Chemnitz | Kunstsammlungen am Theaterplatz: Edvard Munch Angst | 2025

Edvard Munch, Zwei Menschen. Die Einsamen, 1906–1908, Öl auf Leinwand, 80 × 110 cm (Busch-Reisinger Museum, Cambridge, Massachusetts, The Philip and Lynn Straus Collection, Foto: © President and Fellows of Harvard College, 2023.551)
Der norwegische Maler Edvard Munch zählt zu den bedeutendsten Wegbereitern der modernen Kunst in Europa. Er wird durch seine gefühlsdurchdrungene Malerei zum Seismografen seiner Zeit (→ Edvard Munch: Biografie). Angst ist dabei immer zugegen und bestimmt seine Bildwelten - neben Zweisamkeit und Einsamkeit, Verzweiflung und Liebe. Eines der ersten Bilder der Chemnitzer Ausstellung verbindet diesen Gesensatz auf unnachahmliche Weise: „Dämmerung“ (1888) aus dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid zeigt im Hintergrund ein Paar, während die bildbestimmende junge Frau nachdenklich auf das Meer blickt. Was wohl in ihr vorgeht?
Edvard Munch. Angst
Deutschland | Chemnitz:
Kunstsammlungen am Theaterplatz
10.8. – 2.11.2025
Chemnitz, das „sächsische Manchester“, spielte in der Karriere von Edvard Munch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte sich die Stadt als eines der führenden Zentren der Textil- und Maschinenbauindustrie im deutschsprachigen Raum etabliert.1 Der bürgerliche Kunstverein Kunsthütte zu Chemnitz stellte im Jahr 1906 bereits 20 Munch-Gemälde aus, gefolgt 1921 von einer Präsentation in der Kunsthandlung Gerstenberger und eine Grafikausstellung in der Kunsthütte sowie im Herbst 1929 im Museum am Theaterplatz.2 In der NS-Zeit musste sich die Sammlung von einem bedeutenden Munch-Gemälde trennen. Der umfassender Grafikbestand mit der Mappe „Alpha und Omega“ (1908/1909), zwischen 1921 und 1931 erworben, konnte im Haus verbleiben. Heute gehört auch noch das Gemälde „Käte und Hugo Perls“ (1913) den Kunstsammlungen Chemnitz, und das Porträt „Wilhelm Le Fèvre Grimsgaard“ (1901) ist als Dauerleihgabe in Chemnitz zu sehen. Aufbauend auf diesen Bestand bzw. der Beziehung von Stadt und Künstler zeigen die Kunstsammlungen am Theaterplatz eine spannende Schau zu einem der existentiellen Themen des Menschseins und zentralen Aspekt im Werk von Edvard Munch: Angst.
Edvard Munch in Chemnitz 2025
„In Zeiten ohne Lebensangst und Krankheit habe ich mich wie ein Schiff im Sturm gefühlt, ohne Segel, ohne Ruder – aber ohne Ruder – und habe mich gefragt, wo? / Wo bin ich?“3 (Edvard Munch, Februar 1930)
Der norwegische Maler und Druckgrafiker Edvard Munch war ein Existentialist, der zeitlebens unter Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Störungen litt - diese aber gekonnt als Quelle seiner Kunst nutzte.4 Munchs Bildwelt ist gleichsam ein Spiegelbild seiner Seelenzustände. Seine Bedeutung liegt in die Aktualität seiner Beobachtung, seiner seismografischen Aufzeichnungen, mit denen er, vom Symbolismus kommend, die Kunst des Expressionismus vorbereitete. Die Munch-Ausstellung in Chemnitz macht mit dem Thema „Angst“ auf ein existenzielles Thema im Werk des Norwegers aufmerksam und verbindet es mit zeitgenössischen Positionen (vgl. → Edvard Munch, das Unheimliche und die Frau).
„In meiner Kunst habe ich versucht, mir das Leben zu erklären und Klarheit über den Lebensweg zu gewinnen. Ich dachte, dass dies dazu beitragen könnte, andere über das Leben zu informieren.“5 (Edvard Munch)
In den Kunstsammlungen am Theaterplatz kann man Edvard Munch als Maler und genialen Druckgrafiker wiedersehen, aber auch Unbekanntes entdecken. Außergewöhnliche Leihgaben, wie die formal überraschende „Aussicht vom Nordstrand“ (1900/1901, Kunsthalle Mannheim) oder die dynamische Komposition „An Deck bei Schneesturm“ (1910–1912, Munchmuseet, Oslo), zeigen eine wenig bekannte Seite des berühmten Künstlers, während das Gros der Munch-Werke in Chemnitz den „klassischen“ Munch zeigt: Leere, blass-grünliche Gesichter und starre Blicke vermitteln eine überwältigende Furcht und Beklommenheit, Bedrohung und psychischen Instabilität, am eindrücklichsten im erstickten „Schrei“ der Natur.
- Edvard Munch, Abend. Melancholie I, 1896, Farbholzschnitt (Museum der bildenden Künste Leipzig, Foto: bpk/Museum der bildenden Künste Leipzig)
Einsamkeit
„Dämmerung“6 (1888) zeigt Edvard Munchs ältere Schwester Laura, wie sie vor einem Haus in einem norwegischen Fjord sitzt und gedankenverloren aufs Meer schaut. Im Kontrast dazu positionierte er ein Paar an der Uferzone im Hintergrund. Noch ist sein Kolorit realistisch. Nichts deutet darauf hin, dass Kindheit und Jugend vom frühen Tod der Mutter und dem religiösen Fanatismus des Vaters überschattet waren, oder dass Laura seit ihrer Jugend an einer Schizophränie erkrankt ist. Munch zeigt seine Schwester als junge Frau, die einsam vor dem Haus sitzt. Das Fehlen einer Beziehung ist, neben unmöglichen oder erkalteten Beziehungen, das Thema des Bildes, ja des späteren Œuvre des Künstlers.
Die Chemnitzer Ausstellung startet mit einem Hauptwerk des damals 25-jährigen Norwegers und rahmte es mit Werken der beiden älteren Künstler Christian Krohg und Max Klinger. Als Vertreter von Naturalismus und Symbolismus hatten sie nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung Munchs. Und doch gehen seine Kompositionen über deren Werke hinaus. Indem Munch Alltägliches mit Gefühlen verband, erreichte er das Publikum auf eine unmittelbare Weise, wie es zuvor in der Kunst kaum denkbar war.
Besonders eindrucksvoll wird die Veränderung in Munchs Werk nachvollziehbar, wenn man „Bucht mit Boot und Haus“ (1881) aus der Colección Carmen Thyssen mit „Dämmerung“ und den folgenden Bildern zu nächtlichen Erfahrungen vergleicht. Im November 1880 hatte Munch den Entschluss gefasst, Maler zu werden. Er verließ gegen den Willen seines Vaters die Technische Schule und schrieb sich an der Königlichen Zeichenschule [Den Kongelige Tegneskole] in Oslo ein. Am Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit ist die nordische Landschaft noch mit einem strahlend hellen Licht erfüllt. Wenig später änderte der Maler seine Haltung und konzentrierte sein Interesse auf die menschliche Figur oder eine zunehmend schematisierte Wiedergabe von Küstenverläufen, tiefdunklen Wäldern oder schneebedeckten Hängen.
Die Landschaft wird in den folgenden Jahren immer karger und zu einem Spiegel der Seele ihrer Protagonist:innen, wie die Farbholzschnitt „Abend. Melancholie I“ (1896), „Melancholie III“ (1902) und „Frauen am Meeresufer“ (1898) zeigen. Die Uferzone scheint der Ort des Nachdenkens und Sehnens zu sein. Der Blick in die Ferne kündet von einem nicht gelebten Leben, einer Sehnsucht, einem Schicksalsschlag. Munch übernahm das Thema der wartenden Frauen von den nordischen Realisten, die damit das gefährliche Leben der Fischer und ihr Kampf gegen die Gewalt des Meeres andeuteten.
Einzig der dichte Nadelwald bietet sich in den Werken Munchs als Rückzugsort an. Dorthin zieht es die Liebespaare, wenn sie ungestört sein wollen. Munch versinnbildlicht die romantische Liebe in Form von eng umschlungenen Paaren, die gemeinsam in den Wald gehen. Er zeigt sie als Rückenfiguren, die sich zur Identifikation anbieten und gleichzeitig Objekte der Betrachtung sind.
Nach fast 90 Jahren kommt das Werk „Zwei Menschen. Die Einsamen“ (1906–1908, Busch-Reisinger Museum, Cambridge) erstmals wieder nach Chemnitz zurück. Friedrich Schreiber-Weigand hatte es 1928 nach mehrjährigen Bemühungen über die Galerie Arnold in Dresden für die Städtische Kunstsammlung Chemnitz erworben; in der Zeit des Nationalsozialismus (September 1937) wurde das Gemälde über Hildebrand Gurlitt und Harald Holst Halvorsen zuerst nach Norwegen veräußert und danach in die USA verkauft.7
In den Interieurs bzw. Genreszenen zeigt sich eine ähnliche Entwicklung: Das „Mädchen am Fenster“ (1894) und „Mondschein. Nacht in St. Cloud“ (1895) können noch als impressionistische Experimente mit Licht und Schatten gedeutet werden. Aber langsam schleicht sich ein Unbehagen ein, dass Munch in zeitgleichen Bildern zu wahren Angstschreien zu erweitern verstand.
- Edvard Munch, Sternennacht, 1901, Öl auf Leinwand (MUSEUM FOLKWANG, ESSEN, Foto: Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK)
Alpha und Omega
Edvard Munch gehört zu den bedeutendsten Vertretern der modernen Druckgrafik um 1900. Chemnitz besitzt seit den 1920er Jahren die wichtige Serie „Alpha und Omega“ (1908/09), in der sich der Norweger von seiner huorvollen, karikierenden Seite zeigt. Zumindest behauptete er dies. Das Titelblatt eröffnet die Serie mit einer Maske in einer Kartusche, die Mundwinkel nach unten gezogen und mit runden, offenen Augen. Handelt es sich hierbei um ein verstecktes Selbstporträt des Künstlers? Einen fragenden Blick? Das Inhaltsverzeichnis verdoppelt die Masken, womit die emotionale Stimmung zwischen Frohsinn und Erschrecken changiert.
Offensichtlich handelt es sich bei „Alpha“ um einen Mann, hingegen bei „Omega“ um eine Frau. Die Geschichte beginnt idyllisch und kreist um die Liebe zwischen Mann und Frau. Der Wald ist ihr Versteck - aber gleichzeitig auch der Ort, an dem Betrug und Eifersucht stattfinden. Hier führt Edvard Munch Tiere ein, mit denen die Frau knuddelt oder auch erotisch verkehrt: Die Schlange wird vom Mann besiegt. Die Frau kuschelt mit einem Bären. Sie krault einen Tiger, woraufhin Bär und Tiger einander argwöhnisch umschleichen. Aber auch Reh und Schwein gehören zu den Freunden der Frau, bis sie völlig aufgelöst und einsam weint. Doch der nächste Verehrer, ein Hirsch, trägt sie über das Meer davon, während Alpha am Strand nachdenklich zurückbleibt. Nicht einmal ein Blick auf seine zahlreichen Nchkommen machen ihn froh. Stattdessen irrt er verzweifelt am Strand umher, bis er die tote Frau (Omega) wiederfindet selbst stirbt und von den Tieren aufgefressen wird.
Munch verarbeitete und vermengte in dieser Bilderfolge - kaum versteckt - seine eigenen Kindheitserinnerungen mit seinen Frauengeschichten. Sein Vater hatte sich seit dem Tod seiner Ehefrau völlig seiner Melancholie hingegeben und war häufig nicht ansprechbar. Munch bewältigte diese Situation als Kind, indem er sich das Gesehene von der Seele zeichnete. Seit Herbst 1908 befand sich der Künstler in einer tiefen Krise, ausgelöst durch Alkoholmissbrauch und unglücklichen Liebesgeschichten. Der Künstler bekräftigte selbst, dass er nie den Wunsch gehabt habe, sich an eine seiner Freundinnen zu binden. Stattdessen wollte er ganz für seine Kunst leben. Diese Form der Sublimierung dürfte allerdings nur eine Seite der Medaille gewesen sein, wie „Alpha und Omega“ vermuten lässt. Wohl nicht grundlos entstand die Serie während seines Klinikaufenhtalts in Kopenhagen.
Munchs Beziehung zu Frauen war nicht nur durch den frühen Tod der Mutter und die hingebungsvolle Tante Karen Marie Bjølstad (1839–1931), die sich um die Familie sorgte, geprägt. Nicht unerheblich prägte auch die „Kristiania-Boheme“ mit ihrer Forderung nach freier Liebe und absoluter Ehrlichkeit den sich formenden Künstler und Mann. Er verliebte sich unglücklich in die bereits verheiratete Schauspielin Milly Thaulow (1884), und die Affäre mit Tulla Larsen endete mit einem Pistolenschuss, und dass dem Maler danach ein Fingerglied fehlte. Edvard Munch gestand sich zunehmend ein, dass er sich von seiner Lebensangst und den Gedanken ans ewige Leben nicht lösen konnte.
- Edvard Munch, Herbert Esche, 1905, Öl auf Leinwand (Kunsthaus Zürich, Leihgabe der Herbert Eugen Esche-Stiftung, 1997, Foto: Kunsthaus Zürich/Peter Schälchli)
- Edvard Munch, Selbstporträt, 1895, Lithografie (Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/László Tóth)
Munch und Chemnitz = Herbert Eugen Esche
1892: Noch nicht ganz 30 Jahre alt reiste Munch erstmals nach Deutschland und blieb mit Unterbrechungen bis 1908 in seiner neuen Wahlheimat. Hier entstanden zahlreiche Hauptwerke, die dem Maler skandalumwitterte Bekanntheit einbrachten und ihm zehn Jahre später den internationalen Durchbruch ermöglichten.
Der Belgier Henry van de Velde, in der Ausstellung in einem Munch-Porträt aus dem Jahr 1906 vertreten (Sprengel Museum Hannover), vermittelte Munch ab 1902 an sein Netzwerk prominenter und betuchter Kunstmäzene. Zu Munchs deutschen Förderern gehörte neben den Lübecker Augenarzt „Dr. Max Linde“ (1902, Kunstsammlungen Chemnitz) auch das Chemnitzer Paar Herbert Eugen und Johanna Esche. Auf Esches Einladung kam Edvard Munch im September 1905 nach Chemnitz, um die Familiemitglieder für deren Jugendstilvilla zu porträtieren. Munchs Eintrag im Gästebuch der Esche Familie (17.10.1905) und Zeichnungen der Kinder belegen den Aufenthalt.
Chemnitz freut sich auf zwei außergewöhnliche Leihgaben: Mit dem „Bildnis Herbert Esche“ und dem „Blick aufs Chemnitztal“ (Kunsthaus Zürich/Herbert Eugen Esche-Stiftung) sind zwei Gemälde nach Sachsen gereist, die in der Villa Esche in Chemnitz entstanden sind. Während der „Blick aufs Chemnitztal“ die Industriestadt in den Blick nimmt, zeigt das „Bildnis Herbert Esche“ den Kunstförderer mit wachem Blick vor intensiv rotem Hintergrund. In seiner flächigen Farbgebung und dem intensiven Kolorit zeigt das Bildnis bereits die neue stilistische Ausrichtung des Malers. Munch hatte sich von den düsteren Farben des Symbolismus entfernt und den reinen Tönen des Fauvismus angenähert, die er dünn und flächig auftrug.
- Marina Abramović, Portrait with Golden Mask, 2010, Video, Laufzeit 30 Min. (Courtesy of Christen Sveaas’ Art Foundation © Courtesy of the Marina Abramovic Archives /VG Bild-Kunst, Bonn 2025)
Selbstporträts
Munchs berühmtes „Selbstporträt“ (1895, Kunstsammlungen Chemnitz) zeigt den Kopf des Künstlers und einen knöchernen Arm. Im zur Seite stellen die Kuratorinnen Marina Abramovićs „Porträt mit goldener Maske“ von 2010. Beide Künstler:innen arbeiten mit der Konzentration auf den Kopf, womit sowohl Geist und Gedankenwelt, im Fall von Abramović aber auch Spiritualität gemeint sind. Die serbische Performance Künstlerin bedeckt ihr Gesicht mit Goldblättern, was sowohl an die berühmte Goldmaske des Tut Anch Amun erinnert als auch ihre Gesichtszüge zum Verschinden bringt. Munch hat in vielen Bildern die Gesichter seiner Mitmenschen wie maskenhaft erstarrt wiedergegeben. Er wollte damit die Angst hinter der Fassade thematisierten. Abramović will damit heilen.
Zu den Überraschungen in der Munch-Ausstellung von Chemnitz gehören die Werke von Andy Warhol. In den 1980er Jahren entdeckte der berühmte US-Amerikaner das Werk des Symbolisten Munch und übertrug einige Motive, darunter die legendäre „Madonna“ von 1895, in großformatige und bunter Siebdrucke. Indem Warhol die wichtigsten Linien nachzeichnete und die Formen mit teils leuchtenden Farbflächen akzentuierte, verschob er Ausdruck und Bedeutung der Kompositionen. Die Madonna Warhols wirkt noch totbringender, der (syphilitische?) Embryo links unten leuchtet in Gelb.
Egon Schiele und Munch verbindet die Spanische Grippe. Beide erkrankten Ende der 1910er Jahre an dieser Form der Influenza, der Schiele im Alter von nur 28 Jahren erlag. Edvard Munch überstand sie geschwächt, wie er in mehreren Selbstporträts vermittelte. Der jüngere Expressionist Schiele stellte sich in knapp achteinhalb Jahren etwa 100 Mal selbst dar - und lieferte damit weniger ein Dokument seiner Seelenzustände als ein gekonntes Spiel mit Selbstdarstellung und Ich-Analyse. Der expressionistischen Zuspitzung folgt auch Wilhelm Lehmbruck in „Kopf eines Denkers“ (1918, Chemnitz) oder Franziska Sartorius.
- Andy Warhol, The Scream (after Munch), 1984, Siebdruck und Polymerfarbe auf Leinwand (The Savings Bank Foundation DNB / Deposited at Haugar Art Museum, Foto: Michal Tomaszewicz © 2025 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Artists Rights Society (ARS), New York)
- Edvard Munch, Angst, 1896, Lithografie (Courtesy Art For Centuries, Norway, Foto: Art For Centuries, Norway/Thomas Widerberg)
Angst
„Meine Angst kriegt ihr nicht“ schrieb Birgit Brenner 2012 groß auf ihre Arbeit. Der steht nun in Chemnitz Edavrd Munchs berühmter Holzschnitt „Das Geschrei“ (1895) gegenüber. Ein Bild zum Fürchten, sollte man meinen. Die legendäre Figur im Vordergrund reißt die Augen und den Mund auf und hält sich die Ohren zu. Immerhin schreit die Natur, was Munch in der Druckgrafik mit den Linien meinte, die den Himmel überziehen. Warhols Neuinterpretation ergänzt die Idee Munchs mit einem passenden Kolorit: schwarz-rosa Himmel, ein gelber Kai, Grün und Blau deuten Natur an. Nur die sich windende Figur wird ausgespart und strahlt wie ein weißer Geist aus dem Bild.
Dass auch Edvard Munch in der Druckgrafik mit Farben experimentierte, belegt der Druck „Angst“ (1896). Aus der Einzelfigur ist eine Menschenmenge geworden, die mit angsterfüllten Augen direkt aus dem Bild herausschaut. Über ihren gespenstisch blassen Köpfen entwickelt sich ein Abendrot, das allerdings keine romantische Stimmung aufkommen lassen will. Hat Munch hier seine Gefühle auf die Menschheit übertragen, oder legt er deren verdrängte Lebensangst offen? Mit ambivalenten Bildern wie diesem zeigt sich die unglaubliche Qualität von Munchs Werk!
Jüngst belegte eine Gegenüberstellung von Arbeiten von Francisco de Goya und Edvard Munch wie beide Angst zu einem ihrer Themen machten. Goya nutzte seine Fantasie, als er „Los Proverbios [Die Sprichwörter]“ (ca. 1816) in Capricci umsetzte. Es zeigt in seiner letzten großen Arbeit verschiedene „Verrücktheiten“ und Ängste, indem er Sprichwörter bildgewaltig (und vermutlich auch wörtlich) umsetzte. Zu den eindrucksvollsten Schilderungen der Angst gehört Blatt 2, das ein überlebensgroßes Wesen, eingehüllt in eine Mönchskutte, zeigt, vor dem die Menschen in Furcht davonlaufen.
Edvard Munch benennt die Quelle der Angst in einigen seiner Werke, allen voran in jenen, die Krankheit und Tod zum Inhalt haben: „Die tote Mutter und das Kind“ (1901, Kunstsammlungen Chemnitz), „Das kranke Kind I“ (1894, Kunstsammlungen Chemnitz) und seine seitenverkehrte Reduktion „Das kranke Kind I“ (1896, Kunsthalle Bremen), „Der Tod im Krankenzimmer“ (1896, Leipzig), „Am Totenbett“ (1896, Chemnitz) und schlussendlich „Der Leichenwagen. Potsdamer Platz“ (1902/1935, Berlin).
Dialoge
Munchs Gemälde und vor allem die Druckgrafiken (Holzschnitt) beeinflussten Künstler aus der Region wie Karl Schmidt-Rottluff und weitere Mitglieder der Künstlergruppe Die Brücke. Immer wieder vesuchten sie, den inzwischen berühmten Norweger zu eigenen Ausstellungen einzuladen. Obschon dies nie gelang, übte Munchs Werk einen großen Einfluss auf die sich formierende Avantgarde.
In Chemnitz wird das Werk Edvard Munchs in einem vielstimmigen Dialog mit zeitgenössischen und älteren Werken gezeigt. Von Schmidt-Rottluff ist eine farbintensive „Norwegische Landschaft (Skrygedal)“ (1911, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See) zu sehen, und von seiner Münchner Kollegin Marianne von Werefkin „Sonntagnachmittag“ (1908, Ascona) und „Im Café“ (1909, Ascona).
Eindrucksvoll, weil schonungslos thematisierte auch die portugiesisch-britische Künstlerin Paula Rego die Erkrankung ihres Mannes in ihrem Werk. Mit „Metamorphose nach Kafka“ (2002) und der Druckgrafik „Zerknittert“ (2001/2002) liefert sie moderne Symbolde für Krankheit, Hilflosigkeit und sexueller Gewalt.
Zwischenmenschliches
Nur menschliche Beziehungen können helfen - so mag man das Ende der Ausstellung deuten. Wenn man von Angst vor Krankheit und Tod, wenn man von Lebensangst aufgerüttelt ist, dann darf man sich getrost in Gesellschaft fliehen. So findet Munch auch überzeugende Symbole für die romantische Liebe, für zarte Annäherung und sehnsuchtsvolle Loslösung. Auch wenn die Eifersucht an allen Ecken lauert, so ist der Mensch doch ein Gesellschaftswesen. Nicht einmal Munch konnte sich ganz in die Einsamkeit seines Atelier verlieren, wie sein Werk belegt. Das galoppierende Pferd geht zwar durch, und die Schlägerei im Garten endet mit zwei erschöpften Kontrahenten - und doch liefert das Leben die besten Geschichten. Und die sollte man sich am besten im Café oder in der Schenke erzählen!
Ausgestellte Künstler und Künstlerinnen
Edvard Munch, Christian Krohg, Max Klinger, Georg Dick, Erwin Olaf, Lenka Falušiová, Osmar Osten, Marina Abramović, Andy Warhol, Egon Schiele, Wilhelm Lehmbruck, Franziska Sartorius, Maja Wunsch, Jin Lie, Steffen Volmer, Birgit Brenner, Francisco de Goya, Jakub Schikaneder, Monica Bonvicini / Sam Durant, Werner Knaupp, Thomas Feldberg, Michael Morgner, Karolina Breguła, Irene Bösch, Georg Baselitz, Marianne von Werefkin, Paula Rego, Sascha Weidner, Karl Schmidt-Rottluff, Christian Friedrich Rohlfs, Neo Rauch.
Pavillon der Angst
Im Stadtraum von Chemnitz entsteht ein Pavillon der Angst mit direktem Bezug zur Ausstellung, der den Dialog mit Passant:innen zum Thema sucht. Mit diesem diskursiven Ausstellungsprojekt skizzieren die Kunstsammlungen Analogien zwischen historischen Zugängen und unserer Gegenwart. Dabei wird gleichzeitig der Versuch unternommen, die Angst sowohl als existenzielles, globales als auch persönliches Thema zu diskutieren.
Kuratiert von Diana Kopka und Kerstin Drechsel mit Sina Tonn als kuratorische Assistentin.
- Edvard Munch, Selbstporträt (mit Knochenarm), 1895, Lithografie mit Lithokreide, -tusche und Nadel in Schwarz (ALBERTINA, Wien © ALBERTINA, Wien)
Bilder
- Edvard Munch, Das Geschrei, 1895, Lithografie (Courtesy of Morten Zondag Kunstformidling, Norway)
- Edvard Munch, Selbstporträt, 1895, Lithografie (Kunstsammlungen Chemnitz)
- Edvard Munch, Selbstporträt, Detail, 1895, Lithografie, 59,6 x 43,5 cm (Kunstsammlungen Chemnitz)
- Edvard Munch, Zwei Menschen. Die Einsamen, 1906–1908, Öl auf Leinwand, 80 × 110 cm (Busch-Reisinger Museum, Cambridge, Massachusetts, The Philip and Lynn Straus Collection, 2023.551)
- Marina Abramović, Portrait with Golden Mask, 2010, Video, Laufzeit 30 Min. (Courtesy of Christen Sveaas’ Art Foundation)
- Edvard Munch, Two Human Beings. The Lonely Ones, 1906–1908, Öl auf Leinwand (Harvard Art Museums/Busch-Reisinger Museum, The Philip and Lynn Straus Collection, Inv.-Nr. 2023.551)
- Edvard Munch, Sternennacht, 1901, Öl auf Leinwand (MUSEUM FOLKWANG, ESSEN)
- Edvard Munch, Abend. Melancholie I, 1896, Farbholzschnitt (Museum der bildenden Künste Leipzig)
- Erwin Olaf, Scenes – The Kitchen, 2005, Chromogendruck (Studio Erwin Olaf © Erwin Olaf)
- Edvard Munch, Angst, 1896, Lithografie (Courtesy Art For Centuries, Norway)
- Andy Warhol, The Scream (after Munch), 1984, Siebdruck und Polymerfarbe auf Leinwand (The Savings Bank Foundation DNB / Deposited at Haugar Art Museum)
- Edvard Munch, Mörder in der Allee, 1919, Öl auf Leinwand (Munchmuseet, Oslo)
- Edvard Munch, Herbert Esche, 1905, Öl auf Leinwand (Kunsthaus Zürich, Leihgabe der Herbert Eugen Esche-Stiftung, 1997)
- Michael Morgner (*1942), Ecco Homo, 1992, Tusche, Lavage, Asphalt, Prägung (Leihgabe Dr. A. Morgner)
- Birgit Brenner (*1964), Meine Angst, 2012, Panzerpappe, Acryllack, Acrylfarbe, Ölfarbe (© courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/ Berlin)













