Sigrid Hjertén: schwedische Malerin des Expressionismus | ARTinWORDS

Sigrid Hjertén

Wer war Sigrid Hjertén?

Sigrid Hjertén (Sundsvall 27.10.1885–24.3.1948 Stockholm) war eine schwedische Malerin des Expressionismus. Hertjén war dem expressionistischen Maler Isaac Grünewald verheiratet, der sie 1909 inspiriert hatte, nach Paris zu übersiedeln, um bei Henri Matisse ihre Ausbildung weiterzuführen. Geprägt vom Fauvismus, kehrte Sigrid Hjertén 1911 wieder nach Stückholm zurück, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann zu den Pionierinnen der Moderne in Schweden (→ Klassische Moderne).

Kindheit & Ausbildung

Sigrid Hjertén stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie und wuchs in der nordschwedischen Hafenstadt Sundsvall auf, die stark von der Holzindustrie geprägt wurde. Nachdem ihre Mutter früh verstorben war, heiratete Hjerténs Vater, der als Rechtsanwalt tätig war, eine Schwester des Architekten Ragnar Östberg (1866–1945). Die Familie zog daraufhin 1897 nach Stockholm, wo Hjertén aufwuchs.

Nach einer abgeschlossenen Ausbildung zur Zeichenlehrerin an der Kunsthochschule in Stockholm hatte sie zunächst vor, Textildesign in England zu studieren. Nach dem Examen arbeitete Hjertén für einen Kunsthandwerksbetrieb und entwarf Wandteppiche.

Im Frühjahr 1909 lernte Sigrid Hjertén bei einem Atelierfest den 21-jährigen Maler Isaac Grünewald (1889–1946) kennen, der seit 1908 an der Académie Matisse studierte, und sie überzeugte, ihm nach Paris zu folgen und sich dort der Malerei zu widmen.

Hjertén bei Matisse

Zwischen 1909 und 1911 hielt sich Sigrid Hjertén in Paris auf, wo sie eineinhalb Jahre mit Grünewald in bescheidenen Verhältnissen lebte. In den Studienjahren wurde Hjertén aufgrund der Farbigkeit ihrer Gemälde schnell eine Lieblingsschülerin von Henri Matisse1, der einmal pro Woche in seine Akademie kam. Dort korrigierte er – meist freitags – etwa 40 Schülerinnen und Schüler.

„Ihr seid nicht hier, um Kunstwerke zu machen, versucht nicht, extravagant und originell zu sein, ihr soll hier lernen zu reifen, um eure eigene Individualität entwickeln zu können.“2

Das expressionistische Werk Sigrid Hjerténs ist charakterisiert durch flächige Bildkompositionen mit großen Farbarealen und kräftiger, kontrastreicher Farbigkeit. Die Umrisslinien der Fomen sind stark vereinfacht. Hjerténs erste Ölgemälde, überwiegend Aktstudien und Stillleben, waren noch stark von Paul Cézanne beeinflusst.

Zu den Bekannten und Freunden Sigrid Hjerténs in Paris gehörten Mitglieder der relativ großen skandinavischen Künstlerkolonie sowie die Künstler Guillaume Apollinaire, Max Jacob, Jean Mauréas und Jules Pascin.

„Die gleichen Qualitäten, die wir bei den Chinesen und Persern bewundern, finden sich bei einem Cézanne und einem Vincent van Gogh wieder. Diese herausragenden Eigenschaften, die sowohl den modernen Malern unserer Zeit wie auch den Menschen jener jahrhundertealten Reiche eigen sind, verweisen auf etwas Grundlegendes […]: die konsequente Reduktion der Linien, um eine größtmögliche Ausdruckskraft zu erzielen, die Unterordnung der Proportionen unter die Kraft der Komposition. […] Die Bewegung einer Figur drückt sich heutzutage in dem Schwung einer einzigen Linie aus. Die geschwungene Linie bildet die Melodie eines Kunstwerks. Nichts an der Figur sollte dieses Ergebnis stören.“3

Schwedische Expressionistin in Stockholm

Im Frühsommer 1911 kehrte Sigrid Hjertén nach Stockholm zurück. Sie heiratete Isaac Grünewald und brachte im November 1911 ihre gemeinsamen Sohn Iván zur Welt. Hjertén trat als einziges weibliches Mitglied der progressiven Künstlergruppe „De åtta [Die Acht]“ bei. In dieser Zeit malte die Fauvistin Interieurs aus ihrem Atelier im Zentrum von Stockholm, oft mit ihrem Sohn als Modell. Ein weiteres häufiges Motiv ist der Blick aus dem Atelier auf Plätze, Wasser und Anlegestellen, verbunden mit Zeichen der Modernität wie Eisenbahngleise mit Güterwaggons, Krönen oder Dreschmaschinen. Häufig erinnern ihre Arrangements an Werke von Henri Matisse.

Im Frühjahr 1912 stellte sie erstmals ihre Werke bei „De åtta [Die Acht]“aus. „De åtta [Die Acht]“ hatte sich von den rein männlichen „Jungen“ abgespalten; alle Mitglieder waren in Paris gewesen. Hjerténs Rolle im schwedischen Kunstleben und die Aktivitäten der Avantgardegruppen „De unga [Die Jungen]“ und „Die Acht“, lassen sich mit der zeitgleichen Bewegung des 1911 gegründeten „Blauen Reiter“ in Deutschland und hier durchaus mit der Rolle Gabriele Münters – der Lebensgefährtin Wassily Kandinskys – vergleichen. Als Münter im Sommer 1915 nach Stückholm reiste, stellte die schwedische Ehefrau von Herwarth Walden den Kontakt zwischen den beiden Künstlerinnen her. Sie freundeten sich an, was wohl auch der vergleichbaren sozialen und künstlerischen Position der beiden Malerinnen geschuldet war. Die Zerrissenheit Hjerténs in ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau und Künstlerin lässt sich an einer Reihe von Bildern nachweisen, in denen sie sich in einer auffälligen Entrücktheit darstellt.

Im Jahr 1914 zog das Künstler-Paar in eine Wohnung samt Atelier im Katarinavägen. Dort schufen sie einen zentralen Treffpunkt für die Intellektuellen der Stadt. Wie auch Grünewald bewegte sich Hjertén während der 1910er Jahre in der Öffentlichkeit, indem sie Ausstellungen organisierte, an Debatten teilnahm und Zeitungsartikel über ihre Werke geschrieben wurden. Gemeinsam mit Grünewald, Jolin und anderen modernen Künstler:innen gründete Sigrid Hjertén 1914 die Gruppe „Die Expressionisten“, die auf der „Baltischen Ausstellung“ in Malmö auftrat.

Im Kurzfilm „Är dansen på förfall? [Gibt es einen verfall der Tanzkunst?]“ (1915) trat die Künstlerin auf; der Film wurde jedoch als jugendgefährdend eingestuft und verboten. Obschon Isaac Grünewald von den Zeitgenoss:innen als der bedeutendere Maler angesehen wurde, nahm auch Sigrid Hjertén aktiv an öffentlichen Debatten teil.

Der kommerzielle Erfolg blieb in diesen Jahren noch aus, auch als die „Sturm“-Galerie die Schau „Schwedische Expressionisten“ (1915) ausrichtete. Herwarth Walden förderte die schwedische Expressionistin, indem er sie u.a. im Herbst 1915 in Gruppenausstellung in Berlin mit Werken von Wassily Kandinsky und Oskar Kokoschka präsentierte. Nach der Begegnung mit dem deutschen Expressionismus radikalisierte Sigrid Hjertén ihr Kolorit; ihre Gemälde sind noch kräftiger und gewagter in der Farbgebung. Das malerische Werk der schwedischen Künstlerin wird deshalb häufiger mit den Gemälden der deutschen Expressionisten als mit den französischen Fauvisten verglichen. Allen voran die Gemälde Ernst Ludwig Kirchners werden in diesem Zusammenhang genannt. Weiters ließ sich Sigrid Hjertén auch vom Werk des schwedischen Malers Ernst Josesphson (1851–1906) inspirieren.

Ateljéinteriör [Im Atelier]

Eines von Hjerténs bekanntesten Werken ist das Ölgemälde „Im Atelier“ (1916, 176 x 203 cm, Moderna Museet, Stockholm). In der Darstellung verband die Künstlerin die Rollen ihres Lebens: Künstlerin, Frau und Mutter. Hjertén sitzt am Sofa zwischen ihrem Ehemann Isaac Grünewald und möglicherweise Einar Jolin. Die beiden Künstler scheinen über ihren Kopf hinweg miteinander zu sprechen, während die Künstlerin selbst in die Ferne blickt. Im Vordergrund dominiert eine schwarzgekleidete Frau die Darstellung. Die männliche Figur könnte den Künstler Nils Dardel meinen. Hjerténs Sohn Ivàn krabbelt aus der rechten unteren Ecke. Im Hintergrund zeigt die Malerin eines ihrer Werke aus dieser Zeit: „Zigenarkvinna [Zigeunerin]“. Neben „Den röda rullgardinen [Das rote Rollo]“ (1916) gehört „Ateljéinteriör [Im Atelier]“ zu den bemerkenswertesten Arbeiten des Expressionismus in Stockholm.

Als Sigrid Hjertén Anfang 1917 in einer Ausstellung in der Kunsthalle Lijevalchs in Stockholm ihre Werke präsentierte, wurde sie dafür äußerst heftig kritisiert:

„Hjertén […] füllt in einem kleineren Saal eine Wand mit ihren Abscheulichkeiten, die schlimmsten und ekligsten, die sie jemals gezeigt hat. […] Das hat nichts mit Kunst zu tun. Es sind verkrüppelte Ausgeburten, entweder auf dem Gebite der Intelligenz oder der Moral.[…] “4

Paris

Im Jahr 1920 siedelte Hjertén zusammen mit ihrer Familie erneut nach Paris über, wo sie eher ein zurückgezogenes Privatleben führte. Die Familie reiste in Frankreich auf das Land und an die italienische Riviera, wo sie gemeinsam malte. Diese Phase war relativ harmonisch, allerdings stellte Hjertén nicht häufig aus. Grünewald besuchte oft Stockholm, wo er eine höchst erfolgreiche Karriere hatte.

Im Jahr 1928 machten sich die ersten Anzeichen einer drohenden Geisteskrankheit bemerkbar. Die Künstlerin fühlte sich in Frankreich isoliert und allein. Dies macht sich im Einsatz dunkler und kühler Farben in ihrem Werk bemerkbar. Der Eindruck von Dichte entsteht auch durch Hjerténs diagonale Strichtechnik.

Späte Jahre in Stockholm

Im Jahr 1932 kehrte Sigrid Hjertén nach Stockholm zurück. Beim Packen brach die Künstlerin zusammen. Sie kam nach Schweden und wurde vorübergehend mit Symptomen einer Schizophrenie in die psychiatrische Klinik von Beckomberga gebracht.

Nachdem sie sich erholt hatte, kulminierte Hjerténs Schaffen in den folgenden zwei Jahren (1932–1934). In einem Crescendo schuf Hjertén wie eine Besessene Bilder, mit denen sie starke Gefühle ausdrückte. Hjertén widmete sich intensiv der Malerei, malte jeden Tag ein Bild, das Bilderbuch ihres Lebens, so ein Interview in der schwedischen Kunstzeitschrift „Paletten“. Hjerténs Gemälde dieser Zeit sind oft von bedrohlichen Tönen, aufziehenden Gewitterwolken und Gefühlen von Verlassenheit geprägt. Manche Gemälde strahlen Grauen aus, andere vermitteln einen warmen und harmonischen Eindruck. Ende dieser Phase, 1934, reiste die Künstlerin mit ihrer Familie nach Südeuropa, wo sie malte.

Später Ruhm

Sigrid Hjertén machte sich schließlich 1935 unter den Kritikern einen Namen als Künstlerin, als sie mit Isaac Grünewald in Göteborg ausstellte. Die meisten zeitgenössischen Kritiker hatten jedoch eine negative und sogar verächtliche Haltung gegenüber Hjerténs Kunstwerken, und viele von ihnen schrieben zutiefst beleidigende Rezensionen. Ihre Bilder hießen unter anderem „Idiotie“, „Humbug“, „Schrecken“ und „Produkte der Behinderung“.

Öffentliche Anerkennung erlangte Sigrid Hjertén erst 1936, als sie eine gut aufgenommene Einzelausstellung in der Königlich Schwedischen Akademie der Künste in Stockholm hatte. Sie stellte in ihrer Retrospektive fast 500 Werke aus. Die Ausstellung wurde als eine der bemerkenswertesten der Saison gefeiert und Hjerten als eine der größten und originellsten modernen Künstlerinnen Schwedens geehrt.5

Isaac Grünewald, der im Laufe der Jahre viele Geliebte hatte, ließ sich 1937 von Hjertén scheiden und heiratete erneut. Sowohl Isaac als auch seine zweite Ehefrau starben bei einem Flugunfall im Jahr 1946.

In den späten 1930er Jahren litt Hjertén an einer eskalierenden psychischen Erkrankung. Bei der Künstlerin wurde Schizophrenie diagnostiziert, weshalb sie dauerhaft in das Beckomberga Psychiatric Hospital in Stockholm eingeliefert wurde, wo sie für den Rest ihres Lebens blieb. Nach 1938 ging ihr künstlerisches Schaffen zurück.

Tod

Sigrid Hjertén starb am 24. März 1948 im Alter von 62 Jahren in einer Stockholmer Psychiatrie an den Folgen einer misslungenen Lobotomie.

Hjertén wurde erst in den 1990er Jahren international wiederentdeckt. So widmete die Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München der schwedischen Expressionistin die Einzelausstellung „Sigrid Hjertén – Wegbereiterin des Schwedischen Expressionismus“ (14.7.–10.10.1999).

Literatur zu Sigrid Hjertén

  • Katarina Borgh Bertorp, Sigrid Hjertén. Pionierin und Meisterin der Farbe, in: STRUM-FRAUEN. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932 (SCHIRN Kunsthalle Frankfurt, 30.10.2015–7.2.2016), Köln 2015, S. 162–165.
  • Sigrid Hjertén, Annika Gunnarsson, en Moderna museet – boken, hg. v. Cecilia Widenheim et al. (Ausst.-Kat. Moderna museet), 2004.
  • Sigrid Hjertén – Wegbereiterin des schwedischen Expressionismus, hg. v. Katarina Borgh Bertorp (Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 14.7.–10.10.1999), München 1999.
  • Katarina Borgh Bertorp, Sigrid Hjertén : l'hértière de Matisse du Grand Nord : heir of Matisse from the Far North, París 1997.
  • Gösta Lilja, Den första svenska modernismen, Lund 1986.
  • Sigrid Hjertén, hg. v. Elisabet Haglund (Ausst.-Kat. Prins Eugens Waldemarsudde), Stockholm 1985.
  • Ingrid Ingelman, Women Artists in Sweden: A Two-Front Struggle, in: Woman's Art Journal, Bd. 5.1 (Frühjahr-Sommer 1984), S. 1–7.
  • Josef Paul Hodin, Isaac Grünewald, Stockholm 1949.
  • Carl Palme, Sigrid Hjertén, Stockholm 1936.
  • Knut Barr, in: Stockholmstidningen (22.1.1917).
  • Sigrid Hjertén, Modern och österländsk konst, in: Svenska Dagbladet (24.1.1911).
  1. Matisse lobte selten, doch Hjertén gehört zu den wenigen Schüler:innen, deren Werke von ihm positiv besprochen wurden. Siehe Carl Palme, Sigrid Hjertén, Stockholm 1936, S. 8. Ebenso: Ingrid Ingelman, Women Artists in Sweden: A Two-Front Struggle, in: Woman's Art Journal, Bd. 5.1 (Frühjahr-Sommer 1984), S. 1–7.
  2. Josef Paul Hodin, Isaac Grünewald, Stockholm 1949, S. 43.
  3. Sigrid Hjertén, Modern och österländsk konst, in: Svenska Dagbladet (24.1.1911).
  4. Knut Barr, in: Stockholmstidningen (22.1.1917).
  5. Zit. n. Ingrid Ingelman 1984, S. 1–7.