München 1912: Die Ausstellung „Schwarz-Weiss“ der Künstlervereinigung „Blauer Reiter“ erregt die Gemüter der Bayern. Vor der Buch- und Kunsthandlung von Hans Goltz sammeln sich immer wieder Menschentrauben, um die moderne Kunst in den Auslagen mit wütenden Protesten und Beschimpfungen zu kommentieren. Doch was forderte die Bewohner der wichtigsten Kunststadt Deutschlands derart heraus?
315 Arbeiten auf Papier waren zu sehen, zusammengetragen von Wassily Kandinsky (1866-1944) und Franz Marc (1880-1916), darunter Blätter von Paul Klee, Gabriele Münter, Alfred Kubin, August Macke, von Künstlern der inzwischen nach Berlin übersiedelten Brücke und dem Züricher Modernen Bund, von Pablo Picasso und Georges Braque, von Natalja Gontscharowa und Kasimir Malewitsch. Obwohl die Ausstellung höchst unpopulär war, wurde sie als zweite Station von der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums in Köln übernommen.
Österreich | Wien: Albertina, Propter Homines Halle
4.2. – 15.5.2011
Empfehlungen
Heute gelten die beiden Ausstellungen des Blauen Reiter in München - die erste fand vom 18. Dezember 1911 bis zum 3. Jänner 1912 statt, die zweite vom 12. Februar bis zum 18. März 1912 - als wichtige Wegmarken der Moderne nicht nur in Deutschland. Sie stellten einige der maßgeblichsten Künstler Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz vor. Für den Umschlag entwarf Kandinsky 11 Aquarelle mit der Darstellung des hl. Georg als Künder einer neuen Kunst, in der zwischen Realismus und Abstraktion alles erlaubt sei. Der von Wassily Kandinsky und Franz Marc herausgegebene „Almanach“ ist aus vielerlei Hinsicht eine bahnbrechende Publikation: Er diente als ein „Dokument unserer heutigen Kunst“ (Wassily Kandinsky an Franz Marc in einem Brief vom 2. Februar 1912). Die beiden Redakteure druckten Abbildungen von moderner Kunst neben außereuropäischen Werken, von kubistischen und primitivistischen Gemälden - wie jene von Henri Rousseau und Natalja Gontscharowa - neben Kinderzeichnungen ab. Darüber hinaus wurden die Teilnehmer der ersten Ausstellung eingeladen, ihre „Einstellung zu Kunst“ zu erklären, denn „die direkte Ansprache durch den Künstler sorgt dafür, dass das Publikum den Weg zum Echten mit viel größerer Sicherheit findet.“ In der Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst“ sollte Kandinsky seinen Wunsch nach der Akzeptanz einer übernationalen, aus dem Inneren des Künstlers geschöpfte Kunst noch präzisieren, als er formulierte:
„Verstehen ist die Erziehung des Zuschauers und ein Hinführen dessen zu einer Kunst, die zukunftsträchtig und nicht kastriert ist.“ (Wassily Kandinsky)
Die Ausstellung in der Albertina, gemeinsam organisiert mit dem Lenbachhaus in München, unterstreicht erstmals die Bedeutung der Grafik für die Künstler des Blauen Reiter. Die Wiener Schau verbindet die umfangreichen Bestände des Münchener Lenbachhauses, die auf eine Schenkung Gabriele Münters anlässlich ihres 80. Geburtstags 1957 zurückgeht, mit etwa 120 Arbeiten aus der Albertina. Sie ermöglichen, durch die Intimität der Zeichnungen und der farbenfrohen Aquarelle den künstlerischen Konzepten der Mitglieder des „Blauen Reiter“ nachzuspüren. Es verwundert nicht, dass die Ausstellung mit zwei Räumen Kandinsky-Blättern beginnt, erfüllen sie doch die Erwartungshaltung des Publikums an die farbenfrohe Welt des Blauen Reiter am besten.
Umso mehr erstaunt, dass danach zwei weitere Räume dem Grafiker Paul Klee gewidmet werden. Da dessen düster-symbolistische Bildsprache erst 1914 durch die Entdeckung der Farbe abgemildert wurde, dominieren zartlinige Zeichnungen, deren Entstehung weit über die Existenz des Blauen Reiter hinausreichen. Hier wird bereits die Heterogenität des Blauen Reiter spürbar: Kein Gruppenstil, sondern die gemeinsamen Überzeugungen einten die Mitglieder in zwei Ausstellungen und einem Almanach.
Dass im folgenden Raum Franz Marc, August Macke und Heinrich Campendonk einander gegenübergestellt werden, scheint mit der Farbigkeit ihrer Bilder zu tun zu haben, denn im folgenden Raum trifft man erneut auf nächtliche Schreckgespenster und furchterregende Szenerien von Alfred Kubin. Gabriele Münter, der das Lenbachhaus seine Sammlung verdankt und die für Wassily Kandinsky eine kongeniale Partnerin war, wird hingegen in einem m. E. zu kleinen Raum viel zu wenig Platz eingeräumt. Den Abschluss des Rundgangs bilden die Werke von Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin und Lyonel Feininger.
Damit zeigt die Ausstellung der Albertina die wichtigsten Mitstreiter des Blauen Reiter, zelebriert Wassily Kandinsky als das Haupt der Gruppe und Klee als deren zweitwichtigsten Künstler, wechselt zwischen „Farbräumen“ und „Schwarz-Weiß“-Zimmern und konzentriert sich auf Altbekanntes. Die Position von Klee als Nummer Zwei darf angezweifelt werden, war der Grafiker doch bis zur Tunis-Reise noch auf der Suche nach seinem Stil. Viel bedeutender in Organisation von Almanach und Ausstellungen muss Franz Marc beurteilt werden! Platz für neue Entdeckungen – wie beispielsweise die so wichtigen Künstlerinnen des Blauen Reiter – bleibt dabei kaum.