Die venezianische Malerei der Renaissance ist eines der folgenreichsten Kapitel der europäischen Kunstgeschichte (→ Renaissance Malerei in Venedig). Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelten die Künstler der Lagunenstadt, allen voran der junge Tizian (um 1488/90–1576), eine eigenständige Spielart der Renaissance, die auf rein malerische Mittel und die Wirkung von Licht und Farbe setzt. Nicht nur in Venedig selbst macht diese neue Malerei Furore; ihre Vertreter verbreiten die Innovationen bald auch außerhalb der Stadtrepublik und begeisterten auch deutsche Maler wie Albrecht Dürer. Ab den 1540er Jahren trat mit Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese erneut eine hochbegabte junge Generation auf den Plan, die in Venedig um Aufträge wetteiferte.
Deutschland / Frankfurt a. M.: Städel Museum, Ausstellungshaus
13.2. – 26.5.2019
Was kennzeichnet die Renaissancemalerei in Venedig? Zweifellos – und das wurde von den Zeitgenossen bereits intensiv diskutiert – die malerischen Qualitäten, der Zugang über Farbe, die Wirkung von Licht und Farbe, die dominierende Position von Tiziano Vecellio, in deutschsprachigen Ländern Tizian genannt. Neben Tizian bilden heute Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese das Dreigestirn der venezianischen Malerei des Cinquecento (16. Jahrhundert). Entwickelte Tizian um 1510 seinen venezianischen Stil (aus Giovanni Bellini und Giorgione), so setzt die jüngere Generation um 1540 ein. Die Ausstellung im Städel Museum setzt daher im Titel mit dem Meister des Kolorismus ein, um den Horizont sofort auf die gesamte Breite der venezianischen Renaissancemalerei zu weiten.
Ausgangspunkt für diese erste Überblicksschau zur venezianischen Malerei des Cinquecento ist die eigene kleine, aber ausgesuchte Sammlung. 106 Werke – über 80 Leihgaben von 60 verschiedenen Leihgebern (!) – führen in die Malerei der Serenissima ein. Strukturiert wird sie mittels acht thematischer Kapitel. Diese stellen ausgewählte Bildthemen vor, die für die venezianische Malerei des Cinquecento charakteristisch sind: die Sacra conversazione, die „Erfindung“ der Landschaft, Poesie und Mythos, die schönen Frauen [belle donne], der Edelmann [gentiluomo], der venezianische Kolorismus, der Renaissance-Akt, die Folgewirkungen ab El Greco.
Im biblischen Alter von nahezu 100 Jahren verstarb Tizian 1576 in Venedig. Er prägte, ja dominierte die Malerei in Venedig über mehr als 60 Jahre. Alle hatten sich an seiner Kunst zu messen – im positiven wie im herausfordernden Sinn. Tizian und die Renaissance ist daher auch ein Titel, der Erwartungen weckt. Diesen begegnet das Städel Museum mit 16 Gemälden Tizians. Darunter befinden sich einige Meisterwerke wie die „Madonna mit dem Kaninchen“ (Louvre), „Noli me tangere“ (National Gallery, London), das Porträt der „Clarice Strozzi“, jenes des „Dogen Francesco Venier“ (Thyssen), des „Alfonso d’Avalos“ (Getty), „Tarquinius und Lukrezia“ (Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, Wien) sowie der großformatige „Johannes der Täufer“ (Accademia). Von den etwa 40 erhaltenen Zeichnungen Tizians sind vier im Städel zu sehen. Direktor Philipp Demand freut sich daher ein Zehntel des zeichnerischen Werks des Venezianers im Haus zu wissen. Was viele vielleicht überraschen wird, sind die Druckgrafiken, die nach Tizians Entwürfen geschnitten wurden: „Durchzug durch das Rote Meer“ (um 1517) und „Baum mit zwei Ziegen“ (um 1530–1535) wurden beide von unbekannten Holzschneidern auf 12 Druckstöcken umgesetzt. Bereits eine genaue Analyse des „Durchzugs“ zeigt, dass sich Tizian mit den knapp über zehn Jahre zuvor entstandenen Fresken von Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti in Florenz auseinandersetzte. Der Serenissima eine gänzlich abgeschottete Kunstentwicklung zu attestieren, würde demnach die historische Situation völlig verkennen.
Wenn auch nahezu das ganze Spektrum venezianischer Künstler aufgeschlüsselt werden soll, kommt Tizian als einziger Künstler in allen Kapiteln vor. Der Maler übertrumpfte viele seiner Zeitgenossen auch in der Internationalität seiner Produktion. Er arbeitete nicht nur für Auftraggeber vor Ort, sondern exportierte seine Werke nach Spanien, Ober- und Mittelitalien. Demnach ist die außergewöhnliche Position Tizians auch in der Ausstellung verdeutlicht.
Zu den wichtigsten religiösen Bildmotiven der venezianischen Renaissancemalerei gehört die Darstellung der Madonna mit dem Christuskind – entweder allein oder in Anbetung durch Heilige – für die private Andacht oder als monumentales Altarbild. Typisch für die venezianische Malerei ist, dass die Madonna mit Kind zu einer Gruppe erweitert wird, der sogenannten Sacra Conversazione [Heiliges Gespräch]. Als Ausgangspunkt dienten verschiedene ikonografische Grundtypen wie die Heilige Familie, die Madonna mit der heiligen Katharina, die Anbetung der Hirten oder die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. War zu Beginn des 16. Jahrhunderts diese von einer strengen Aufreihung der Personen gekennzeichnet, so verlieh ihnen schon Tizian mehr Bewegung und Leben. Erzählung bis hin zum Anekdotischen statt stummes Nebeneinander, landschaftlicher Hintergrund statt Architektur prägen die Entwicklung dieser Bildgattung.
Einen Höhepunkt erfährt die verlebendigte Sacra Conversazione in Tizians „Die Madonna mit dem Kaninchen“ (um 1530, Musée du Louvre) und Paolo Veroneses Altarbild „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ (um 1572, Sarasota). Im Rund arrangiert Kurator Bastian Eclercy einen Bildvergleich über mehrere Generationen. Während Vittore Carpaccio eine häuslich, fast genrehafte Szene vorstellt, verleiht Cima da Conegliano seinen Figuren höchste körperliche Präsenz. Die verblauende Landschaft im Fensterausblick lässt kaum an die Entstehung in Venedig denken. Hierfür darf man die Terra ferma, das Festland der Republik Venedig, nicht vergessen. Giovanni Bellinis inzwischen als eigenhändig anerkannte „Dudley Madonna“ (um 1508, Privatbesitz) zeigt dann auch eine asymmetrisch sitzende Madonna mit Kind in einer Landschaft. In seinen Sacra Conversazione-Bildern blieb er der strengen Symmetrie verpflichtet, während die Madonnen eine Lockerung dieses Systems (wohl mit Florentiner Einfluss) erkennen lassen. So war es Bellini, der die Landschaft in das Andachtsbild einführte. Seine Schüler verlebendigen das Andachtsbild.
Erste Momente der Verlebendigung sind in Lorenzo Lottos „Madonna mit Kind und den Heiligen Ignatius von Antiochia und Onophrius“ (1508 dat., Galleria Borghese, Rom) festzustellen. Das Christuskind neigt sich stürmisch dem Herzen des hl. Ignatius von Antiochia entgegen, was als Annahme der Passion gedeutet wird (Hans Aurenhammer). Seine wohl gleichzeitig gemalte „Madonna, das Kind anbetend, mit Heiligen“ aus Krakau findet in einem seltenen Hochformat Platz. Die „klassische“ Darstellung zeigt Halbfiguren in einem Querformat, wie es Jacopo Palma il Vecchio zeigt.
Zu den wichtigen Errungenschaften der venezianischen Renaissance zählt die „Erfindung“ der Landschaftsmalerei. Obschon sie nie als eigenständige Gattung auftritt, verliehen ihr doch die Maler eine große Bedeutung als Bildraum. Theoretische Basis für diese neue Bewertung von Naturformen bilden die Schriften von Theokrit und Vergil („Bucolica“) Jacopo Sannazaros 1514 publizierten Hirtenroman „Arcadia” ließ Arkadien als idealen Ort imaginär wiederaufleben. Der erfolgreiche Prosatext wurde nie in der Malerei wörtlich aufgenommen, aber die Stimmung lässt sich mit dem künstlerischen Zugang zur Landschaft der Terra Ferma – wie Tizians „Studie einer Baumgruppe“ (um 1514/15?) – verbinden. Wie sehr sich solche Landschaften zur Steigerung der theologischen Bedeutung einsetzen lässt, macht „Noli me tangere (Christus erscheint Maria Magdalena)“ (um 1514, London, National Gallery) von Tizian deutlich: Das rot-orange Licht des Ostermorgens erhellt den Horizont, während Maria Magdalena den Auferstandenen als Christus erkennt.
Die frühesten Darstellungen von natürlichen Landschaften finden sich in den Florentiner Malerei im Werk von Fra Bartolomeo (Zeichnung) sowie in der venezianischen Kunst bei den Brüdern Giulio und Domenico Campagnola (Druckgrafik). Im Städel Museum sind es vor allem antikische und religiöse Sujets, die in teils paradiesische und teils wilde Naturausschnitte eingebettet werden. Jacopo Palma il Vecchios „Zwei ruhende Nymphen“ (um 1510–1515) aus der eigenen Sammlung treffen auf Paris Bordones „Venus und Amor“ (um 1545–1560, Warschau, Muzeum Narodowe) und Jacopo Bassanos „Pastorale Szene” (um 1560, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza).
In der sakralen Malerei sind es vor allem die Themen des hl. Hieronymus als Büßer und die Taufe Christi, die sich gleichsam anbieten, Landschaft als bedeutenden Bühnenraum zu erobern. Zwei Hieronymus-Darstellungen von Lorenzo Lotto und Jacopo Bassano, aber auch Paolo Veroneses „Taufe Christi” (um 1580–1585, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum), zeigen, welche emotionalen, atmosphärischen Qualitäten Vegetation abgerungen werden kann.
Der Mythos wurde in Venedig erstmals im 16. Jahrhundert zum darstellungswürdigen Bildthema. Gleichzeitig suchten Maler es den Dichtern gleichzutun und ihren Status in der poetischen Freiheit der Erfindung [invenzione] zu heben. Es verwundert daher nicht, dass einige Werke noch immer rätselhafte Aussagen treffen – in der Ausstellung etwa Tizians „Knabe mit Hunden in einer Landschaft“ (um 1570–1576, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen) und Paolo Veroneses „Amor mit zwei Hunden“ (um 1580, München, Alte Pinakothek). Handelt es sich um Kinderporträts? Um mythische Figuren? Welchen Umgang die sonst so ehrwürdigen Musen pflegen, sobald Apoll eingeschlafen ist, zeigt Lorenzo Lottos Komposition aus dem Szépművészeti Múzeum in Budapest. Die Tollerei der jungen Damen darf wohl mit einem Augenzwinkern verstanden werden, oder behandelt es gar die weibliche Vergnügungssucht bei fehlender männlicher Überwachung? Nun, letzteres mag eine zu aktuelle Deutung sein.
Geheimnisvoll und weiblich geht es in der Ausstellung im Städel Museum weiter. Schöne Frauen, auf Italienisch Belle Donne, sind weibliche Halbfiguren, die sich sowohl dem Porträt wie auch der Erzählung entziehen. Häufig sind die unbekannten Damen – indentifizierbar als Mätressen, Kurtisanen, junge Bräute oder doch ein Ideal weiblicher Schönheit und Anmut – mit dezidiert erotischer Aufladung und symbolischem Apparat inszeniert. Diese typisch venezianischen Bildnisse waren vermutlich im Auftrag wohlhabender Connaisseure entstanden, die Galerien schöner Frauen in ihren Häusern präsentierten.
Dass Kurator Bastian Eclercy diesen Begriff nicht als Typus, sondern als allgemeinen Überbegriff zur Darstellung von Frauen wählt, zeigt die Präsenz von Tizians Kinderporträt der „Clarice Strozzi“ (1542) aus Berlin oder Lottos „Judith mit dem Haupt des Holofernes“ (1512, Rom). Zu den einmal mehr in grandiosem Blau gehüllten Damen zählt Sebastiano del Piombos „Dame in Blau mit Parfümbrenner“ (um 1510/11, Washington, National Gallery of Art). Dass dieser Maler 1511 nach Rom übersiedelte, erleichterte die außergewöhnliche Karriere Tizians. Zu den bedeutendsten Meistern zählt auch Palma il Vecchio, der sich auf die Darstellung der Belle Donne zu spezialisiert haben scheint.
Eines der Hauptwerke des Städel Museum findet sich ebenfalls in diesem Abschnitt: Das „Idealbildnis einer jungen Frau als Flora“ (um 1520?) von Bartolomeo Veneto. Es ist eines der populärsten Werke der Frankfurter Sammlung. Die in nahezu kristalliner Härte überzeichnete Schöne ist sehr rätselhaft und gleichzeitig liebreizend. Ihre weiße Kleidung, die ihre linke Brust frei lässt, und der delikate Blumenstrauß in ihrer rechten Hand weisen sie vermutlich als eine Personifikation der Flora aus. Im späten 19. Jahrhundert imaginierte der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans in ihr ein Porträt von Giulia Farnese, der heimlichen Geliebten von Papst Alexander VI. Als dessen illegitime Tochter Lucrezia Borgia wollte sie Direktor Georg Swarzenski (1922) sehen. Fernab solcher Identifikationen gilt das „Idealbildnis einer jungen Frau als Flora“ heute als Bella Donna. Ihren Sonderstatus erlangt sie auch durch die präzise Formulierung aller Details. Das steht im deutlichen Kontrast zum vereinheitlichenden Licht der venezianischen Malerei.
Tizian bezeichnete sich selbst als Porträtmaler. Wenn er auch in allen Gattungen Revolutionäres leistete, so prägten doch seine Bildnisse bedeutender Männer die Entwicklung des Porträts in der europäischen Malerei am deutlichsten. Fünf Männerbildnisse Tizians vereint die Schau ausgehend vom eigenen, kleinformatigen Frühwerk „Bildnis eines jungen Mannes“ (um 1510).
Zentrales Werk dieses Kapitels ist Tizians „Bildnis des Alfonso d’Avalos mit Page“ (um 1533, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum), das von zwei weiteren unbekannten Geharnischten von Sebastiano del Piombo und Jacopo Bassano flankiert wird. Die Qualität des metallischen Schimmerns der Rüstungen steht neben der Porträtähnlichkeit im Zentrum der Darstellungen. Virtuosität, ja Bravur im Umgang mit Ölfarbe, kennzeichnet die venezianische Malerei seither. Offener Pinselstrich und eine auf Distanz abzielende Wirkung kennzeichnen auch Tintorettos „Bildnis eines 28-jährigen Mannes“ (1548, Stuttgart, Staatsgalerie) oder Veroneses „Bildnis eines Mannes mit Luchspelz“ (um 1550–1555, Szépművészeti Múzeum). Die schweren, venezianischen Leinwände prägen häufig die malerische Struktur.
Lebensnähe dürfte ebenfalls eine veritable Kategorie in den Werken der frei führenden Maler Venedigs gewesen sein: Tintoretto zeigt sich im „Selbstbildnis als junger Mann“ (um 1546–1548, London, Victoria and Albert Museum) als junger Mann. Tizian avancierte zum Staatsporträtisten und hielt im „Bildnis des Dogen Francesco Venier“ (1554–1556, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza) den Amtsträger fest. Paolo Veronese oblag es, mit dem „Bildnis des Daniele Barbaro“ (um 1556–1562, Amsterdam, Rijksmuseum) einen der führenden Architekturtheoretiker seiner Zeit zu verewigen. Die Schriften auf seinem Schreibtisch deuten auf dessen wichtigstes Werk, die Übersetzung von Vitruvs „Zehn Büchern über die Architektur“ (Venedig 1556).
Bereits Giorgio Vasari beklagte – aus seiner Florentiner Perspektive – die Vorherrschaft der Farbe über die Zeichnung innerhalb der venezianischen Kunstausübung. Seine Kritik legte er in den „Vite“ niemand geringerem als Michelangelo Buonarroti in den Mund, mit dem er Tizian während dessen kurzen Aufenthalts im Atelier besucht hatte. Die Zeichnung (disegno) gegen die Farbe (colore/ Farbigkeit/colorito) auszuspielen, wurde von Venedigs führendem Kunsttheoretiker, Lodovico Dolce, aufgenommen. Darauf, dass Farben in der Stadt eine besondere Rolle in der Textil- und Glasindustrie spielen, wurde bereits oft hingewiesen. Dass die Lagunenstadt als Handelsort prädestiniert für den leichten Zugang zu hochqualitativen Pigmenten war, stimmt auch. In Venedig etabliert sich daher früh der Farbehändler (vendecolori) als eigener Berufsstand. Alvise dalla Scala ließ sich um 1561/62 mit Pigmentkästlein und Spatel von Tizian porträtierten.
Für das so aussagekräftige Thema reserviert die Ausstellung nur ein Kabinett, weshalb neben Tizians „Tarquinius und Lucretia“ (um 1570–1575, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste) und „Christus und die Ehebrecherin“ (um 1530?, Wien, Kunsthistorisches Museum) zwei höchst tonige Bilder nebeneinanderhängen (→ Der späte Tizian). Gegenüber zeigt noch Jacopo Bassano mit der „Kreuzigung Christi“ (um 1575, Barcelona, Museu Nacional d’Art de Catalunya) und der größeren „Geißelung Christi“ (um 1585–1588, Frederikssund, J. F. Willumsens Museum), welche dunklen Farbtöne möglich waren. Der „Tod der Malerei“ (→ Renaissance Malerei in Venedig), wie es jüngst das Museo National Thyssen-Bornemisza in Madrid diskutierte, wird in Frankfurt bestenfalls angeschnitten.
Dass trotz aller Diskrepanzen zwischen Florenz (Rom) und Venedig es dennoch einen Austausch über die aktuellsten Möglichkeiten gab, darauf verweist das Kapitel zum männlichen Akt. Sowohl Francesco Salviati (1539–1541) wie auch Giorgio Vasari (1541/42) hielten sich in der Lagunenstadt auf und brachten ihr Wissen mit. War in der Florentiner Kunst – und durch die Abwanderung von Raffael und Michelangelo in der Folge auch in Rom – das Studium der Antike und hier vor allem des männlichen Aktes zur Basis der Kunst erklärt worden, hatte die Renaissance der Antike in Venedig weniger deutliche Spuren hinterlassen. So oblag es Jacopo Tintoretto sich selbst zwischen Michelangelo und Tizian zu positionieren und nach Kleinbronzen Michelangelos Werk intensiv zu studieren. Tizians Zeichnungen – es sind hier Studien für die Geißelung aus Frankfurt und Berlin nebeneinander zu sehen – nehmen das Figurenideal des muskulösen Mannes deutlich auf. Seine Gemälde des Auferstandenen (1542–1544) und des hl. Johannes des Täufers (um 1530–1533, Venedig, Gallerie dell’Accademia) zeigen athletische Körper und torsierte Figuren, die auf dessen Rezption des Florentiner Manierismus verweisen.
Zwei Räume bilden den Ausklang der Schau und belegen die lange Wirksamkeit der venezianischen Malerei des Cinqucento. Zum einen exportierte El Greco den Stil von Tintoretto und Co. nach Spanien und steigerte ihn um 1600 zu einem ganz eigenständigen Manierismus. Über Druckgrafiken von Agostino Carracci konnten kompositionelle Lösungen allen voran der großformatigen Altarbilder über Venedig hinauswirken. So vermittelte er das „Martyrium der heiligen Justina (nach Paolo Veronese)“ (1582), „Maria erscheint dem heiligen Hieronymus (nach Jacopo Tintoretto)“ (1588) und auch „Bildnis Tizians (nach Tizians Selbstbildnis)“ (1587, alle Dresden, Staatliche Kunstsammlungen). So ist es auch dem Flamen Peter Paul Rubens möglich gewesen, sich an der venezianischen Sacra Conversazione zu schulen: Rubens‘ „Mystische Vermählung der heiligen Katharina“ (1627/28, Frankfurt am Main, Städel Museum) zeigt, wie der Barockmaler das Thema abwandelte.
Wie sehr sich beispielsweise Guercino an Tizian orientierte macht die Gegenüberstellung seiner dunklen „Madonna mit Kind” (um 1621/22, Frankfurt am Main, Städel Museum) mit Tizians „Ecce homo“ (um 1560, Dublin, National Gallery of Ireland) aufgenfällig. Giovanni Battista Tiepolo entdeckt Paolo Veronese neu; und eine Kopie von Théodore Géricault gibt das vielbewunderte Altargemälde „Der Tod des heiligen Petrus Martyr (Kopie nach Tizian)“ (um 1811/12, Basel, Kunstmuseum) wieder. Das in einem Brand zerstörte Gemälde zählte zu den Höhepunkten in Tizians Malerei und ist aus dem 16. Jahrhundert nur durch Martino Rotas Kupferstich (um 1558–1568, Frankfurt am Main, Städel Museum) bekannt. Den Abschluss der Ausstellung zur venezianischen Malerei bilden zwei Fotografien von Thomas Struth: „Louvre 3, Paris 1989“ (1989/2012, Frankfurt am Main, Städel Museum) und „Galleria dell’Accademia 1, Venedig 1992“ (1992, Berlin, Atelier Thomas Struth). Viele Werke hatten Venedig verlassen und wurden seit dem 19. Jahrhundert musealisiert. Veroneses ehemaliges „Skandalbild“ regt schon lange niemanden mehr auf. Tizians „Madonna mit Kaninchen“, die im Städel Museum eines der Hauptwerke ist, geht in der Reihe von venezianischen Meisterwerken fast unter. Davor unzählige Besucherinnen und Besucher, die sich in die Bilder der Venezianer vertiefen. Dass die Venezianerinnen nur als Modelle vorkommen – d.h. etwa Marietta Robusti, die malende Tochter von Jacopo Tintoretto oder Irene di Spilimbergo fehlen – mag man dem kuratorischen Team angesichts der Fülle an Werken verzeihen. Wünschenswert wäre es schon gewesen.
Kuratiert von Bastian Eclercy.
Jacopo de’ Barbari, Jacopo Bassano, Giovanni Bellini, Paris Bordone, Giulio Campagnola, Vittore Carpaccio, Giovanni Battista Cima da Conegliano, Lorenzo Lotto, Sebastiano del Piombo, Martino Rota, Andrea Schiavone, Jacopo Tintoretto, Tizian, Jacopo Palma il Vecchio, Bartolomeo Veneto, Paolo Veronese, Alessandro Vittoria, Anton Maria Zanetti d. J.
Francesco Salviati, Giorgio Vasari
El Greco, Cornelis Cort, Agostino Carracci, Guercino, Peter Paul Rubens, Giambattista Tiepolo, Théodore Géricault, Thomas Struth