler-Clique in seinem Artikel zu beschreiben, verwendete er den Begriff „fauves“ – dieser lässt sich mit „wilden Bestien“ oder mit „wilde Tiere“ ins Deutsche übersetzen. Der Kritiker erkannte in der expressiven Art des Farbauftrags, in den ungewöhnlichen und oft grellen Farbkombinationen sowie im Verzicht auf naturgetreue Wiedergabe von Lokalfarben einen Bruch mit akademischen Konventionen. Auch wenn keiner der Beteiligten sich mit einem fauve identifizierte, so ging die revolutionäre Kunstbewegung doch unter dem Namen Fauvismus in die Kunstgeschichte ein.
Schweiz | Basel: Kunstmuseum Basel, Neubau
2.9.2023 – 21.1.2024
Die umfassende Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel präsentiert die leuchtenden Farbexperimente der Fauves. Dabei werden die konventionellen Sichtweisen auf diese die Moderne so sehr prägende Stilrichtung auch infrage gestellt. So stellt die Schau etwa das Schaffen der Künstlerinnen Émilie Charmy und Marie Laurencin vor und ermöglicht erstmalig Einblicke in den maßgeblich von der Galeristin Berthe Weill organisierten Handel mit fauvistischer Kunst.
Die zukünftigen Fauvisten trafen einander in der Klasse von Gustave Moreau an der Pariser École des Beaux-Arts. Der liberale Lehrer bestärkte seine Schüler in ihrem Tun, allen voran Henri Matisse, der sich wenige Jahre später als Anführer der Fauvisten etablieren sollte. In Auseinandersetzung mit der akademischen Tradition, dem Symbolismus vor allem aber dem Postimpressionismus eines Paul Signac bestärkte Matisse, reine, unvermischte Farben gleichsam direkt auf die Leinwand aufzutragen. Der Weg zur Avantgarde führte die Künstlergruppe, bestehend aus Matisse, Marquet, Camoin, Puy und Manguin, allerdings über das klassische Aktstudium! Eine Reihe von Bildern lässt das Publikum an den Sitzungen teilhaben: das Aktmodell im Zentrum, umgeben von ambitionierten Herren an Staffeleien (die Klassen waren nach Geschlechtern getrennt). Akademisches Grau-Braun und erste bunte Farbflecken, vor allem aber Fragen nach Realismus und Detailreichtum vs. die große Form dominieren die Gemälde. Matisse, so in der Erinnerung von Jean Puy, begann als erster an einem trüben Wintertag mit dem Einsatz intensiver Farben als er „Nu aux souliers roses“ malte:
„Aber Matisse, und nach ihm Derain, haben dieses Grau […] als kräftiges, schwer lastendes Blau präsentiert und die Formen des Modells in Orange. Das war zwar frappierend, aber völlig jenseits der Realität. Matisse zögerte zu dieser Zeit nicht, sich von ihr so weit zu entfernen, dass es einer Grausamkeit gegenüber dem Auge gleichkam.“1 (Jean Puy)
Der Fauvismus war die erste Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts. Während einer kurzen Zeit, von 1904 bis 1908, war er tonangebend in der Kunstmetropole Paris. Sein Einfluss währte weit darüber hinaus. Georges Braque, Raoul Dufy und Kees van Dongen schlossen sich unter anderen der Bewegung an. Zeitlich fällt der Fauvismus in die Belle Époque, in der sich die moderne, urbane Massengesellschaft rasant weiterentwickelt. Die Mobilität nimmt zu und die Werbe- und Tourismusindustrie bildet sich heraus.
André Derain und Maurice de Vlaminck freundeten sich 1900 an und mieteten bald darauf ein gemeinsames Atelier im Pariser Vorort Chatou, wo beide aufgewachsen waren. Ihre gemeinsamen Exkursionen im Umland führten allerdings erst nach Derains Militärdienst zu farbintensiven Kompositionen voller Licht. Ab Ende 1904 erprobten beide in Seine-Landschaften verschiedene Möglichkeiten von Farbauftrag, Kolorit und Raumdarstellung: André Derains „Le vieil arbre“ (1904), „La Rivière“ (1904/05) und „Les Vignes au printemps“ (um 1904/05) sind vor allem von Rotbraun, Variationen von Grün und Blau bestimmt. Maurice de Vlamincks „Restaurant de la Machine à Bougival” und „Sous-bois“ (beide 1905) zeigen bereits auf, welche hohe Bedeutung das Zufügen von Gelb und Orange für das Farbkonzept des Fauvismus ist. Erst dadurch entsteht jene Aufhellung und Abstrahierung der Landschaft, man vergleiche damit das im Folgejahr entstandene „Bords de la Seine à Carrières-sur-Seine“ (1906), die die farbige Revolution und Wildheit überhaupt wahrgenommen werden konnte.
Im Winter 1904 besuchte Matisse die beiden in Chatou und stellte fest, dass sie ähnliche bildnerische Strategien wie er verfolgten. Eine Empfehlung Paul Signacs führte den Matisse und Derain im folgenden Sommer nach Collioure, ein abgelegenes südfranzösisches Fischerdorf nahe der spanischen Grenze. Seite an Seite entwickelten sie eine neue Bildsprache, inspiriert vom mediterranen Licht, dem Blau des Mittelmeers und den roten Felsen. Zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören Matisses „Intérieur à Collioure (La Sieste)“ und Derains „Bateaux dans le port de Collioure“. Das gleißende Licht lässt Derains Landschaft in Gelb-orange erstrahlen, während sich Matisse in ein Zimmer mit Aussicht zurückzog, um am flächigen Farbauftrag zu arbeiteten. Charakteristisch für beide ist das abrupte Aneinanderstoßen von intensiven Tönen, die Kritik wie Publikum am Herbstsalon von 1905 heftig reagieren lassen wird. Mit den Worten André Derains gesagt:
„Ich habe also zwei große Punkte, bei denen mir meine Reise viel geholfen hat: 1. Eine neue Auffassung des Lichts, die darin besteht, dass sie den Schatten verneint. 2. Ich bin […] dazu gelangt, alles auszurotten, was die Teilung der Töne so gefährlich macht.“2 (Derain in einem Brief an Maurice de Vlaminck, 28. Juli 1905)
Kaum war der Auftritt von Matisse, Derain und ihre Kollegen am Herbstsalon 1905 als „wild [fauves]“ gebrandmarkt worden,3 zogen sie die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Malern auf sich, die aus Le Havre stammte: Georges Braque, Raoul Dufy und Othon Friesz. Wie bereits vor ihnen die Maler des Impressionismus reisten sie an die zunehmend populär werdenden Küsten von Frankreich. Während die Normandie bereits in der Belle Époque touristisch ausgebaut wurde, versprachen Orte wie Nizza, Cagnes und Collioure noch das Erlebnis von „ursprünglichen“ Fischerdörfern. Renoir, Cézanne und Signac hatten ihren Lebensmittelpunkt bereits in den Süden verlegt und wurden damit vorbildhaft. So reisten Derain, Braque und Friesz wiederholt nach L’Estaque, einem Dorf in der Nähe von Marseille, das eng mit Cézanne verbunden ist.
Die Bildwelt des Fauvismus ist dadurch von künstlerischen Idiome geprägt, die von den vorhergehenden Generationen geprägt worden waren: Hafenszenen, beflaggte Straßen am Nationalfeiertag, Strandläufer:innen, von Baumgruppen gerahmte Ausblicke aufs Meer, Schiffe in allen Typen. Tourismus- und Freizeitkultur bildeten neben der vermeintlich unberührten Natur ein bedeutendes Reservoir an fröhlichen, lebensbejahenden Motiven. Das Kunstmuseum Basel zeigt Braque, Dufy und Friesz als gelehrige Schüler von Albert Marquet. Ihre schnell gemalten Bilder wirken noch skizzenhafter als gleichzeitig entstandene Werke der nunmehr berühmten Impressionist:innen. Das Rohe und Unzivilisierte, das ihren Werken vorgeworfen wurde, ist unter anderem verbunden mit der Wirkung der Leinwand, die die fauves ohne Grundierung einsetzten. Ungemischte Farben ohne Abschattierungen oder Modulation beschreiben nicht das Gesehene, sondern eine persönliche Erfahrung der Schöpfer. Matisse und Co. sprechen in ihren theoretischen Texten von „Visionen“, das heißt inneren Bildern, denen sie eine größere Bedeutung zumaßen als dem visuellen Eindruck allein.
Trotz der hohen Bedeutung, die das Landschaftsbild für die Entwicklung des Fauvismus spielt, nutzten die Maler auch Stillleben und Porträts für ihre Farb- und Malexperimente. Das Kunstmuseum Basel betont vor allem den Einfluss von Amélie Matisse-Parayre, der Ehefrau von Henri Matisse, die als Modell, Modistin (Hutmacherin) und Kunsthandwerkerin ein zentrales Mitglied des Künstlerkreises der Fauves war. Charles Camoin zeigt in „Madame Matisse faisant de la tapisserie“ (1904), wie sie einen Gobelin nach Entwurf von Derain knüpft. „Les Tapis rouges“ (1906) von Matisse offenbart dessen großes Interesse am Textil und Ornament, das in den folgenden Jahrzehnten noch wichtiger werden wird.
Robert Delaunay und Sonia Delaunay-Terk, erst später miteinander verheiratet, erprobten in ihren Frühwerken die Möglichkeiten farbig brillanten Gestaltens. Robert Delaunay lässt in seinem „Nature morte au perroquet“ (1907) Pflanzen und namensgebenden Papagei in allen Regenbogenfarben glitzen, während Sonia Delaunays „Finlandaise“ (1907) eher flächig, kompakt und von schwarzen Umrisslinien verfestigt aufgefasst ist. Die Kurator:innen legten erfolgreich darauf Wert, den Anteil weiblichen Kunstschaffens zu heben, wodurch Émilie Charmys elegantes Porträt der bedeutenden Kunsthändlerin Berthe Weill (1910–1914) sowie Marie Laurencins fast naiv-primitivistisches Bildnis von Jean Royère (1908) gezeigt werden. Die Galeristin zählte zu den ersten Händler:innen der Fauvisten und nahm auch Laurencin in ihr Programm auf.
Cuno Amiet | Alice Bailly | Georges Braque | Charles Camoin | Auguste Chabaud | Émilie Charmy | Robert Delaunay | Sonia Delaunay-Terk | André Derain | Kees van Dongen | Raoul Dufy | Othon Friesz | Auguste Herbin | Alexej von Jawlensky | Wassily Kandinsky | Marie Laurencin | Henri-Charles Manguin | Albert Marque | Albert Marquet | Henri Matisse | Gabriele Münter | Pablo Picasso | Hans Purrmann | Jean Puy | Georges Rouault | Henri Rousseau | Suzanne Valadon | Maurice de Vlaminck | Marianne von Werefkin
Arthur Fink, Claudine Grammont und Josef Helfenstein (Hg.)
mit Beiträgen von Peter Kropmanns, Claudine Grammont, Gabrielle Houbre, Arthur Fink, Maureen Murphy, Pascal Rousseau
270 Seiten
ISBN 978-3-422-80118-9
Deutscher Kunstverlag Berlin