Pablo Picasso und Marcel Duchamp steigen erstmals gegeneinander in den Ring! Zumindest inszeniert das Stockholmer Moderna Museet derzeit Picasso als den „Maler“ gegen Duchamp als das „Gehirn“. Kuratorin Annika Gunnarsson spielt mit dem Gedanken, zwei der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts wie Boxer gegeneinander antreten zu lassen.1 Womit die Kuratorin sicher recht hat, ist, dass Pablo Picasso (1881–1973) und Marcel Duchamp (1887–1968) noch nie in einer gemeinsamen Ausstellung gewürdigt worden sind. Zu unterschiedlich sind die Grundlagen für ihre Kunst. Während Picasso sich ganz in der Tradition der Malerei dem Medium selbst widmete und in der Fläche blieb, übertrat Duchamp seit den 1910er Jahren immer wieder die „Grenzen“ der Kunst und prägte v.a. mit dem Readymade eine neue Form der Konzeptuellen Kunst. So sehr also das schwedische Gedankenexperiment die beiden Künstler prinzipiell richtig beurteilt, so schwierig erscheint die Beschränkung von Picasso und Duchamp auf diese einfache Formel. Oder anders gefragt: Hat Picasso wirklich sein Hirn beim Malen ausgeschaltet und Duchamp sich nur für Ideen und nichts Visuelles interessiert?
Schweden | Stockholm: Moderna Museet
25.8 2012 – 3.3.2013
In der Ausstellung zeigt sich die Problematik des Vergleichs sofort in der strengen Zuteilung der Präsentationsfläche. Duchamp wird, um im Jargon des Boxsports zu bleiben, in der linken und Picasso in der rechten Ecke inszeniert – dazwischen vermitteln nur ihre Biografien und eine Timeline, zwei ihrer Werke werden in der „gegnerischen Ecke“ aufgebaut und dazwischen vermitteln nur ihre Coverbilder für „Minotaure“. So streng getrennt, entfalten die Kunstwerke der beiden dann doch wieder eigene Sphären. Picasso wird über Druckgrafiken und einige Gemälde in einer labyrinthischen Architektur dargestellt, denn der Künstler erfand sich permanent neu, sein Werk lässt keine „logische Entwicklung“ erkennen. Die Sammlung des Moderna Museet besitzt elf Gemälde, acht Skulpturen und 83 Arbeiten auf Papier aus allen Schaffensperioden, darunter „Bouteille, Verre et Violon“ (1912-1913), „La femme à la collerette bleue“ (1941) und „Tête de femme“ (1957), dessen Entstehung in zirka 50 Fotografien von David Douglas Duncan dokumentiert wurde. Einige bemerkenswerte Lithographien und Radierungen ergänzen die Schau, darunter erotische und bacchantische Minotaurus-Darstellungen („Minotaure caressant une dormeuse“, 1933), die Picassos Geschlechterverständnis wohl am besten illustriert. Der Künstler und Mann wurde – nicht nur durch den Galeristen Kahnweiler – oft mit dem Ungeheuer der griechischen Mythologie gleichgesetzte.
Dem malerischen Werk Picassos steht eine Reihe von Readymades von Duchamp gegenüber, der Flaschentrockner („Porte-bouteilles“, 1914/1963), das Fahrrad-Rad („Roue de bicyclette“, 1913/1960) und natürlich „Fountain“ (1917/1963). Sie werden ergänzt durch das enigmatische „Why Not Sneeze, Rose Sélavy?“ (1921/1963), „Fresh Widow“ (1920/1960), „Rotoreliefs“ (1935 /1959) und vor allem „La mariée mise à nu par ses célibataires, même“ (1915–1923/1991–1992).
1912 wurde Pablo Picasso nach einer Empfehlung für die New Yorker Armory Show gefragt. Er hat Duchamps „Nu descendant un escalier n° 2 [Akt, eine Stiege heruntersteigend No. 2]“ vorgeschlagen. Das kubistische Gemälde war im gleichen Jahr in Paris zurückgewiesen worden und rief auch 1913 in den Vereinigten Staaten einen Skandal hervor. Duchamp verdankte somit seinen ersten internationalen Erfolg dem kaum sechs Jahre älteren Spanier. Spätestens 1913 collagierte Picasso „Bouteille, Verre et Violon“ (1912-1913) und verband damit Zeitungspapier und eine Kohle-Bleistift-Zeichnung zu einem der ersten Werke des Analytischen Kubismus. Marcel Duchamp hingegen wandte sich einer noch radikaleren Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu, indem er für „Roue de bicyclette“ ein Fahrrad-Rad verkehrt auf einen weißen Küchenhocker montierte. Während der Erweiterung der Malerei bei Picasso noch mit dem Tafelbild korrelierte, ging Duchamp mit diesem Vor-Readymade in den Raum, die Bewegung, suchte dadurch Entspannung im Künstleratelier entstehen zu lassen (wie sonst in den Flammen eines Kamins). Auch wenn dieses Objekt nicht als Kunstwerk gedacht war, so war Duchamp einige Jahre danach bereits in der Lage, einfach 50ccl Pariser Luft in ein Glasgefäß abzufüllen und es „Air de Paris“ (1919/1974) zu nennen.
Anfang der 1930er Jahre sollten beide Künstler noch einmal an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, nämlich für die surrealistische Zeitschrift „Minotaure“ Cover-Illustrationen liefern: Picasso entwarf einen Minotaurus für die erste Ausgabe im Sommer 1933, und Duchamp recycelte für das sechste Cover im Winter 1935 ein Rotorelief, das in diesem Zusammenhang plötzlich wie ein wachsames Auge des Bullen wirkt. Beide Künstler wurden enthusiastisch von André Breton besprochen, wie das Verhältnis von Picasso zum Surrealismus genau war, ist in der Forschung heute jedoch umstritten. Duchamp galt zumindest für Breton als geheimer Ideengeber der Bewegung, quasi ein artist`s artist.
Bereits seit 1913 hatte Duchamp den Pinsel zur Seite gelegt und begonnen, darüber nachzudenken, was Kunst generell zur Kunst macht. Ein weiterer, meiner Ansicht nach essentieller Unterschied zwischen den beiden Künstlern ist die deutlich aus vielen Objekten Duchamps sprechende Ironie. Seine indifferenten Werke, vor allem die Readymades, sind auch heute noch Ausgangspunkte für Fragen rund um Originalität, Kreativität, Objektstatus und den Wert einer Kopie, sind die „Originale“ der 10er-Jahre doch meist (am Müll) verloren gegangen und später rekonstruiert und in mehreren Auflagen kopiert worden. Das geheimnisvolle Verhältnis zwischen Objekten, ihren Bezeichnungen und dem tieferen Sinn wurde zum fruchtbaren Ausgangspunkt weiterer Werke, die sich manchmal trotz erzählerischer Titel so wenig erklären lassen wie „La mariée mise à nu par ses célibataires, même“ (1915–1923/1991–1992). In einem Brief an Walter Pach vom 27. April 1915 schrieb Marcel Duchamp: „Seit einer langen Zeit und auch schon vor dem Kriegsausbruch mochte ich dieses „künstlerische Leben“, in das ich verwickelt bin, nicht. Es ist exakt das Gegenteil von dem, was ich will. So versuchte ich irgendwie den Künstlern durch die Bibliothek zu entkommen. Dann während des Krieges fühlte ich mich ständig unwohler in diesem Milieu. Ich wollte es absolut verlassen.“2
„He was wrong“ – „Er lag falsch“ – soll Picasso gesagt haben, als ihm die Nachricht vom Tod des Kontrahenten mitgeteilt wurde. Damit hatte Picasso zumindest das letzte Wort. Denn dass das Augenmerk seit der Erfindung der Readymades (und auch deren Akzeptanz von Seiten der Kunstkritiker) vom abgeschlossenen Kunstwerk zum Prozess seiner Entstehung wanderte, war Picasso Zeit seines Lebens nicht geheuer. Dennoch stellt sich am Ende der Ausstellung die unlösbare Frage, wer nun diesen Boxkampf gewonnen hat! Einerseits ist aktuelle Kunstproduktion ohne konzeptuelle Basis kaum mehr vorstellbar und andererseits feiert die bereits totgesagte Malerei seit den 80er-Jahren beim Publikum noch immer die größten Erfolge. Der Vergleich zwischen dem sehr körperbetonten Sport Boxen und der Kunstwelt weist m. A. auf mehr als nur auf die Metapher des „Durchboxens“, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Dahinter lässt sich genauso gut der Hinweis auf die Kommerzialisierung der Kunst ablesen wie ein falsch verstandenes Evolutionstheorem. Das System Kunst ist doch etwas zu kompliziert, um ABBAs Smash-Hit „The Winner takes it all“ darauf anwenden zu können. Zumal sich in diesem Wettkampf bis zum Schluss kein Gewinner abgezeichnet hat!
So zeigt sich die Ausstellung als eine intelligent gemachte, wenn auch nicht ganz widerspruchslose Sammlungspräsentation. Sie bringt zwei nahezu zeitgleich arbeitende Künstler zusammen, wobei Duchamp als „Nachfolger“ Picassos begann und sich schnell von seinem Vorbild löste. Die sehr unterschiedlichen Wege, die beide in der Folge eingeschlagen haben, sind über die ausgestellten Objekte aber auch in der Ausstellungsarchitektur mehr als nur deutlich präsent. Einzig die analytisch-kubistische Collage Picassos „Bouteille, Verre et Violon“ (1912-1913) und Duchamps „Roue de bicyclette“ stehen einander gegenüber, dazwischen „vermitteln“ die Ausgaben des „Minotaure“. Schlussendlich überbetont die Schau die Gegensätzlichkeit und die Charaktere der Künstler, die damit als Einzelgänger und Gegner beschrieben werden können. Erst der Katalog – passend zur Ausstellung in zwei zusammenhängenden Teilen gelayoutet – führt Picasso/Duchamp wieder zusammen und macht die Distanz aber auch mögliche Paarläufe sichtbar.