Der Blaue Reiter

Was ist „Der Blaue Reiter“?

Der Blaue Reiter war eine Münchner Künstler:innengemeinschaft des Expressionismus, die zwischen Anfang 1912 und Sommer 1914 bestand. Neben der Künstlergruppe „Die Brücke“ und den Künstlern des Rheinischen Expressionismus gehört „Der Blaue Reiter“ zu den bedeutendsten Kollektiven der frühen 1910er Jahre im Deutschen Kaiserreich.

Die Geschichte des „Blauen Reiter“ war kurz. Genau genommen waren es vor allem zwei Künstler, zwei Ausstellungen und ein Buch, der Almanach „Der Blaue Reiter“. Mit großem Engagement organisierten die beteiligten Künstler:innen ihre Ausstellungsprojekte und vernetzten sich mit interessanten Künstlerkollegen aus Frankreich, aus Russland und den nordischen Ländern.

Die öffentliche Resonanz war Anfang der 1910er Jahre allerdings gering. Die „Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter“ (1911) wurde von der Presse kaum beachtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Überzeugung durch, dass „Der Blaue Reiter“ den „Beginn der Moderne“ markiert. Die Beliebtheit der bunten Bilder machten den „Blauen Reiter“ in den letzten Jahrzehnten äußerst populär.

Künstler:innen von „Der Blaue Reiter“

Die führenden Künstler des „Blauen Reiter“ waren:

Eine Sonderrolle spielten Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, die nicht mit dem „Blauen Reiter“ ausstellten, aber in der Entwicklung des Malstils (Jawlensky) und Theoriebildung (Werefkin) extrem wichtig waren.

Ausländische Künstler wie Robert Delaunay und Henri Rousseau, David und
Wladimir Burljuk wurden als Gäste eingeladen.

Merkmale der Kunst des „Blauen Reiter“

Der intensive Austausch zwischen Künstler:innen wie Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Franz Marc, Maria Franck-Marc, August Macke, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Robert Delaunay und Elisabeth Epstein ließ eine produktive Gruppendynamik entstehen. Gemeinsam suchten sie nach einer neuen Sprache in der Kunst. Es ging ihnen nicht um einheitliche formale Mittel (wie vergleichsweise die Maler von „Die Brücke“, sondern um den Ausdruck kollektiver Ideen: den Wunsch nach einer Sichtbarmachung des subjektiv Erlebten, nach transnationalem Dialog und nach einer visuellen Sprache für das Spirituelle bzw. Geistige. Genau jenes Streben findet in den Werken der Künstler:innen des Blauen Reiter facettenreiche Umsetzung: von den Abstraktionen Kandinskys und Marcs bis hin zu Jawlenskys, Münters und Werefkins expressiven Menschen- und Naturdarstellungen.

Vorgeschichte des „Blauen Reiter“

Als Teil der umfangreichen Secessionsbewegungen um 1900 reichen die Wurzeln von „Der Blaue Reiter“ bis zur Kunst des Jugendstils und des Impressionismus zurück. Das Interesse an Volkskunst, Kinderkunst, japanischen Holzschnitten sowie Farbholzschnitten des Jugendstils, bayerischen Hinterglasbildern und den internationalen Avantgarden sowie das Bedürfnis nach freier künstlerischer Entfaltung wurde zu den Grundfesten des „Blauen Reiter“.

Die Vorgeschichte des „Blauen Reiter“ begann 1908 im oberbayerischen Murnau. Kandinsky und Münter hatten diesen Ort am Alpenrand südlich von München entdeckt und sich zusammen mit Jawlensky und Werefkin im Herbst dieses Jahres für einige Wochen dorthin zurückgezogen. Das Erlebnis der Landschaft mit ihren außergewöhnlichen Licht- und Farbverhältnissen, das gemeinsame Malen und die intensiven Debatten über Kunst liefen die Beteiligten rasch große Fortschritte machen. Gabriele Münter berichtet darüber in ihrem Tagebuch:

„Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht - vom Naturabmalen - mehr oder weniger impressionistisch- zum Fühlen eines Inhaltes, zum Abstrahieren - zum Geben eines Extraktes. […] Es war eine schöne, interessante freudige Arbeitszeit.“ (Gabriele Münter)

In Murnau entdeckten Münter und Kandinsky die bayerische Volkskunst mit ihren Votivbildern und Hinterglasmalereien; Münter nahm sogar Unterricht und arbeitete in dieser Technik. Die naive Malweise der Hinterglasbilder, aber auch ihre zumeist religiösen Bildthemen, hatten großen Einfluss auf das Werk beider.

Franz Marc gehörte zu diesem Zeitpunkt noch nicht dem Künstlerkreis an. Er arbeitete alleine in München und setzte sich seit Jahren mit der französischen Avantgarde auseinander, vor allem mit Vincent van Gogh, Paul Cézanne und Henri Matisse, um zu einer neuen Bildform zu finden. In den ersten Januartagen 1910 machte er unerwartet die Bekanntschaft von August Macke. Macke, dessen Bruder Helmuth und der Sohn des Berliner Sammlers und Mäzens Bernhard Koehler suchten Marc in seinem Atelier auf, nachdem sie Lithographien von ihm in „Brakls moderner Kunsthandlung“ gesehen hatten. In einem ausführlichen Brief erzählte Marc seiner Freundin Maria von dem Ereignis:

„Nun muß ich Dir ein Erlebnis von heute schildern, von dem ich mir manche angenehmen Möglichkeiten verspreche. Es klopft. – Vor der Thüre stehen drei sehr junge und ziemlich elegante Herren. Fragen nach mir. Sie haben bei Brakl zwei Lithographien [...] stehen sehen, […] von denen sie so begeistert sind, daß sie mich kennen lernen wollen. […] Nun aber das Wertvollere. Die drei Herren sind Maler […]“ (Franz Marc)

Aus dieser Begegnung entstand eine herzliche Freundschaft zwischen Marc und Macke, die trotz zeitweiser Verstimmung bis zu ihrer Einberufung in den Krieg hielt und vor allem für Marc erheblich zur Klärung seiner künstlerischen Probleme betrug.

Die „Neue Künstlervereinigung München (NVKM)“ und die Abspaltung des „Blauen Reiter“ (1909–1911)

Im Januar 1909 wurde auf Initiative von von Werefkin, Jawlensky, Adolf Erbslöh und Oscar Wittenstein sich die  „Neue Künstlervereinigung München“, kurz NVKM. Zu den ersten Mitgliedern gehörte auch Kandinsky, Alfred Kubin, Alexander Kanoldt und ein weiterer Kunsthistoriker. Sie wählten Kandinsky zu ihrem ersten Vorsitzenden. Innerhalb der Münchner Kunstszene war die NKVM das Sammelbecken der avantgardistischen Tendenzen. Ihre Ausstellungen wurden dementsprechend in der lokalen Presse ablehnend bis gehässig rezensiert. Im Dezember fand in der Münchner Galerie Heinrich Thannhauser die erste Ausstellung der NKVM statt.

Im Herbst 1910 kam auch Franz Marc in Kontakt mit der NKVM. Der Anlass dazu war ihre „2. Ausstellung“ (1.–14. September 1910) in der Galerie Thannhauser in München, die in der Presse in teilweise vernichtender Weise besprochen wurde. Aus Empörung über diese Anfeindungen beschloss Marc, eine Rezension zur Verteidigung NKVM zu schreiben. Die NKVM reagierte sofort. und druckte eine eigene Broschüre, in der Marcs Text dem Verriss des konservativen Kritikers Maximilian Karl Rohe gegenübergestellt wurde. Aus Marcs Text geht hervor, weshalb er sich aufgerufen fühlte, die Künstler der NKVM zu verteidigen. Er sprach dort von der „Vergeistigung der Materie“ und von einer „entmaterialisierte[n] Innerlichkeit der Empfindung“, die sich in ihren Bildern ausdrückte. Dies waren die gleichen Ideale, die ihn selbst bewegten und in denen er sich durch NKVM bestätigt fühlte.

In der Folge wurde die Verbindung zwischen Marc und der NKVM immer enger. Am Neujahrsabend 1911 trafen Kandinsky und Marc einander erstmals persönlich. Marc war von der Persönlichkeit des Russen tief beeindruckt. An seine Frau schrieb er: „Kandinsky übertrifft alle, auch Jawlensky, an persönlichem Reiz; ich war völlig gefangen von diesem feinen innerlich vornehmen Menschen, und äußerlich patent bis in die Fingerspitzen.“

Tags darauf besuchten die Künstler gemeinsam ein Konzert mit Werken von Arnold Schönberg. Kandinsky entdeckte dabei eine enge Geistesverwandtschaft zu dem Komponisten und begann einen regen Briefwechsel, in dem er ihm bekannte: „|...] das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen ist gerade das, was ich auch in malerischer Form zu finden versuchte.“

Im Januar 1911 führten Auseinandersetzungen in der NKVM dazu, dass Erbslöh Kandinsky als Vorsitzenden ablöste. Viele Gruppenmitglieder standen Kandinskys Tendenz zur Abstraktion reserviert gegenüber. Im Februar wurde Franz Marc in die NKVM als neues Mitglied aufgenommen und zugleich zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. An Maria schrieb er damals:

„[…] die Eigenbrödelel hab ich satt; nun geht's gemeinsam. Langweilen werden wir uns nicht in den nächsten Jahren, mein Lieb.“

Innerhalb der NKVM gab es jedoch im Laufe des Jahres 1911 zunehmend Spannungen zwischen einem konservativen Flügel um Erbslöh und Kanoldt einerseits und Kandinsky andererseits. Nach einer Vorstandssitzung im August sprach Marc in einem Brief an August Macke bereits von einer bevorstehenden Spaltung der NKVM:

„Ich sehe, mit Kandinsky, klar voraus, daß die nächste Jury (im Spätherbst eine schauerliche Auseinandersetzung geben wird und jetzt oder das nächste Mal dann eine Spaltung, resp. Austritt der einen oder anderen Partei: und die Frage wird sein, welche bleibt […]“

Am 3. Dezember, als über die Zusammensetzung der bevorstehenden „3. Ausstellung“ der NKVM entschieden wurde, kam es zum prognostizierten Konflikt: Kandinskys „Komposition V. Das Jüngste Gericht“ wurde von der Mehrheit der Mitglieder zurückgewiesen, da sie wenige Zentimeter größer war, als es die Satzung der NKVM zuließ. Hinter dieser formalen Entscheidung verbarg sich eine grundsätzliche Ablehnung von Kandinskys zunehmend ungegenständlicher Ausdrucksweise, weshalb dieser gemeinsam mit Franz Marc und Gabriele Münter sofort aus der Vereinigung austrat, gefolgt von Alfred Kubin, dem Komponisten Thomas von Hartmann und Henri Le Fauconnier. Jawlensky und Werefkin hingegen verblieben in der NKVM, obwohl sie sich mit Kandinskys Zielen solidarisch erklärten.

„Nun heißt's zu zweit weiterkämpfen! ‘Die Redaktion des Blauen Reiters‘ wird jetzt der Ausgangspunkt von neuen Ausstellungen. [...] Wir werden suchen, das Zentrum der modernen Bewegung zu werden.“ (Franz Marc in einem Brief an seinen Bruder)

Die beiden Ausstellungen der Redaktion des Blauen Reiter (1911–1912)

Parallel zur Ausstellung der NKVM organisierten Kandinsky und Marc nun innerhalb von zwei Wochen ihre eigene Ausstellung, die „Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter“. Vom 18. Dezember 1911 bis Anfang Januar 1912 wurde sie in der Galerie Thannhauser gezeigt, in der gleichzeitig, in benachbarten Räumen, auch die „3. Ausstellung“ der NKVM zu sehen war. In der „Blauer Reiter“-Ausstellung waren 14 Künstler:innen mit 43 Gemälden vertreten. Darüber hinaus gab es aber auch noch Exponate außer Katalog wie ein großes Glasbild von Franz Marc.

Neben Kandinsky, Macke, Marc und Münter sind auch andere Avantgardekünstler:innen dabei: Albert Bloch, David und Wladimir Burljuk, Heinrich Campendonk, Elisabeth Epstein, Eugen von Kahler, Jean-Bloé Niestlé und Arnold Schönberg. Unter den Künstler:innen waren zwei wichtige Gäste aus Paris: Henni Rousseau und Robert Delaunay. Den „Zöllner“ Roussau verehrte Kandinsky neben Arnold Schönberg als Vertreter der von ihm sogenannten „großen Realistik“, die er als produktiven Gegenpol zu seiner eigenen „großen Abstraktion“ schätzte. Delaunay wurde wegen seines farbigen Kubismus und der transparenten Leuchtkraft seiner Farben vor allem von Marc, Macke und Klee geschätzt und übte nachhaltigen Einfluss auf die Münchner Künstler:innen aus.

Die Ausstellung wurde von der Presse jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Um für sie zu werben, plante Kandinsky in den Münchner „Neuesten Nachrichten“ eine Mitteilung über die Verkäufe in der Ausstellung zu veröffentlichen: „Es wird eine nette Notiz“, schrieb er an Marc, „So was ist beßer, als eine ‚gute Kritik‘.“

Noch während der ersten „Blauer Reiter“- Ausstellung begannen die Vorbereitungen für die „Zweite Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter, Schwarz-Weiß“ (12. Februar bis 2. April 1912) in der Galerie Goltz in München stattfand und in der die neuen Tendenzen in Zeichnung und Druckgrafik vorgestellt wurden. Die Ausstellung sollte ein internationales Forum mit Künstlern aus verschiedenen Nationen und Kunstzentren werden. „Ich habe schon nach Paris und Moskau darüber geschrieben. Auch Kahnweiler (Paris) um Picassos Radierungen gebeten“, schrieb Kandinsky an Silvester 1911 an Marc, und wenige Tage später lud er die Mitglieder der Schweizer Künstlervereinigung „Der Moderne Bund“ zur Teilnahme ein und freute sich über die anwachsende Gemeinschaft der Künstler:

„Jedenfalls haben wir jetzt die Schweizer! [..] Fühlen Sie, wie tatsachlich alle Nationen zueinander mystisch gestoßen werden? Die Regierungen können Schlachten abhalten. Die Körper können aufeinander gestoßen werden und sich gegenseitig quälen. Die Seelen werden sich gegenseitig helfen. Wenn ich es stark fühle, so zittert mein Herz und eine runde warme Welle steigt, wächst in der Brust.“

Franz und Maria Marc hielten sich im Januar 1912 in Berlin auf und nahmen Kontakt mit zahlreichen Künstlerkollegen auf, insbesondere den Mitgliedern der „Brücke“. Sie recherchierten nach Werken für den „Almanach“ und eine kommende gemeinsame Ausstellung mit dem „Blauen Reiter“. Am 2. Januar trafen sie Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner, die sehr beeindruckt vom Katalog der ersten Ausstellung des „Blauen Reiter“ waren und sich an einer intensiveren Zusammenarbeit und gemeinsamen Ausstellungen interessiert zeigten.
Kandinsky reagierte skeptisch und lehnte die „Brücke“-Kunst als „Derivat des Impressionismus“ ab. Er sprach von einem „Warenhaus“ und bevorzugte die Münchner „Arbeit mit Ehrfurcht und Bedacht“ gegenüber den Berliner „Peitschenhieben des Wetteifers“. Außerdem missfiel ihm die thematische Einseitigkeit der „Brücke“-Maler. Unter 24 Werken, von denen ihm Marc Ansichtsfotos geschickt hatte, zählte er polemisch „9+1/2 Akte mit oder ohne Schamhaare, 5 Badende und a Circusbilder.“

Von Januar 1912 bis Mitte 1914 ging die Gemälde-Ausstellung auf Tournee durch insgesamt zwölf Stationen in Deutschland und Europa. Der Berliner Verleger und Galerist Herwarth Walden eröffnete mit ihr am 12. März 1912 seine soeben gegründete „Sturm“-Galerie und ließ sie mit so genannten Sandwichmen, also lebenden Plakattrăgern, in der Berliner Innenstadt ankündigen. Im Anschluss vermittelte er sie ins Ausland. Im Mai 1912 war die Ausstellung in Bremen zu sehen.

Almanach der Redaktion „Der Blaue Reiter“

Bereits am 19. Juni 1911 hatte Kandinsky Marc erstmals seinen Plan eröffnet, „eine Art Almanache“ herauszugeben:

„Nun! Ich habe einen neuen Plan. Piper muss Verlag besorgen und wir beide … die Redakteure sein. Eine Art Almanach (Jahres=) mit Reproduktionen und Artikeln** nur von Künstlern stammend. In dem Buch muss sich das ganze Jahr spiegeln, und eine Kette zur Vergangenheit und ein Strahl in die Zukunft müssten diesem Spiegel das volle Lebe geben. […] Da bringen wir einen Ägypter neben einem kleinen Zeh, einen Chinesen neben Rousseau, ein Volksblatt neben Picasso.“

Den Namen der Gruppe fanden Marc und Kandinsky schon im September 1911. In den nächsten Monaten organisierte vor allem Kandinsky Beiträge für das geplante Buch. Besonderen Wert legte er auf Korrespondentenberichte aus verschiedenen Ländern, die die internationale Spannweite der „neuen Kunst“ dokumentieren sollten. Im Laufe der Vorbereitungsarbeiten erhielt er von Daniel-Henry Kahnweiler aus Paris Fotos von Arbeiten Pablo Picassos, die Kandinsky zu einer Auseinandersetzung herausforderten. An Marc schrieb er:

„Dieses Zersetzen ist sehr interessant. In meinen Augen aber freilich ‚falsch‘. Er freut mich aber riesig, als Zeichen des immensen Dranges zum Nichtmateriallen!“

Einen Schwerpunkt des Almanachs bildeten ethnografische und volkstümliche Objekte sowie Kinder- und Laienmalerei. Kandinsky und Marc empfanden sie als verwandte Kunstäußerungen, deren „innerer Klang“ mit ihren eigenen Werken übereinstimmte.

Die Zusammenarbeit mit dem Verleger des Almanachs, Reinhard Piper, gestaltete sich nicht problemlos, da künstlerische und geschäftliche Interessen aufeinander trafen. So lehnte Piper ab, das finanzielle Risiko für den Almanach zu übernehmen und veranlasste die Künstler, sich auf die Suche nach einem Mäzen zu machen. Sie fanden ihn in Bernhard Köhler, dem Onkel von August Mackes Frau Elisabeth, der bereits Macke unterstützt hatte und zahlreiche Bilder des „Blauen Reiter“ für seine private Sammlung erwarb. Im Gegenzug legten die Künstler den Verkaufspreis für die billigste Ausgabe des Almanachs, die „Allgemeine Ausgabe, geheftet“, ohne Rücksprache mit dem Verleger und ohne Berücksichtigung der Herstellungskosten auf den geringen Preis von zehn Mark fest, um möglichst viele Exemplare abzusetzen und eine weite Verbreitung des Buches zu ermöglichen. Außer Marc und Kandinsky beteiligte sich im Oktober 1911 auch August Macke an den Vorbereitungen des Almanachs, Nachdem Ideen für einen Beitrag zum Almanach durchgespielt hatte, u. a. „‘Die Rechtfertigung der Bauernkunst‘ oder „Temperament in Töpferornamenten“, „Das Künstlerische bei den afrikanischen Geheimbündlern“, […], ‚Die nackte Tatsache in der Kunst‘ etc.“, arbeitete er schließlich über ethnographische Objekte und schrieb dazu einen poetischen Test mit dem Titel „Drei Masken“.

In die Vorbereitungsphase des Almanachs fiel auch das erste Kennenlernen zwischen Kandinsky und dem um 13 Jahre jüngeren Paul Klee. Beide hatten zwar bereits im Jahr 1900 an der Münchner Akademie bei Franz von Stuck studiert, zu einer persönlichen Bekanntschaft aber war es dabei nicht gekommen: „Da sitzt schon was in der Seele“, schrieb Kandinsky nach dem Zusammentreffen an Franz Marc, und Klee notierte in sein Tagebuch: „Ich habe bei persönlicher Bekanntschaft ein gewisses tieferes Vertrauen zu ihm gefasst. Er ist wer und hat einen ausnehmend schönen, klaren Kopf.“ In der Folge wurde Klee in den Almanach aufgenommen, wenngleich nur mit einer kleinen Abbildung. In der „Schwarz-Weiß“-Ausstellung war er dafür mit 17 Zeichnungen vertreten.

Der Almanach wurde mit einem vier Seiten starken Subskriptionsprospekt, und einem zweiten Werbezettel angekündigt, die beide im Frühjahr 1912 erschienen. Am 11. Mai erhielt Marc die ersten Exemplare des Buches. Noch am selben Tag versandte er sechs Freiexemplare, und Kandinsky stellte eine Liste derjenigen Zeitschriftenredaktionen zusammen, die ein Rezensionsexemplar erhalten sollten. Während Marc sich voller Sendungsbewusstsein die Auswirkungen des Almanachs ausmalte – „Viele Stille in Lande und junge Kräfte werden uns heimlich Dank wissen, […] und die Welt nach ihm prüfen“ – und bereits intensiv über einen zweiten Band nachdachte, bat Kandinsky um Ruhe und Bedenkzeit.

Weitere Aktivitäten (1912–1914)

Im weiteren Verlauf des Jahres 1912 und in den beiden folgenden Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es zahlreiche neue Unternehmungen und Pläne, die jedoch nicht alle in die Tat umgesetzt werden konnten. Vor allem Kandinsky war ernüchtert über die Ergebnisse ihrer Aktivitäten. In dem Gefühl, „dass die Zeit für den ‚Blauen Reiter‘ noch nicht reif ist“, stellte er seinen organisatorischen Einsatz zurück und konzentrierte sich vorrangig auf seine Malerei.

Im Sommer 1912 nahmen die Künstler des „Blauen Reiter“ an der „Sonderbundausstellung“ in Köln teil, der wichtigsten Überblicksausstellung der die europäische Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg, Da jedoch nicht alle von ihnen eingesandten Bilder gehängt wurden, organisierte Mare voller Empörung in der Berliner Galerie „Sturm“ eine Refüsierten-Ausstellung unter dem Titel „Zurückgestellte Bilder des Sonderbundes Cöln“ (16. Juni bis Ende Juli). Gegen Ende des Jahres versuchte Marc – allerdings ohne Erfolg – einen Verleger für Klees Illustrationen zu Voltaires „Candide“ zu finden.

 1913 beteiligten sich Marc und Kandinsky an der Vorbereitung von Herwarth Waldens „Erstem Deutschen Herbstsalon“ (20.9.–1.12.1913). Außerdem begannen sie mit den Vorbereitungen für den zweiten Band des „Blauer Reiter“-Almanachs, der jedoch nicht zustande kam. Stattdessen wurde 1914 eine zweite Auflage des ersten Bandes gedruckt. Auch Marcs Plan, Illustrationen zur  Bibel herauszugeben, scheiterte. Obwohl Kandinsky, Klee, Kubin, Erich Heckel und Oskar Kokoschka ihre Mitarbeit zugesagt hatten, kam das Projekt über Vorarbeiten nicht hinaus. Nur Kubin stellte seine Illustrationen zum Buch Daniel fertig. Auch sie wurden erst 1918 publiziert.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs brach die Künstlergemeinschaft auseinander. Kandinsky floh über die Schweiz zurück nach Russland. Gabriele Münter ging nach Skandinavien. Macke wurde bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch eingezogen und fiel am 26. September 1914 in der Champagne. Marc meldete sich als Kriegsfreiwilliger und wurde sofort im Frankreichfeldzug eingesetzt. 1916 wurde er bei Verdun von einem Granatsplitter getroffen und verstarb am 4. März.

Der „Blaue Reiter“ war damit beendet und seine Wirkungsgeschichte setzte ein. In den 1920er Jahren geriet die Künstlervereinigung in Vergessenheit, bevor sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter veränderten historischen Bedingungen als Meilenstein der Kunstgeschichte wiederentdeckt wurde.

Literatur zu „Der Blaue Reiter“

  • Der Blaue Reiter, hg. v. Christine Hopfengart für die Kunsthalle Bremen (Ausst.-kat. Kunsthalle Bremen, 25.3.–12.6.2000), Köln 2000.

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