Alice Halicka

Wer war Alice Halicka?

Alice Halicka oder Alicja Halicka (Krakau 20.12.1894–30.12.1974 Paris) war eine französische Malerin und Illustratorin der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne). Wie auch ihr Ehemann, der kubistische Maler Louis Marcoussis, war Halicka sowohl polnischer als auch jüdischer Herkunft. Alice Halickas Werk wird der École de Paris zugeschrieben, stilistisch bewegte sie sich vom Kubismus zum Post-Impressionismus, während ihre späten Bilder dem Surrealismus nahestehen.

Kindheit & Ausbildung

Alice Halicka wurde als Alice Rosenblatt am 20. Dezember 1894 in Krakau (ehem. Ks. Österreich-Ungarn) geboren. Sie wuchs als Tochter eines jüdischen, aber zum Katholizismus konvertierten Arztes Emmanuel Rosenblatt und seiner Frau Stefania Betty Goldlust in wohlhabenden Verhältnissen in der Schweiz und in Österreich-Ungarn auf. Ihre Kindheit verbrachte sie bei den Großeltern in Meran (Südtirol, heute: Italien).

Alice Rosenblatt studierte Malerei bei Józef Pankiewicz, Leon Wyczółkowski und Wojciech Weiss in der von Maria Niedzielska geleiteten, privaten Kunstschule für Frauen in Krakau. Nach einem kurzen Aufenthalt in München mit Studien bei Simon Hollósy zog sie 1912 nach Paris, wo sie unter Paul Sérusier und Maurice Denis an der Académie Ranson, früheren Mitgliedern der Künstlergruppe Nabis, aber auch bei Fernand Cormon ihre Studien fortsetzte. Ihr Aufenthalt in Frankreich war unterbrochen von Reisen nach Österreich, Großbritannien, Spanien, in die Schweiz und nach Marokko.

Kubismus bis Post-Impressionismus

In Paris lernte Alice den aus Warschau stammenden Künstler Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Markus, 1878–1941) kennen, den sie 1913 heiratete und mit ihm in die Rue Caulaincourt zog. Dort wohnte das Künstlerpaar bis 1939. Ihr Trauzeuge war Zygmunt Brunner. Durch Marcoussis kam Halicka in die „bande de peintres cubistes [Truppe der kubistischen Maler]“ (→ Kubismus), der sie bis zum Jahr 1921 angehörte. Zu ihrem Freundeskreis zählten auch Pablo Picasso, Georges Braque, Amedeo Modigliani, Max Jacob, André Salmon, Marie Laurencin, Tsuguharu Foujita.1 Von Georges Braque, Fernand Fleuset, René Crevel, Francis Carco, André Gide, Jean Cassou, Marcel Jouhandeau, Tristan Tzara, Gaston Bachelard und Pierre Reverdy schuf Halicka Porträts. Die Künstlerin erinnerte sich:

„1913 wurde ich die Frau von Marcoussis. Mein Vater, ein bürgerlicher, polnischer Arzt, und mein Reeder-Großvater waren mit dieser Ehe mit einem Künstler nicht sehr einverstanden, sondern fanden sich damit ab. Ich war angeblich reich, aber das war es nicht. Aufgrund der Inflation hielt es nicht lange an und ich musste meinen Schmuck verkaufen. Als verblendete, kleine Provinzlerin lauschte ich, aus Krakau kommend, Marcoussis' Geschichten wie den Erzählungen aus ‚Tausendundeiner Nacht‘, er hatte Sinn für Komik und verzauberte mich mit seinen Talenten als Geschichtenerzähler. Ich nahm Malunterricht an den Akademien, zuerst bei Maurice Denis, dann bei Cormon, einem bärtigen Feuerwehrmann. Er mied mich, als wäre ich von der Pest befallen, und die Studenten hielten mich für eine Verrückte. Ich arbeitete im Kubismus, eine für sie verfluchte Kunst, eine antigriechische Kunst, die sich auf die l'art nègre [Negerkunst] bezog. Ich ließ mich gerne überraschen, wie Diaghilev bei seiner Ankunft in Paris zu Cocteau gesagt hatte: ‚Erstaune mich!‘ Marcoussis erstaunte mich, indem er mich mitnahm, Braque und Picasso zu sehen, Marcoussis hatte zuvor eine Freundin mit dem Spitznamen Eva, die Picasso schnell erobern wollte, nicht mit Blumen, das war zu banal, sondern mit einem Camembert, der in der Rue Lepic gekauft wurde. Ich hatte diese Eva während einer Flussschifffahrt auf der Seine kennengelernt. Sie war auf einem anderen Boot mit Max Jacob und einem jungen Mann mit einer Locke, der kein anderer als Picasso war. Marcoussis stellte sie mir so aus der Ferne vor. Picasso ließ sich von dieser hübschen Japanerin zu einem berühmten Collage-Gemälde mit dem Titel ‚J'aime Eva‘ inspirieren.
Ich kannte Juan Gris und schätzte seine Intelligenz und künstlerische Ehrlichkeit. Er kam zweimal die Woche zum Mittagessen in unser Atelier in der Rue Caulaincourt. Marcoussis und er waren zwei Alchemisten. Sie wollten die Geheimnisse des Kubismus bewahren.“

Auf einer Ausstellung 1914 im „Salon des Indépendants“ erwähnte der äußerst gut vernetzte Dichter Guillaume Apollinaire Halickas kubistische Stillleben. Ihre Arbeiten zeigte sie regelmäßig bei Berthe Weill und Bernheim-Jeune.

Während des Ersten Weltkriegs diente Marcoussis in der Armee (1914–1919); Alice flüchtete in die Normandie und widmete sich der Malerei. Nach seiner Rückkehr riet er ihr von der Malerei ab, da er der Ansicht war, ein Kubist reiche in der Familie.2 Halicka verbannte oder zerstörte einen Teil ihrer Gemälde, lagerte etwa 60 Gemälde, Gouachen und gerollte Zeichnungen am Dachboden, änderte ihren Stil und löste sich vom Kubismus. Durch Vermittlung von Raoul Dufy arbeitete die Künstlerin 1919 für Bianchini, eine Seidenmanufaktur in Lyon.

Ab den 1920er Jahren kehrte Alice Halicka zu einem naturalistischeren Stil zurück und nahm regelmäßig an den jährlichen Pariser Salons teil. Parallel dazu widmete sie sich dem Kunstgewerbe und entwarf Kostüme und Bühnenbilder. Die Künstlerin reiste 1921 nach Polen, wo sie eine Reihe von Bildern des jüdischen Viertels in Krakau malte, und nach London, wo sie die Mitglieder der Bloomsbury Group traf darunter Roger Fry. Für ihre Bilder wählte sie den Stil des polnischen Post-Impressionismus.

1922 brachte sie ihr einziges Kind mit Marcoussis, Madeleine (Malène), zur Welt. 1925 illustrierte sie mehrere Bücher, darunter „Enfantines“ von Valéry Larbaud und „Les Enfants du Ghetto“ von Israel Zangwill.

Ab den 1920er Jahren bewegte sich Alice Halicka auch im Kreis der Surrealisten rund um André Breton, Max Ernst, Paul Eluard, Foujita, Orson Welles. Als der Maler Albert Besnard 1923 den „Salon des Tuileries2 gründete, nahmen neben Alice Halicka auch Henri Hayden, Georges Kars, Moïse Kisling und Ossip Zadkine daran teil. 1924 stellte Alice Halicka ihre neuesten Gemälde in der Galerie Druet, Paris, aus.

Romances capitonnées

Um 1923 wandte sich Alice Halicka experimentellen Collagen aus unterschiedlichen Materialien - Stoff oder Posamente – auf Papier und aufgezogener Leinwand zu, gerahmt unter Glas.3 Prinzessin Lucien Murat gab ihnen den Namen „romances capitonnées [aufgepolsterte Romane]“.4 Die Ursprünge dieser „Romanzen“ liegen sowohl in der Sammlung von Épinal-Bildern, die ihr Mann besaß, als auch in seinem Eintauchen in die Welt der Textilien und der Mode. Halicka ließ sich für figurative Szenen vom Zirkus, von der Musik und den Werken Alter Meister (Goya, Delacroix, Monet, Seurat) inspirieren. Sie alle erzählen eine Geschichte und die Figuren, die sie beleben, können als „Flachreliefpuppen“ bezeichnet werden.

„Immer unzufrieden, habe ich oft meinen Stil geändert. Nach der kubistischen Periode, die ich durch Auslöschung [effacement] aufgab, musste ich, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, Muster für Stoffe und Papiertapeten entwerfen. Dufy stellte mich Bianchini und Rodier vor, für die er bedruckte Stoffdesigns malte. 1920 lernte ich Prinzessin Murat kennen und in ihrer Buchhandlung-Galerie-Teestube auf der Île Saint Louis – genannt ‚Ferme de Nuit‘ – verkaufte sie meine Werke. Ich hatte kleine Gemälde erfunden, die wie eine Wiege und eine Spielzeugkiste aussahen, eine Mischung aus Farbe, Basrelief, Lumpen, Knöpfen, geklebtem Papier, Draht, Federn, alles gleichzeitig sentimental, poetisch und wahnhaft. Die witzige Prinzessin nannte sie ‚Romance capitonnée [gepolsterte Romanzen]‘, und ganz Paris, elegant und zynisch, kaufte meine Romanzen, die auf der ganzen Welt kopiert wurden. Das wurde mir 1935 während meines Aufenthalts in Amerika klar, wo ich mit Helena Rubinstein gelandet war, um Gouachen zum Thema ‚Place de la Concorde‘, ihrer Werbung, anzufertigen. In New York stellte ich Zeichnungen aus und erhielt einen unerwarteten Auftrag, das Porträt eines Hundes in ‚Romance capitonnée‘ für einen Kunden, der verlangte, dass das Tier intelligent aussieht und fragte, ob der Hintergrund handgemalt sei, war im Preis inbegriffen.“5 (Alice Halicka)

Diese kleinen, leicht naiven, farbenfrohen Gemälde beschreiben Freizeitverhalten oder orientalische Inspirationen. Die ersten Collagen erschienen 1923 in der Zeitschrift „Vogue“ und nahmen dann an einem Dutzend Ausstellungen in New York, London und Paris teil. Alice Halicka stellte diese kunstgewerblichen Arbeiten zunächst in den 1920er Jahren in Paris aus, dann in den 1930er Jahren in New York, wo sie an der Dekoration von Helena Rubinsteins Schönheitssalons sowie an Bühnenbildern und Theaterkostümen arbeitete. Ein paar „gepolsterte Romanzen“ wurden von Helena Rubinstein und Katherine S. Dreier, aber auch von Paul Poiret und Oskar Reinhart gesammelt.6

Zwischen 1935 und 1938 besuchte Alice Halicka dreimal New York, wo sie 1935 an einer Werbeveranstaltung für Helena Rubinstein mitwirkte und 1937 an der Dekoration und den Kostümen für Igor Stravinskys Ballett „Le Baiser de la Fée“, das in der Metropolitan Opera mit einer Choreografie von George Balanchine aufgeführt wurde.

Zweiter Weltkrieg

Die Familie zog 1940 nach Cusset nahe Vichy (Département Allier), wo Louis Marcoussis am 22. Oktober 1941 an Krebs starb. Während des Zweiten Weltkriegs wechselte Halicka regelmäßig ihren Wohnsitz und lebte beispielsweise in Marseille, Wien und in Chamonix.

Späte Werke

Nach dem Ende des Kriegs kehrte Alice Halicka 1945 nach Paris zurück, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Nun stellte die Malerin in der Galerie de l’Elysée zum Thema „Paris“ aus, verfasste 1946 ihre Autobiografie „Hier [Gestern]“ und schrieb für „Les Nouvelles Littéraires“ die Kolumne „A l’ombre du Bateau-Lavoir [Im Schatten des Bateau-Lavoir]“. Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet durch Reisen zu Ausstellungen ihrer Werke innerhalb Europas (Warschau, Krakau, Paris, Bordeaux), nach Indien, wo sie drei Monate lebte, in die Vereinigten Staaten und in die UdSSR. Ihre Malerei stand nun dem Surrealismus nahe.

Tod

Alice Halicka starb am 30. Dezember 1974 im Alter von 85 Jahren in Paris. Die Künstlerin wurde in Vichy begraben.

  1. Siehe: Alice Halicka in: Shalom Magazine (letzter Aufruf 3.1.2023)
  2. Siehe: Paula Birnbaum, Women Artists in Interwar France: Framing Feminities, Farnham 2011, S. 129–138.
  3. Anna Millers, Romances capitonnées : Alice Halicka (1894–1975), l’étoffe d’un peintre, mémoire d’étude sous la direction de Mica Gherghescu et Didier Schulmann, Paris, 2017.
  4. Princesse Lucien Murat, Mme Halicka, in: Comoedia, nº 4.739, 1925, S. 3.
  5. Alice Halicka, zitiert von Oscar Ghez.
  6. The Société Anonyme: Modernism, hg. v. Jennifer R. Gross (Ausst.-Kat. Los Angeles, Hammer Museum, 23.4.–20.8.2006; Washington, D.C., The Phillips Collection, 14.10.2006–21.1.2007; Dallas, The Dallas Museum of Art, 10.6.–16.9.; Nashville, The Frist Center for Visual Arts, 26.10.2007–3.2.2008, Yale University Art Gallery, 2010), New Haven 2006, S. 320.