Vielen ist Victor Hugo (1802–1885) als Romancier, Dramatiker und Lyriker bekannt. Romane wie Dramen fanden als Vorlagen für Musikstücke und Filme weite Verbreitung: „Der Glöckner von Notre Dame“ (1831) und „Les Misérables [Die Elenden]“ (1862) oder seine Dramen „Hernani“ (1830, Vorlage für Verdis gleichnamiger Oper), „Le roi s’amuse“ (1832, Vorlage für Verdis „Rigoletto“) oder „Lucrèce Borgia“ (1833, Vorlage für Donizettis „Lucrezia Borgia). Hugo ist auch heute noch populär und vielgelesen – seine bislang noch wenig bekannten Tuschezeichnungen zeigen nun eine gänzlich andere Seite des Autors. Gemeinsam mit den beiden Hauptleihgebern, dem Pariser Maison de Victor Hugo und der Französische Nationalbibliothek, zeigt das Leopold Museum die erste monografische Schau mit etwa 60 Sepia-Blättern des berühmten Autors. Werke aus der Sammlung Bernd und Verena Klüser, die neben Zeichnungen von Hugo auch je eine Arbeit von William Turner und George Sand leihen, vervollständigen den Kontext.
Österreich / Wien: Leopold Museum, Grafisches Kabinett
17.11.2017 – 15.1.2018
Der als Sohn eines Offiziers und Napoleon-Unterstützers am 26. Februar 1802 geborene Victor Hugo zählte ab 1830 zu den bedeutendsten Romantikern und späteren Realisten der französischen Literaturgeschichte. Da er als wichtigster Kritiker von Napoleon III. dessen Regierung aus dem neunzehnjährigen Exil auf Guernsey mit Worten „beschoss“, wurde er bei seiner Rückkehr 1870 umso ehrenvoller empfangen. Als Victor Hugo am 22. Mai 1885 verstarb, entschied die Nationalversammlung, dem Literaten und politischen Querdenker ein Staatsbegräbnis im Pantheon zuteilwerden zu lassen. Zu den herausragendsten politischen Zielen gehörte sein Engagement für die Abschaffung der Todesstrafe und die Gründung der Vereinigten Staaten Europas. Man sollte diesen französischen Nationalhelden aber auch als talentierten Autodidakten in der Kunstgeschichte nicht ausschließen.
„Victor Hugo, wenn er nicht Dichter wäre, wäre [er] ein Maler erster Ordnung; ausgezeichnet mischt er, in düsteren und wilden Phantasien, die HellDunkelEffekte Goyas mit dem architektonischen Schrecken Piranesis.“1 (Théophile Gautier)
Zeit seines Lebens stellte Victor Hugo ein einziges Mal 1859 am Salon aus, empfand sich weder als bildender Künstler noch wollte er eine Verbindung von Grafik und Literatur herstellen. Als „Zeitvertreib zwischen zwei Strophen“, tat er sein Tun sogar ab. Hugo kokettierte mit seinem Dilettantismus, obwohl er in Wirklichkeit gut zeichnen konnte und sich seiner Mittel sehr wohl bewusst war, vermutet Ivan Ristić, Kurator der Ausstellung. Dennoch stellte diese Art der Beschäftigung keine Kunstproduktion nach Vorstellung des 19. Jahrhunderts dar, sondern war als Freizeitbeschäftigung in besseren Kreisen akzeptiert.
Doch in welchem Verhältnis stehen literarische und bildnerische Produktion zueinander? Es gäbe, so Raphael Rosenberg im Ausstellungskatalog, zwar „durchaus Ähnlichkeiten in Motivwahl und Stimmung zwischen Zeichnungen und literarischen Texten, direkte Verbindungen sind aber im Horizont des gesamten Werkes die Ausnahme“2. Die Zeichnungen Hugos entspringen dessen überquellender Fantasie, einem Amüsement nicht unähnlich. Und es ist überliefert, dass Victor Hugo zeichnete, wenn er zwischen zwei Versen nicht weiterkam. Immerhin haben sich mehr als 3.500 Blätter im malerischen und zeichnerischen Nachlass von Hugo erhalten. Die frühesten Zeichnungen finden sich in Schulheften, viele tragen originale Titel und Jahresangaben.
„Ach, Sie kennen meine Sudeleien? Die sich übrigens nicht gerade anmaßlich aus meinem Hauptberuf ergeben, denn ich erzeuge sie mit den beiden Enden ein und desselben Werkzeugs, das heißt, zeichnenderweise mit der Spitze einer Gänsefeder und malenderweise mit deren Barthaaren.“3 (Victor Hugo in einem Brief an Jules Laurens, 1855)
Das zeichnerische Werk von Victor Hugo wird im Leopold Museum in thematischen Gruppen vorgestellt. Die klein- bis kleinstformatigen Arbeiten sprühen vor Bildwitz, Dunkelheit, formaler und dadurch inhaltlicher Ambivalenz. Die Rezeption von Rembrandt van Rijns und Francisco de Goyas Radierungen ist Voraussetzung für die Schwärze von Hugos Werken, das Zufallsbild und die Darstellung von surreale Traumwelten entsprechen gängiger Freizeitgestaltungen. In ihrer spielerischen Beiläufigkeit – bei gleichzeitiger spannungsvoller Komposition – zeigt sich die sprezzatura des zeichnenden Schreibers. Für beides, Text wie Bild, nutzte er die gleichen Materialien und Medien, Federzeichnung, braune Tusche, kaum Farbe, einiges wird nur angedeutet, um der Fantasie des Publikums keine Grenzen zu setzen.
Der Romantiker ist in den Motiven wiederzufinden: Fantasie-Schlösser, mittelalterliche Burgen und Ruinen, einsame Landstriche oder aufgewühltes Meer, ein Fliegenpilz mit Gesicht, Spinnen in ihren Netzen oder andere Skurrilitäten, selten Menschen. Und so ist es kein Zufall, dass gerade der Surrealist André Breton den Zeichner Victor Hugo wiederentdeckte (→ Romantik | Surrealismus). In den letzten Jahren nahm das Interesse an den Blättern enorm zu, was an der gestiegenen Anzahl an Ausstellungen und an ebenso gestiegenen Preisen festgemacht werden kann.
Abgründige Welten, verhangene Himmel, klaustrophobische Architekturvisionen, groteske Erhabenheit gotischer Ruinen, nächtliche Szenerien – so lässt sich das Motivrepertoire Victor Hugos wenn auch nur kursorisch zusammenfassen. Erstaunlich wenig Figurenpersonal ist in den phantasievollen Kompositionen zu finden, eher handelt es sich um einsame Gebäude und für sich selbst existierende Landschaften. Das Gebaute als Memento mori, gleichwohl pittoreskes Ambiente träumerischer Spaziergänge. Dass sich Hugo mit der Architektursprache der Gotik intensiv auseinandersetzte, ist hinlänglich bekannt: 1835 setzte er sich in aller Entschlossenheit für den Erhalt gotischer Kirchen beim Comité des Arts et Monuments ein. Die Aufrisse der Kathedrale von Chartres und der Pariser Sainte-Chapelle – Zimelien der französischen Kathedralgotik in der Ile-de-France – zählten zu seinen Studienobjekten.
Ein weiteres Kapitel der Schau ist dem Rhein gewidmet. Der Schriftsteller reiste erstmals 1840 an den Fluss, der auch schon früher Anziehungspunkt von Joseph M. William Turner war. Dieser hatte 1817, inspiriert durch Lord Byrons berühmtes Gedicht „Harolds Pilgerfahrt“ erstmals den Rhein bereits und kam bis 1844 zehn Mal wieder. Dessen Aquarell eines „Schlosses am See“ zeigt in der Ausstellung, wie wenig genug sein kann. Verlaufende Farben, wenige Kleckse – allerdings deutlich farbenfroher, lichter als der mit dunkelbrauner Sepia und schwarzer Tusche arbeitende Victor Hugo. Der Franzose begeisterte sich auch eher an den über Felsspornen thronenden Türmen als der alles verschwimmen lassenden Atmosphäre. So erkundete er das Heidelberger Schloss bei Nacht! Beiden gemein ist der Hang zum Flüssigen, dem Hugo allerdings noch die Qualität des Klatschbildes hinzufügt. Diese sogenannten Klecksographien, oder auch Klappdrucke, wurden von Justinus Kerner (1786– 1862) „erfunden“ und mit Federstrichen vervollständigt. Einmal gefaltet, entsteht auf dem Blatt ein spiegelsymmetrischer Abklatsch, der mit Hilfe von Zeichnung noch gedeutet und konkretisiert wird.
Erstaunlich wenige Arbeiten im Œuvre von Victor Hugo verbinden Wort und Bild. Offensichtlich sah der Romancier beide Sphären als getrennt an. Er wusste zwar mit Worten malerische Wirkung zu entfalten, in seinen menschenleeren Bildern erzählen mehr die Gebäude denn deren Erbauer oder Bewohner von der Vergangenheit. Eine Abklatscharbeit aus den Jahren 1855/56 zeigt, wie er in die abgeklatschte Spitze seinen Nachnamen „hineinstickte“. Immer wieder fällt auf, dass der Wortmagier doppeldeutige Elemente einbaut, die nicht so einfach benannt werden können.
Die vielfach modernen, beschreibenden Titel helfen nur bedingt, sind sie doch auch nur spätere Deutungen, teils gänzlich hilflos wie „Komposition“. Authentische Benennungen führt das Leopold Museum unter Anführungszeichen an und macht so den Unterschied deutlich.
Das scheinbar mühelose Wechseln zwischen Bild und Text, der variantenreiche Einsatz unorthodoxer Zeichenmethoden und die abgründige Dunkelheit machten die Bilder Hugos für André Breton zu Höhepunkten der Kunst des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass der Hohepriester des Surrealismus sich in ihren wiederfand. Für die Anhänger von Lautreamonts Zufallsprinzip waren Hugos „Spielereien“ Pionierarbeiten auf der Suche nach dem Unbewussten.
„Die Vorsehung weiß, was sie tut, wenn sie auf diese Weise das Volk mit dem höchsten Geheimnis konfrontiert und ihm nahelegt, über den Tod zu sinnen, der die große Gleichheit und auch die große Freiheit bedeutet.“ (Victor Hugo in seiner Grabrede zu Ehren von Honoré de Balzac, 1850)
Kuratiert von Ivan Ristić.
Ivan Ristić, Hans-Peter Wipplinger (Hg.)
mit Beiträgen von Stefan Kutzenberger, Ivan Ristic & Raphael Rosenberg
25,3 x 28 cm, 160 S. mit 95 meist farb., teils ganzseit. Abb.
Text in dt. & engl. Sprache
ISBN 978-3-9504455-8-9
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln