Louise Bourgeois' Cells: Neun weiße Stufen führen ins Nichts, umgeben von dunklen Strukturen, die abschirmen und flankieren. Mit „No escape“ (1989, Helsinki, The Museum of Contemporary Art Kiasma, Sammlung Cauri) führt Kuratorin Julienne Lorz im Haus der Kunst in München in das komplexe Werk von Louise Bourgeois (1911–2010) ein. Die Treppe leitet den Blick nach oben und gleichermaßen ins Nichts. Gerahmt wird sie von zwei wie Pylonen aufgerichteten, dunkel gebeizten Holzblöcken sowie einer Art Paravent aus Metall, der die weiße Struktur hinten umfasst. Die eingesetzten Formen sind teils altbewährt, teils archetypisch. Stufen sind – allgemein gesprochen – Symbole von Erhebung wie Selbständigkeit. Das Kind, das alleine die Treppe bewältigt, ist auf dem Weg aus dem Haus. Das wussten nicht erst die Eltern der jungen Maria, die der Legende nach als Dreijährige die fünfzehn Stufen zum Tempel völlig alleine erklomm.
Deutschland | München: Haus der Kunst
20.2. - 2.8.2015
Dieser Verheißung wird im Werk von Bourgeois, der Amerikanerin mit französischen Wurzeln, allerdings das Dunkle zur Seite gestellt. Keine Erlösung ohne Hölle, keines ihrer Werke ohne Erinnerungen und Schmerz. Bezeichnend für die Künstlerin, dass der Titel die mögliche Selbstermächtigung gleich wieder zurücknimmt: „No escape“ – kein Entrinnen. Das Thema Schmerz – so ein Zitat aus einer Zelle – wäre ihr „Geschäft“, dessen war sich die Künstlerin sicher.
„No escape“ ist ein Vorläufer zu den ab 1986 entstehenden „Zellen“. 1980 hatte sich die Künstlerin ihr Atelier in einer stillgelegten Näherei in Brooklyn eingerichtet. Dass sie sich gerade in einer Näherei niederließ, ist wohl kein Zufall, begann Bourgeois doch Kreativität und Fingerfertigkeiten als Restauratorin von Tapisserien in der Werkstatt ihres patriarchalen Vaters zu entwickeln. Die Mutter sah Louise Bourgeois zeitlebens als „die Spinnerin“, verkörpert durch die antike Figur der Arachne, gefangen in ihrem kranken Körper und verdammt zu ihrer Profession.
Die künstlerische Karriere von Louise Bourgeois setzte nach einem Mathematikstudium in den 1940er Jahren ein, als sie vornehmlich in Zeichnung, Malerei und Druckgrafik arbeitete. In frühen druckgrafischen Arbeiten tauchen bereits Räume und architektonische Versetzstück auf, wie in „He Disappeared into Complete Silence“ (1947). Auch wenn sie häufig in die Nähe des Surrealismus gerückt wurde, sprach sich Bourgeois immer gegen eine Reduktion ihrer Kunst darauf aus. Im Jahr 1949 stellte sie erstmals Skulpturen aus der Serie „Personages“ (1947–1950) aus. Die stelenartigen, schlanken und vor allem stark abstrahierten Skulpturen haben formal eine entfernte Verwandtschaft mit Constantin Brancusis Werken, vor allem dessen wiederkehrenden Vogel–Motiv. Ohne Sockel und unterlebensgroß stehen Bourgeois‘ Skulpturen am Boden. Rhythmus, der Gegensatz zwischen Innen und Außen, die Reduktion auf ein Minimum an Andeutung, das Prinzip des Wachsens, aufgeladene, scheinbar erklärende Titel – all das verbindet Bourgeois‘ Frühwerk mit dem des aus Rumänien stammenden Franzosen. Einzig seine Begeisterung für perfekt glatte Oberflächen scheint sie nicht zu teilen, weisen die „Personages“ eine deutlich vielfältigere Behandlung auf als Brancusis Arbeiten.
Erst im Jahr 1974 gelang Louise Bourgeoise mit „The Destruction of the Father“ (Sammlung The Easton Foundation) der „Vatermord“ im Freud’schen Sinn. Die rot beleuchtete Installation besteht aus blasenförmigen Elementen, Follikel, die rund um einen Tisch und/oder eine Bahre angeordnet sind. Die bühnenartige Inszenierung wirkt wie ein Bild von der Zerstörung des tyrannischen Patriarchen und der zeremoniellen Auslöschung seines zermalmten Körpers. Die Tochter Louise war über die jahrelange Untreue ihres Vaters so empört, dass sie ihre Gefühle nur über einen symbolisch kannibalischen Akt, der gleichzeitig die Einverleibung des Vaters bedeutete, Herr werden konnte.
„Articuated Lair“ (1986, New York, The Museum of Modern Art) stellte für Louise Bourgeois ihre erste Zelle dar, auch wenn sie den Begriff der Zelle erst ab 1991 als Titel ihrer skulpturalen Arbeiten und Installationen einsetzte. Eine schmale Tür führt ins Innere dieser runden Raumschöpfung, deren Wand in engem Zick–zack wie von einem endlosen Paravent gebildet wird. Weiß, Schwarz und Himmelsblau wechseln einander innen als Wandfarben ab, während der erste Eindruck von einem abweisenden Schwarz an der Außenseite geprägt wird. Von Schnüren sind in den dreiecksförmigen Ausbuchtungen skulpturale Körper abgehängt. Wie Blasen, Tränen, an Organisches gemahnende Formen und Spindeln wirken die tiefschwarzen Objekte. Die Symmetrie ihrer Hängung wird nur selten durchbrochen. Ein niedriger Stuhl im Zentrum der Installation gibt den Betrachter_innen–Standpunkt vor. Man fühlt sich klein, umgeben von mächtigen, rätselhaften Strukturen. Ob sich hier das Gefühl von Schutz oder Bedrängnis einstellt, hängt wohl stark von eigenen frühkindlichen Erfahrungen ab. Louise Bourgeois stellte Räume wie auch das Paar „Red Room (Child)“ und „Red Room (Parents)“1 (1994) als Werkzeuge für Rückführungen zur Verfügung. Zurück in die Vergangenheit, zurück in die Kindheit!
Louise Bourgeois präsentierte „Cell I“ bis „Cell VI“ zum ersten Mal auf der Carnegie International in Pittsburgh. Für sie symbolisierten die Zellen physischen, emotionalen und psychologischen, aber auch mentalen und intellektuellen Schmerz. Die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist waren für die Künstlerin mit Wurzeln im Surrealismus von höchster Bedeutung und die Produktion von Kunst eine „Garantie geistiger Gesundheit“, so auf der Zelle „Precious Liquids“2 (1992, Paris, Centre Pompidou) zu lesen. Das Haus der Kunst in München versammelt alle sechs „Cells“ aus dem Jahr 1991 und ergänzt sie durch „Cell VII“3 (1998, Privatsammlung). Im Vergleich zu „Articuated Lair“ sind sie kleiner und wirken dadurch intimer. Bourgeois verwendete alte Türen, Armaturen, Betten, Fenster, um ihre häuslichen Strukturen zu definieren. In ihnen finden sich u. a. enigmatische Bälle (Man denke an Odilon Redon, René Magritte oder Joseph Cornell!), Betten mit bestickter Bettwäsche, von Bourgeois ungeliebte Spiegel, usw. Bälle und Kugeln tauchen in Bourgeois‘ Werk häufig und meist zu zweien auf. Ob sich dahinter die antike Idee des Kugelmenschen verbirgt, ob sie als abstrakte Stellvertreter für Menschen zu lesen sind, oder ob sie auf Hoden verweisen könnten, wie ein Blick auf „Filette (Sweeter Version)“ (1968–1999, Sammlung The Easton Foundation) vermuten lässt, darf offen gelassen werden. Weiße, marmorne Gliedmaßen stehen als Partialobjekte für den gesamten Menschen. Die Schönheit des edlen Materials, sein Glitzern steht im intensiven Gegensatz zur Ärmlichkeit der Behausungen. Ähnlich widersprüchlich verhält es sich auch mit der Perfektion der Bearbeitung dieser Skulpturen, die ihre Wurzeln in Rodins weich fließender Ästhetik haben, und der ruinösen Erhaltung der weiterverwendeten Architekturteile.
Manche der Zellen sind hermetisch geschlossen, einige jedoch wie Schneckenhäuser aufgebaut und dadurch bis zu einem gewissen Moment betretbar. Bourgeois macht die Grenze zwischen Innen und Außen zwar teilweise durchgängig, trennt dadurch aber die Welten umso mehr. Die Zellen geben ihre Schutzfunktion für das Private auf und verwandeln sich in Präsentationsflächen für Geheimnisse. Dass man sie nur bis zu einem gewissen Punkt betreten darf und dadurch immer Ecken uneinsehbar, verstärkt die Neugier. Betrachter_innen werden automatisch zu Voyeur_innen, die Schaulust wird nie ganz befriedigt.
Egal ob sie aus alten Türen, engmaschigem Gitterdraht oder massivem Metall gemacht sind, die Zellen wecken auch die Assoziation von Gefängnissen. Objekte verwandeln die höhlenartigen Räume in emotionsgeladene Ansammlungen von Geschichten, meist Reflexionen über die Gesellschaft auf Basis der Biografie der Künstlerin. Spiegel gehören zu den häufig verwendeten Symbolen in Bourgeois‘ Werk, denn seit der Antike ist mit dem Spiegelbild die Idee von Reinheit und Weisheit verbunden. Dem Angeklagten in „Culprit Number Two“ (1998) hält sie genauso Spiegel entgegen wie dem zur Arch-of-Hysteria-Position verkrümmten Männerkörper in „In and Out“ (1995, Sammlung The Easton Foundation). Über Spiegelungen werden manche uneinsehbare Räume dennoch für verborgene Blicke zugänglich, und im Spätwerk „Cell XV (For Turner)“ (2000) ermöglicht ein gekippter Spiegel an der Decke den ewig sprudelnden Brunnen völlig verzerrt, wie über der Arbeit schwebend, zu entdecken. Die Unbetretbarkeit und das Wissen um die biografische Verortung der Zellen lösen – zumindest bei mir – ein Gefühl aus, das ich „heiligen Schauer“ bezeichnen möchte. Die Zellen bleiben, auch wenn sie auch der Öffentlichkeit vorgestellt werden, in ihrem Kern tabu, heilig, unberührbar, obwohl und weil in ihnen wird das Unsagbare ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird.
„Aux Vieilles Tapisseries“ steht auf einem Schild zu lesen, dass in „Cell (Choisy)“4 (1990–1993) eingebaut ist. In dieser an einen Käfig und ein Glashaus gleichermaßen erinnernde Zelle befinden sich ein marmornes Modell von Louise Bourgeois‘ Elternhauses in Choisy-le-Roi im Großraum Paris und eine Guillotine mit hochgezogenem Blatt. Für fünf Jahre ihrer Kindheit hatte Bourgeois an diesem Ort verbracht, die Eltern betrieben dort ihre Reparaturwerkstatt für Tapisserien. Wie ein drohender Schatten schwebt das Mordwerkzeug über dieser Erinnerung an das schon lange abgerissene Gebäude. Die Bildhauerin hatte seine Existenz damit erklärt, dass die Vergangenheit durch die Gegenwart abgeschnitten worden wäre. Auch wenn diese Textstelle nach Trauerarbeit klingt, so lassen andere Berichte vermuten, dass Bourgeois in diesem Haus zwar glückliche aber auch bedrohliche Erlebnisse hatte. So erinnert der „Sockel“ des Gebäudes an Tischbeine einer Nähmaschine, die Basis des Familieneinkommens. Messer und Scheren dienten als Werkzeuge bei der Ausbesserung der Gewebe. Glück, Schmerz und Bedrohung werden als drei Seiten eines Erinnerungsortes aufgefasst.
Arachnophobiker sollten keine Bourgeois-Ausstellungen besuchen, so auch diese nicht! „Spider“ (1997, Sammlung The Easton Foundation) – eine riesige Spinne hat die Zelle gleichsam unter ihren Körper geschoben. Das Insekt mit den langen, dolchartigen Füßen ruht darauf und scheint es zu beschützen. Ein leerer Stuhl, Platz ihrer verstorbenen Mutter, und Tapisserie-Fragmente bestimmen den ersten Eindruck der durch die Verwendung von Gitter wie ein Gefängnis aussehenden Kobel. Am Eingang positionierte Louise Bourgeois ein Eulen-Fragment, das wohl auf die Eigenschaften verweist, die Bourgeois ihrer Mutter zugeschrieben hat. „Die Spinne ist eine Ode an meine Mutter. Ihre Beschäftigung waren Tapisserien. Meine Mutter war meine beste Freundin. Sie war reflektiert, klug, geduldig, besänftigend, vernünftig, anmutig, feinsinnig, unentbehrlich, ordentlich und nützlich wie eine Spinne.“ Dass sie ihre eigene Mutter zwischen Spinne und Eule ansiedelte, zeigt Hochachtung und analytische Fähigkeit. Ein genauerer Blick offenbart aber noch viel mehr: einen Schlüssel, der äußerst hoch hängt, mehrere Fragmente von Knochen (v. a. Wirbeln), weitere Tapisserie–Fragmente und eine schwarze Garnspule, Porträtminiaturen, einen Parfumflakon, drei Schröpfkugeln und hoch oben im Bauch der Spinne gläserne Eier, die besonders beschützt werden. Das Bild der Mutter, das Bourgeoise in ihrer Beschreibung so schön zeichnet, wird in dieser Assemblage mit den Aspekten von Weiblichkeit und Krankheit ambivalent ergänzt.
Ein Jahr später, 1998, verband Louise Bourgeois die Referenzen dieser beiden Zellen zu „Cell VII“. Das Modell des Hauses kombiniert sie mit Kleidungsstücken ihrer Mutter und Knochen, eine kleinen Spinne am Boden, auf einem Kinderstuhl das Modell einer Wendeltreppe, auf deren obersten Absatz ein Bett steht. Darin liegt ein wächserner Klumpen, der wiederum von Nadeln durchbohrt wird. Die Fäden verbinden das ungeformte und noch formbare Stück Wachs mit einigen Kleidern. Die Spinne sieht aus der Entfernung zu, was im Bett geschieht… So wie es Bourgeois in ihrer autobiografischen Schrift festhielt: Ihre Mutter tolerierte nicht nur die erotischen Eskapaden ihres Mannes, sondern nutzte wohl ihre Tochter, um ihm nachzuspionieren.
Der sprichwörtliche „kleine Tod“ des Mannes während der Ejakulation, vor allem aber mögliche eigene Erfahrungen mit emotionalem, vielleicht aber auch körperlichem Missbrauch als Jugendliche, verband Louise Bourgeois in „Passage Dangereux“5 (1997) mit ihrer Kindheitsgeschichte. Das Leben erscheint hier als Abfolge von metaphorischen Räumen, gefüllt mit gefundenen und mit Bedeutung aufgeladenen Objekten sowie selbst produzierten Werken. Wenn auch die Kammern einsehbar sind, so verwendete Bourgeois als Symbol für ihren Körper, ihr Selbst ein engmaschiges Gitternetz. Immer wieder begegnet man in Bourgeois‘ Werken dem Kreislauf von Leben und Tod. Hier wird er noch durch die Gleichsetzung von Sexualität und Tod ergänzt. Das Bett als Ort von Schlaf, Krankheit, Sexualität und Tod ist an sich schon ambivalent besetzt (→ Schlaflos. Das Bett). Bourgeois reduzierte die Darstellung von Sexualität auf die Angabe der Beinpaare in Missionarsstellung. Die über der Liegestatt schwebenden Stühle – eine Erinnerung an die Sammelleidenschaft ihres Vaters (!) – nehmen den Platz von Zuschauer_innen ein. So auch der leere Armlehnstuhl zu Füßen des Betts, über dem eine Beinprothese hängt. Er erinnert an die Mutter. Gleichzeitig ließe sich die Sessel–Couch–Kombination als untypische Anordnung für eine psychotherapeutische Sitzung interpretieren.
Frau–Sein wurde von Louise Bourgeois mit Häuslichkeit und Natur in Verbindung gebracht. Sie sah auf ihr eigenes Geschlecht wie es die männliche Sichtweise seit dem 19. Jahrhundert bevorzugte: Frauen, ans Haus gebunden, verschmelzen körperlich mit diesem und sind dadurch in ihren Bewegungen gehemmt. Frauen als vegetative Wesen, sind gleichsam Verkörperungen der Natur. So wachsen der einbeinigen Figur von „Topiary IV“6 (1999) anstelle von Kopf und Armen Äste mit wunderbar blauen Früchten. Die Metamorphose von Natur und Mensch ist ein häufig gebrauchter Topos der surrealistischen Kunst. Man denke beispielsweise an Dora Maars bekannte Fotocollage einer Hand, die aus einer Muschel wächst, oder Meret Oppenheims „Steinfrau“, einer halbversteinerten Meerjungfrau. Dass eine Künstlerin, die das Frau–Sein als Belastung empfand, Mutterschaft nicht nur thematisierte sondern problematisierte („Fragile Godess“), kann als logische Konsequenz interpretiert werden. Die immer wieder auftauchenden, sich berührenden Hände hingegen haben jenen sehnsuchtsvollen Impetus, den Bourgeois in der Beziehung ihrer Eltern miteinander wie auch der Eltern–Kind–Beziehung wohl stark vermisste („Cell IX“, 1999, „Cell (You Better Grow Up)“, 1993).
Der dritte Raum bringt „Cell (The Last Climb)“ (2008, Privatsammlung) mit dem letzten Zeichnungszyklus, „I give everything away“ (2010), von Louise Bourgeois zusammen. Beide Werke sind – wie auch schon die Zellen davor – mehr oder weniger versteckte Selbstbildnisse der nun fast einhundertjährigen Künstlerin. Die Zelle hat nun eine einladend geöffnete Tür, eine Wendeltreppe führt über die räumliche Begrenzung ins Nichts weiter. Blaue Plastikkugeln werden von unten nach oben immer größer, Garnspulen an den Wänden sind mit einem großen Pfropfen in der Mitte verbunden. Die Künstlerin scheint nach Jahrzehnten der Arbeit an ihrer Geschichte, Frieden mit sich selbst und ihrer Umwelt geschlossen zu haben - obwohl sie in Interviews sich immer widerspenstig gab (→ Donald Kuspit: Ein Gespräch mit Louise Bourgeois). Auf den großformatigen Zeichnungen berichtete sie neben abstrahierenden Selbstbildnissen, dass sie alles weggab, sich von allem distanzierte, dass sie das wäre, was sie am meisten liebte. Das erste Blatt zeigt eine ganzfigurige Darstellung eines jungen Frauenkörpers, dessen langes Haar und dessen Arme sich wie Spinnenfinger entwickeln. Die geschlossenen Augen und das leichte Lächeln lassen die junge Frau friedlich aussehen. Eine Identifikation ihrer selbst mit ihrer Mutter erscheint wahrscheinlich. Die Farbe Rot gemahnt an Blut, ist Symbol für Leben und Tod gleichermaßen. Louise Bourgeois blieb ihrer Metaphorik bis zu ihrem Lebensende treu!
Am 25. Dezember 1911 wurde Louise Bourgeois als Tochter des Landschaftsarchitekten Louis Bourgeois und dessen Frau Joséphine Fauriaux. Ihre Schwester Henriette Marie Louise war schon 1904 geboren worden.
1912–1917 Die Familie mietete ein Haus in Choisy–le–Roi, in der Umgebung von Paris.
1913 Geburt des Bruders Pierre Joseph Alexandre (24.1.)
1915 Bourgeois‘ Vater Louis wurde im Ersten Weltkrieg verwundet und im Hospital von Chartres gepflegt.
1919 Bourgeois‘ Mutter erkrankte an der Spanischen Grippe. Louise kümmerte sich um sie und verbrachte die Winter mit ihr in Südfrankreich.
1922 Sadie Gordon Richmond wurde angestellt, um den Kindern Englisch beizubringen. Sie wurde die Geliebte des Vaters und lebte mit der Familie bis 1932.
1923 Louise Bourgeois wurde aufgrund ihres Zeichentalents gebeten, in der Teppichweberei auszuhelfen. Sie wurde Expertin für Beine und Füße. Erstes Tagebuch.
1925 Besuch der Ausstellung „Le Salon des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“, wo sie erstmals den Art Deco Stil sowie Arbeiten von Friedrich Kiesler und Vladimir Tatlin kennenlernte.
1929 Aufnahme in die Zeichnungsabteilung der École Nationale d’Art Décoratif.
1932 Kurzes Studium an der Sorbonne: Integralrechnung und Geometrie. Bakkalaureat in Philosophie von der Universität von Paris mit einer Dissertation über Blaise Pascal und Emmanuel Kant. Reise nach Skandinavien und Russland. Tod der Mutter (September).
1933–1938 Kunststudium an der École des Beaux–Arts in Paris sowie Künstlerateliers am Montmartre und am Montparnasse bei Paul Colin, Roger Bissière, Othon Friez, Marcel Gromaire, André Lhote und Fernand Léger.
1936 Erste eigene Wohnung in dem Haus, in dem André Breton seine Galerie Gradiva führte und Werke der Surrealist_innen ausstellte. Das Théatre de l’Académie Raymond Duncan und ein Prothesenmacher sind ebenfalls in diesem Haus eingemietet. Erste Ausstellungsbeteiligung in der Galerie de Paris.
1937 Kunstgeschichtestudium an der L’École du Louvre und Arbeit als Dozentin (Kunstvermittlerin) im Musée du Louvre.
1938 Ausstellungsbeteiligung in der Galerie Jean Dufresse. Eröffnung ihrer eigenen Kunstgalerie, wo Louise Bourgeois mit Drucken und Gemälden von Eugène Delacroix, Odion Redon, Suzanne Valadon, Henri Matisse und Pierre Bonnard handelte. Hier traf sie auch den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater. Im September Heirat mit Goldwater und Umzug nach New York.
1939 Adoption des dreijährigen Waisen Michel Olivier. Bourgeois schrieb sich an der Art Students League in New York ein. Sie begann Drucke anzufertigen und mit einer Beteiligung im Brooklyn Museum auszustellen. Erste Gemälde und Zeichnungen in den USA. Da Goldwater ein bedeutender Kunsthistoriker und Herausgeber war, traf Bourgeois viele wichtige Künstler, Galeristen, Sammler_innen ihrer Zeit.
1940 Geburt ihres Sohnes Jean–Louis Bourgeois.
1941 Geburt des Sohnes Alain Matthew Clement Bourgeois. Experimente mit lebensgroßen, hölzernen Skulpturen auf dem Dach ihres Wohnhauses in Manhattan, New York.
1943 Teilnahme an einer Ausstellung im Metropolitan Museum of Art (MET), um den Krieg zu unterstützen. Gemeinsam mit André Masson und Alexander Calder erhielt sie für ihre Teilnahme an „The Arts in Therapy: A Competition and Exhibition“ im MET eine ehrenvolle Erwähnung.
1945 Erste Einzelausstellung in der Bertha Schaefer Gallery in New York, wo sie zwölf Gemälde präsentierte. Teilnahme an Gruppenausstellungen der Abstrakten Expressionisten (Motherwell, Pollock, Rothko, de Kooning). Gemeinsam mit Marcel Duchamp kuratierte sie die Ausstellung „Documents, France 1940–1944: Art–Literature–Press of the French Underground“ in der Norlyst Gallery. Teilnahme an der Gruppenausstellung „The Women“ in Peggy Guggenheims Art of This Century Gallery. Erste Ausstellungsbeteiligung im Whitney Museum of American Art (bis 1952 jährlich).
1946 Im Atelier 17 von Stanley William Hayter machte sie Drucke und traf Yves Tanguy, Le Corbusier und Joan Miró.
1947 Zweite Einzelausstellung in der Norlyst Gallery.
1949 Erste Einzelausstellung als Bildhauerin in der Peridot Gallery in New York.
1950 Unterschrieb eine Petition zugunsten von 18 Malern, die als „the Irascibles“ bekannt geworden waren – darunter Newman, Reinhardt, Pollock, Rothko, Willem de Kooning.
1951 Tod des Vaters Louis. Erster Ankauf eines Museums durch Alfred H. Barr für das Museum of Modern Art, New York.
1952 Bourgeois entwarf die Bühnenbilder für „The Bridegroom of the Moon“ von Erick Hawkins (Mann von Martha Graham).
1955 Erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft.
1960 Tod ihres Bruders Pierre.
1964 Erste Einzelausstellung seit elf Jahren mit neuen Werken in Gips und Latex. Im Art International erscheint ein Artikel von Daniel Robbins über die Entwicklung von Louise Bourgeois‘ Kunst, ihren Kontext, ihre Materialverwendung.
1967–1968 Erste Reise nach Pietrasanta (Italien), um in Marmor und Bronze zu arbeiten. Bis 1972 kehrte sie regelmäßig wieder. Bourgeois begann sich aktiv für politische und feministische Veranstaltungen zu interessieren. Ihre Arbeiten wurden expliziter sexuell konnotiert. Während der 1970er Jahre nahm Bourgeois an Demonstrationen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und Ausstellungen, die mit Feminismus zu tun hatten, teil.
1973 Künstlerstipendium vom National Endowment fort he Arts. Tod ihres Mannes.
1974 Neben Einzelausstellungen lehrte sie an verschiedenen Institutionen, darunter die School of Visual Arts in New York City (bis 1977), die Columbia University, Cooper Union, New York Studio School und die Yale University.
1977 Ehrendoktorat von der Yale University.
1978 Erste Skulptur für den öffentlichen Raum. Beginn der institutionellen Anerkennung ihrer Leistungen in den USA:
1980 Kauf eines Ateliers in Brooklyn, das ihr erlaubte, in noch nie dagewesenen Größen zu arbeiten. Tod ihrer älteren Schwester Henriette.
1981 Kauf eines verlassenen Hauses in Staten Island für ihren Sohn Michael, das dieser aber nie bewohnte. Es wurde in die Skulptur „Maison Vide“ verwandelt. In Carrara (Italien) entstanden zwölf neue Arbeiten aus Marmor.
1982 Erste Retrospektive einer weiblichen Künstlerin im MoMA ist Louise Bourgeois gewidmet! Im Dezember–Heft von Artforum veröffentlichte sie einen autobiografischen Text über ihre Familie.
1983 Zum Mitglied der American Academy und dem Institute of Arts and Letters in NYC gewählt. Ehrendoktorat vom Massachusetts College of Art in Boston, Offizier der Ehrenlegion.
1985 Ausstellungen bei Maeght–Lelong in Paris und der Serpentine Gallery in London.
1988 In Carrara arbeitete sie mit rosa Marmor.
1989 Bourgeois begann mit großen Installationen zu arbeiten, die Vorläufer zu ihren „Zellen“ wurden. Erste europäische Retrospektive im Frankfurter Kunstverein, die weiter nach München, Lyon, Barcelona, Bern und Otterloo reiste.
1990 Erhielt den Sculpture Center Award for Distinction in Sculpture vom Sculpture Center in NYC. Tod ihres Sohnes Michael.
1991 Erhielt den Preis fürs Lebenswerk vom International Sculpture Center in Washington DC und den Grand Prix für Skulptur des französischen Kulturministeriums. „Cell I“ bis „Cell VI“ wurden in der Carnegie International in Pittsburgh ausgestellt.
1992 Bourgeois begann Kleidung und Skulpturen aus Stoff einzubauen. „Homely Girl“, eine Zusammenarbeit zwischen Arthur Miller und Bourgeois, erschien bei Peter Blum Editions.
1993 Teilnahme an der Biennale von Venedig. Erste große „Spinne“ im Brooklyn Museum.
1997 National Medal of Arts durch Präsident Clinton verliehen.
1998 Aufnahme in die Nationale Akademie in New York.
1999 Erhielt den Wexner Preis, den Praemium Imperiale Award. Teilnahme an der 48. Biennale von Venedig. Erhielt den Goldenen Löwen.
2000 Eröffnungsinstallation in der Turbinenhalle der Tate Modern.
2001 Die Eremitage in St. Petersburg widmete ihre erste Ausstellung eines lebenden, amerikanischen Künstlers Louise Bourgeois. Vor dem New Yorker City’s Rockefeller Center wurde u. a. die Bronze–Spinne „Maman“ aufgestellt.
2002 Teilnahme an der Documenta 11 in Kassel.
2003 Erhielt den israelischen Wolf Prize, das Ehrendoktorat der Universität von Illinois.
2004 Auftrag vom Seattle Art Museum für einen Brunnen für dem Olympic Sculpture Paris, der 2007 enthüllt wurde. Skulptur für die Phoenix Public Art.
2005 Ehrenmedaille von der Pennsylvania Academy of the Fine Arts in Philadelphia. Teilnahme an der 51. Biennale von Venedig.
Am 31. Mai 2010 starb Louise Bourgeois im Alter von 98 Jahren.