Marie Vassilieff

Wer war Marie Vassilieff?

Marie Vassilieff (Smolensk 12.2.1884–14.5.1957 Nogent-sur-Marne) war eine russisch-französische Malerin und Bildhauerin des Kubismus. Mit ihrer Malerei gehörte Vassilieff zur zweiten Generation der französischen Kubisten; sie war die erste weibliche Vertreterin dieser Stilrichtung.

Kindheit & Ausbildung

Marie Vassilieff, russisch Marija Iwanowna Wassiljewa, Мария Ивановна Васильева, wurde am 12. Februar 1884 in Smolensk, Russisches Kaiserreich (heute: Russland) geboren.

Im Jahr 1902 studierte Marie Vassilieff Medizin in Sankt Petersburg, gab jedoch das Studium auf, um an die Petersburger Kunstakademie zu wechseln und Malerei zu studieren. 1905 erhielt sie ein Stipendium und zog nach Paris. Dort arbeitete sie als Korrespondentin für eine russische Zeitung. Gleichzeitig wurde Vassilieff Schülerin an der von Henri Le Fauconnier und Jean Metzinger geleiteten Académie de la Palette sowie des damals noch im Stil des Impressionismus arbeitenden Henri Matisse (1869–1954).

Académie russe & Académie Vassilieff

Ab November 1910 stand Marie Vassilieff der Freien Schule vor, die inoffiziell bereits als Académie Vassilieff bezeichnet wurde, und war eine der Gründerinnen des Nachfolgeinstituts, der Académie russe, aus der sie aber schon bald wieder ausschied. Wann genau die Académie Vassilieff gegründet wurde, ist nicht bekannt. Aus der Korrespondenz mit Henri Matisse lässt sich ableiten, dass in der zweiten Jahreshälfte 1911 die Ausbildungsstätte eröffnet worden sein muss (Brief vom 8.12.1911). Ab 1912 führte Marie Vassilieff in ihrem Atelier in der 21 Avenue du Maine eine eigene Schule, die sie nunmehr offiziell Académie Vassilieff nannte. Dort arbeiteten unter anderem Natan Altman (1910/11) und Xenia Boguslawskaja (1911–1913), Nina Hamnett, Alexandra Povòrina und Ossip Zadkine.

Innerhalb kürzester Zeit machte sie Bekanntschaft mit den bekanntesten Künstlern der Stadt, unter anderem Georges Braque, Fernand Léger, Jean Cocteau, Juan Gris, Pablo Picasso und Amedeo Modigliani. Mit dem mexikanischen Maler Diego Rivera hatte Vassilieff eine Liaison. Léger hielt an der Académie Vassilieff die Vorträge „Les origines de la peinture contemporaine et sa valeur représentative“ (5.5.1913) und „Les réalisations picturales actuelles“ (9.5.1914).

Vassilieff stellte regelmäßig ihre Werke im Salon d'Automne (1914) und im Salon des Indépendants aus. Daneben unterhielt sie enge Beziehungen zur russischen Avantgarde und nahm an Ausstellungen in Russland teil. In den Jahren von 1909 bis 1914 unternahm sie mehrere Reisen nach Skandinavien, Rumänien, Polen und Russland, um neue Inspiration für ihre Bilder zu sammeln.

Seit 1912 unterhielt Vassilieff in der 21 Avenue du Maine, im Künstlerviertel Montparnasse gelegen, ein eigenes Atelier, wo sich zahlreiche Künstler der Avantgarde trafen. Jean Cocteau widmete am 12. August 1916 Picasso und ihren gemeinsamen Freunden eine Fotoreportage: Auf den 21 Aufnahmen, die an diesem Tag im Café „La Rotonde“ und in dessen Umgebung entstanden, sind neben Picasso die Maler:innen Marie Vassilieff, Moise Kisling, Amedeo Modigliani, Manuel Ortiz de Zarate, die Dichter Max Jacob und André Salmon, die Schauspielerin Pâquerette und der Schriftsteller Henri-Pierre Roché zu sehen.1 Am 14. Januar 1917 veranstaltet Marie Vassilieff gemeinsam mit Max Jacob Bankett zu Ehren von Georges Braque.

Während des Ersten Weltkriegs engagierte sich Marie Vassilieff stark für das französische Rotes Kreuz. Sie gründete 1915 eine private Kantine, wo verarmte Künstler:innen billig Essen einnehmen und sich trotz der abendlichen Ausgangssperre treffen konnten (bis 1917 oder 1918). Ab 1916 gestaltete sie groteske Puppen für das Puppentheater von Géza Blattner in Paris und war als Bühnenbildnerin tätig. Die Polizei inhaftierte Marie Vassilieff 1917 mit der Begründung, sie wäre eine bolschewistische Spionin.

Marie Vassilieff auf der Ausstellung „0,10“

Ende Dezember 1915 nahm Marie Vassilieff – unter ihrem russischen Namen Maria Iwanowna Wassiljewa – neben 13 anderen Künstlern, darunter Kasimir Malewitsch, an der Suprematismus-Ausstellung „0,10“ in Petrograd (heute: St. Petersburg) teil.2 Die in Paris lebende Malerin war zu Teilnahme eingeladen worden, weil sie als beachtenswert und exemplarisch galt (weitere Künstler:innen waren Natan Altman, Wassili Kamenski und Anna Kirillowa). Vassilieff kam regelmäßig nach Russland, um sich an Ausstellungen zu beteiligen, was während des Ersten Weltkriegs eine bemerkenswerte Reise gewesen sein muss. Im Katalog hat sie sogar eine Adresse in Moskau.

Von Vassilieffs sechs – durchgehend betitelten – Exponaten in „0,10“ konnten in der Zwischenzeit drei mit entsprechenden Titeln oder Sujets und Datierungen ausfindig gemacht werden. Da Vassilieff in dieser Zeit viele Werke in ähnlicher kubistischer Bildsprache und mit vergleichbaren Sujets schuf, ist nur mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die identifizierten Exponate tatsächlich in „0,10“ gezeigt wurden. In stilistischer Hinsicht war Vassilieffs Werk wohl das zurückhaltendste der ganzen Ausstellung. Ihre Landschaften kann man als „simultane Synthese“ bezeichnen, die chronologisch in enger Verbindung zu den Architekturlandschaften von Alexandra Exter und Aristarch Lentulow stehen.3

Marie Vassilieff wurden im ersten Raum gezeigt und von der Künstlerin mit Preisen zwischen 200 und 800 Rubel beziffert, was sie zu den teuersten Exponaten der Ausstellung machte. Erstaunlicherweise wurde „Spanische Landschaft“ in einer Zeitungskritik eigens gewürdigt:

„Den Rekord des künstlerischen Schaffens hat indes wohl Maria Iwanowna Wassiljewa errungen. Sie stellt eine weiße Holzplatte von ¼ Arschin Länge und etwa 3 Werschok Breite [ca. 18 x 13 cm] ›zur Schau‹; an einer Längsseite ist die Platte halbkreisförmig beschnitten, und sie liegt auf dem Sims eines Fensters.“ 4

Kubistische Porträts

Das Wissen über Leben und Werk von Marie Vassilieff weist immer wieder große Lücken auf: So ist nicht bekannt, wann sie ihr Atelier aufgab oder dieses vielleicht als Museum nutzte. Als neue Adressen kursieren 37 rue Froideveaux, 54 rue Froideveaux (14. Bezirk) und 54 Avenue du Maine. Im Jahr 1929 war sie in der 37 rue Froideveaux gemeldet. Um die Mitte der 1930er Jahre dürfte Vassilieff ihre Werke in ihrer Wohnung museal präsentiert haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Ausstellungen in New York City und in London. Zu dieser Zeit malte Marie Vassilieff vornehmlich – wie viele ihrer berühmten Freunde – im kubistischen Stil. Sie zog 1938 in den Süden Frankreichs und kehrte 1946 nach Paris zurück. Kurz vor ihrem Tod fand 1957 eine große Retrospektive in Paris statt.

Tod

Marie Vassilieff lebte von 1953 bis 1957 im Maison nationale des artistes. Die Malerin starb am 14. Mai 1957 in Nogent-sur-Marne, wo sie auch bestattet wurde.

Rezeption

Ihre Werke sind in bedeutenden Museen vertreten, unter anderem in Chicago, Grenoble, La Rochelle und Paris. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Künstlerin erst später rezipiert. Erst 1995 widmete ihr das Verborgene Museum in Berlin eine Einzelausstellung (12.10.1995–10.12.1995).

Bilder

  • Marie Vassilieff, Frau mit Fächer, 1910, Öl auf Leinwand, 59,5 × 72,5 cm (Thyssen-Bornemisza Collections)
  • Marie Vassilieff, Spanischer Hafen, 1915, Öl auf Leinwand, 45,3 x 59,9 cm (Claude Bernes Collection, Paris)
  • Marie Vassilieff, Spanische Landschaft, 1915, Öl auf Leinwand, 46 x 61 cm (Claude Bernes Collection, Paris)
  • Marie Vassilieff, Dächer (Fontarabia), 1915, Öl auf Leinwand, 72 x 59 cm (Sammlung V. Tsarenkov)
  • Marie Vassilieff & Jean Börlin, Kostüm für Le Bal Olympique, 1924, Fotografie von Isabey (Claude Bernès collection)
  • Amedeo Modigliani, Porträt von Marie Vassilieff, um 1918, Öl auf Leinwand

Weitere Beiträge zu Marie Vassilieff

Biennale di Venezia

Künstler:innen der Biennale 2022


Cecilia Alemani, Kuratorin der 59. Biennale von Venedig und Roberto Cicutto, Präsident der Biennale präsentierten Konzept und Liste der eingeladenen Künstler:innen der 59. Biennale von Venedig (23.4.–27.11.2022).
  1. Ioannis Kontaxopoulos, Piacco und Cocetau. Chronik einer Freundschaft in drei Akten, in: Cocteau trifft Picasso, hg. v. Ioannis Kontaxopoulos und Markus Müller (Ausst.-Kat. Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, 18.7.–18.10.2015) München 2015, S. 202–237, hier S. 207–208.
  2. Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, hg. Matthew Drutt (Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen b. Basel, 4.10.2015–10.1.2016), Ostfildern 2015.
  3. Siehe: Ebenda. Die Einschätzung stammt von Jean-Claude Marcadé.
  4. Siehe: Ebenda.