Egon Schiele, Wally, Detail, 1912 (Leopold Museum, Wien)
Wally, eigentlich Walburga Neuzil, war zwischen 1911 und 1915 Lieblingsmodell und Lebenspartnerin von Egon Schiele. Das berühmte „Bildnis Wally Neuzil“ (1912) des Leopold Museums ist der Ausgangspunkt für eine Spurensuche, die die von Männern dominierte Kunstwelt des frühen 20. Jahrhunderts dekonstruiert.
Österreich | Wien: Leopold Museum
27.2. - 1.6.2015
verlängert bis 7.9.2015
Es ist erstaunlich, dass eine der wichtigsten Frauen im Leben von Egon Schiele (1890–1918 → Egon Schiele. Gezeichnete Bilder) von der Forschung bislang noch so wenig Beachtung gefunden hat. Grund dafür mag sein, dass nur wenige Dokumente von Wally Neuzil selbst oder über sie erhalten sind. Auch der Künstler äußerte sich nur selten über sein Lieblingsmodell und seine Gefährtin. Ihre Person bleibt weiterhin im Dunkeln, aber ihre Bedeutung für Schiele muss neu bewertet werden. Die Kuratoren trugen alle Quellen, Fotografien, Briefe, Postkarten wie Meldezettel, zusammen, die den Menschen Wally und ihr Verhältnis zu Egon Schiele beleuchten, und ergänzen diese durch Kunstwerke, in denen Schieles Verhältnis zu Frauen offengelegt wird. Frauen und Modelle – wie der Schriftsteller Egon Friedell an Lina Loos freimütig erklärte – wurden von Künstlern „verbraucht“. Nachdem sie „verbraucht“ waren, so die gängige Lesart, wurden sie durch Ehefrauen ersetzt. Diethard Leopold, gemeinsam mit Stephan Pumberger und Birgit Summerauer Kurator der Ausstellung, möchte eine positiveren Deutung den Vorrang geben. Beide, so der Psychotherapeut, hätten sich in ihrer Beziehung gegenseitig geheilt und nach ihrer schmerzvollen Trennung ab 1915 ihr Leben besser meistern können. Wally Neuzil entschied sich, Krankenschwester zu werden und erlebte so den sozialen Aufstieg vom völlig unbekannten, ja gering geschätzten Künstlermodell zur gesellschaftlich geachteten Frau.
Walburga Neuzil wurde am 19. August 1894 als uneheliche Tochter der Tagelöhnerin Thekla Pfneisl und des aus Böhmen stammenden Volksschullehrers Josef Neužil in Tattendorf (NÖ) geboren. Die Eltern heiraten ein halbes Jahr später (11.3.1895), und Wally erhielt den Namen ihres Vaters (11.6.). Sie hatte drei jüngere Schwestern: Antonia (1896), Marie (1897), Berta (1900). Walburga entstammte einer kleinbürgerlichen Familie, deren finanzielles Wohl gänzlich vom Verdienst des Vaters abhing. Dieser starb jedoch bereits 1905 – interessanterweise im gleichen Jahr wie Egon Schieles Vater (!) – und hinterließ seiner Ehefrau nur die drei Töchter. Wohl um Geld verdienen zu können, übersiedelten die Neuzils 1906 nach Wien. Es darf davon ausgegangen werden, dass Wally bei ihrer Mutter gemeldet war und früh in das Erwerbsleben einstieg. Die Kuratoren konnten 16 Meldezettel aus den Jahren 1911 bis 1917 finden, die auf noch häufigeren Wohnungswechsel hindeuten.
Wie Walburga Neuzil im Frühjahr 1911 Egon Schiele kennenlernte, ist nicht überliefert. Ein hartnäckiges Gerücht möchte wissen, dass sie zuvor schon Modell von Gustav Klimt gewesen wäre. Auch die Frage, ob die damals Sechzehnjährige den jungen Künstler wirklich nach Krumau begleitete, muss im Dunklen bleiben. Sicher ist hingegen, dass sich die Beziehung rund um die so genannte „Neulengbach-Affäre“ vertiefte und im Zuge dieser Auseinandersetzungen Wally zur anerkennten Gefährtin Egon Schieles wurde. Die drei einzigen bekannten Postkarten von Schiele an Wally sind ebenfalls in der zweiten Hälfte 1912 mit kurzen Grüßen von seinen Reisezielen (Bregenz und Györ) entstanden. Auch vor seiner Familie verheimlichte der Maler sein Verhältnis zu seinem Modell nicht (mehr) und nahm sie auch auf Reisen mit. Die Schwestern Gertrude und Melanie reagierten völlig unterschiedlich auf die neue Gefährtin ihres Bruders. Während der jüngere Gerti in ihr nur „den Ableitungspol von der Mutter“ sah, war Melanie mit ihr dick befreundet.1 Die gutbürgerlichen Freunde und Unterstützer Schieles betrachteten Wally nur als „sein Modell“. So zeigte sich beispielsweise Arthur Roessler im Juli 1913 höchst überrascht, als Schiele Wally zur Sommerfrische an den Traunsee mitbrachte.
Das kurz nach seiner Inhaftierung entstandenen „Bildnis Wally“ steht deutlich für die Anerkennung, die Schiele ihr entgegenbrachte. Während viele seiner Freunde sich in dieser schwierigen Zeit von ihm abwandten, hielt Wally treu zu ihm. Sie besuchte ihn im Gefängnis, brachte frisches Obst und Malsachen mit. Dieses Verhalten rechnete ihr der junge Maler hoch an, die Beziehung schien sich zu verfestigen, was vor allem die Zeichnungen verdeutlichen. Während Wally vor diesem Ereignis nicht widererkennbar ist, taucht sie plötzlich als Person im Werk von Egon Schiele auf. Das Bildnis markiert den Höhepunkt der gewachsenen emotionalen Bindung zwischen den beiden.
Dennoch schrieb Wally am 8. Januar 1913 in ein Skizzenbuch von Egon Schiele, dass sie „in niemanden auf der Welt verliebt“ sei. Wie diese Bestätigung zu deuten ist, ob als Provokation oder als Versicherung für den Künstler, weiterhin ungebunden und ohne Verantwortung für sie zu sein, erschließt sich aus der spärlichen Quellenlage nicht. Eine deutlichere Sprache sprechen im Vergleich dazu die vielen erotisch-pornografischen Zeichnungen Schieles.
Während Walburga Neuzil in den Arbeiten von 1911 kaum erkennbar ist, vielleicht ist sie das Modell in „Sitzendes Mädchen, der Oberkörper nackt, hellblauer Rock“ (1911) aus dem Gemeentemuseum, taucht ihr rotblonder, mit einem Tuch gebändigter Haarschopf ab Mitte 1912 immer wieder auf. Sie ist aber nicht nur in porträthaften Zeichnungen wiedererkennbar, sondern auch in höchst expliziten Szenen von Liebespaaren in Aktion. Hier zeigt sich die Nähe des Modells zu einer Prostituierten, wenn man nicht von einer besonders liberalen Einstellung Wallys ausgehen möchte. Den Beginn der Ausstellung machen daher auch Hinweise auf Frauenberufe und „Körperarbeiterinnen“, von „Grabennymphen“ bis Artistinnen. Die Tabuisierung von Körper, Nacktheit und Sexualität in der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts führte zur generellen sozialen Diskreditierung von Modellen. Ein Eintrag von Anton Peschka in dessen Notizbuch (um 1912, Wien Museum) legt das Verhältnis Wally-Schiele scheinbar offen:
„Mich interessierte dies Erlebnis der Dirne [= Wally!]! – Dieses Erlebnis mehr als das des Malers der die Dirne liebte und bei sich behielt! Sie befriedigte gewiss seine erotische Begierde im vollen Masse. Seiner Eitelkeit fröhnte sie durch ihre königliche Erscheinung, seinen Launen wusste sie zu begegnen! – Es wird doch merkwürdig sein wenn die Stunde kommt, wo er ihrer satt, sie seiner satt sein wird! – Können diese Menschen sich satt werden?“2
Das 1915 entstandene Gemälde „Tod und Mädchen“ aus dem Besitz des Belvedere wird oft biografisch erklärt. Es spiegle die konfliktreiche Trennung von Egon Schiele von seiner langjährigen Geliebten, Muse, Modell Wally Neuzil wieder. Gleichzeitig beschäftigte sich Schiele aber auch mit einer vierhundertjährigen Tradition, in der der Tod das junge Mädchen holt, und es sich seiner Angst stellen muss. Vor allem in der Romantik wurde das Thema sowohl in der Poesie als auch der Musik oft umgesetzt. Berühmt ist vor allem die Vertonung eines Gedichts von Matthias Claudius durch Franz Schubert. Claudius lässt das Mädchen bitten: „Vorüber! Ach vorüber! Geh wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.“. Der Tod antwortet ihr unerbittlich aber sanft: „Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund, und komme nicht, zu strafen: Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen.“
Schiele setzte die Horizontlinie weit oben im Gemälde an, die beiden Figuren füllen nahezu gänzlich den Landschaftsstreifen. Ein strahlend weißes Tuch mit vielen Falten hinterfängt das Paar wie ein Bettlaken. Innig umarmen einander Tod und Mädchen. Zärtlich und wie ein Geliebter umfängt der Tod die Sterbende. Einzig die Andeutung eines Heiligenscheins rund um seinen Kopf lässt die männliche Person als nicht von dieser Welt erscheinen. Er schaut mit weit geöffneten Augen vor sich hin, während sie ihre Augen schon geschlossen hat. Der stilistische Wandel vom expressiven Frühwerk zum reifen Œuvre des Künstlers ist damit abgeschlossen. Vielleicht auch, wie Diethard Leopold vermutet, die Entwicklung Schieles vom jungen Erwachsenen zum Mann. Im gleichen Moment verließ er Wally, die ihm auf diesem Weg gedient, ihn aber auch begleitet und angeleitet hat.
Für sich selbst wählte Walburga Neuzil einen neuen Weg, indem sie sich zur Krankenschwester ausbilden ließ. Nach zweijähriger Arbeit in Wien ließ sie sich nach Dalmatien versetzten, so sie am 25. Dezember 1917 an Scharlach verstarb. Egon und Edith Schiele erlagen weniger als ein Jahr später der Spanische Grippe.
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