Düsseldorf | K20: Vergessene Avantgarde – Queere Moderne Alternative Lebensentwürfe in der Kunst | 2025/26

Ludwig von Hofmann, Die Quelle, 1913, Öl auf Leinwand, 75 × 92 cm (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Foto: Stephan Bösch)
Die Ausstellung „Vergessene Avantgarde – Queere Moderne“ in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ist die erste Ausstellung in Europa, die den bisher unterschätzten jedoch bahnbrechenden Beitrag queerer Künstler:innen zur Moderne vorstellt. Nach einigen Ausstellungen zur Kunst der 1920er bis 1950er Jahre setzt Düsseldorf nun erstmals den teils berühmten, teils wenig bekannten Künstler:innen, ihren Netzwerken und ihrem Widerstand gegen faschistische Regime ein Denkmal.1
In ihren Werken schufen queere Künstler:innen Alternativen zu vorherrschenden Lebensentwürfen und rückten den Einfluss und die Perspektive von Gender und Sexualität auf die Stile, Bewegungen und Programme in den Mittelpunkt ihres Kunstschaffens. In ihren Werken werden Begehren, individuelle Erfahrung, die Politik der Selbstdarstellung und die Sozialgeschichte sichtbar.
Vergessene Avantgarde – Queere Moderne
Deutschland | Düsseldorf: K20
27.9.2025 – 15.2.2026
Vergessene Avantgarde – Queere Moderne in Düsseldorf
Viele der in der Düsseldorf ausgestellten Künstler:innen wurden bislang in der dominanten Geschichtsschreibung marginalisiert oder als „gegenmodern“ bezeichnet. Andere werden in der Ausstellung erstmals unter dem Blickwinkel queerer Ästhetik betrachtet. Die Gruppenausstellung „Queere Moderne“ erweitert die vermeintlichen Grenzen von Figuration und Abstraktion, beleuchtet queere Netzwerke in Paris, London und New York und erzählt Geschichten queeren Lebens in Zeiten von zwei Weltkriegen und Widerstand. Als Ergebnis jahrelanger Forschung vervollständigt diese Schau mit über 40 teils vergessenen, teils sehr bekannten Künstler:innen das facettenreiche Bild der Moderne.
Doppelporträt mit Stier: Rosa Bonheur
Die Ausstellung beginnt mit einem Prolog, der stellvertretend für den Beginn der Moderne steht: das großformatige „Doppelporträt“ (Musée d’Orsay, Paris) der Künstlerin Rosa Bonheur (1822−1899) mit einem Stier, gemalt von Édouard Dubufe im Jahr 1857. Rosa Bonheur war mit bahnbrechenden Tierdarstellungen international berühmt geworden. Da die Künstlerin das Bildnis als zu traditionell empfand, stellte sie ihrem Porträt selbstbewusst einen Stier zur Seite.
„Wenn Sie nur wüßten, wie wenig ich mir aus Ihrem ganzen Geschlecht mache […]. In Wirklichkeit interessiere ich mich, was männliche Wesen anbelangt, nur für die Stiere, die ich male.“2 (Rosa Bonheur)
Um sich etwa in Schlachthäusern oder Pferdemärkten, wo Rosa Bonheur die Tieranatomie studierte, leichter bewegen zu können, beantragte sie im Entstehungsjahr des Bildnisses bei der zuständigen Präfektur die Permission de travestissement, die polizeiliche Erlaubnis, Männerkleidung tragen zu dürfen. Am 12. Mai 1857 wurde ihrem Gesuch stattgegeben. Die emanzipierte Bonheur lebte 40 Jahre lang mit ihrer Partnerin Nathalie Micas, einer Malerin und Erfinderin von Eisenbahnbremsen, zusammen - umgeben von einer Menagerie von Tieren als eine Art alternativer Familie.
„Wäre ich ein Mann gewesen, hätte ich sie geheiratet, und niemand hätte sich all diese dummen Geschichten ausdenken können.“3 (Rosa Bonheur über ihre Beziehung zu Nathalie Micas)
- Rosa Bonheur mit Stier, 1857 (Musée d’Orsay, Paris)
- Marie Laurencin, Danseuses Espagnoles, Öl auf Leinwand, 150 × 95 cm (Paris, Musée de l’Orangerie, Jean Walter and Paul Guillaume Collection, bpk / GrandPalaisRmn / Hervé Lewandowski © VG Bild- Kunst, Bonn 2025)
Modernes Arkadien
Mit „Black Narcissus“ (1929) feierte der schwarze, US-amerikanische Künstler Richmond Barthé (1901−1989) den dunkelhäutigen Männerakt in einer aufrechtstehenden Figur. Die Haltung von Stand- und Spielbein erinnert an den antiken Apoll vom Belvedere - eine der berühmtesten Skulpturen der Antike. Barthé arbeitete im Umfeld der Harlem Renaissance – einer literarischen und künstlerischen Bewegung Schwarzer US-amerikanischer Schriftsteller:innen und Künstler:innen in New York. Zur queeren Ikonografie des frühen 20. Jahrhunderts gehört auch der „Faun“, den Barthé als Porträtbüste ausführte. Damit machte der Bildhauer den schwarzen männlichen Körper zu einem Verhandlungsort für Fragen von sozialer Emanzipation, Schwarzer Identität und Homosexualität. Sein eigenes Begehren konnte der in den 1930er Jahren sehr erfolgreiche Künstler - er gehörte neben Jacob Lawrence zu den ersten farbigen Kunstschaffenden in der Sammlung des Metropolitan Art Museum - allerdings nie in einer dauerhaften Beziehung stillen.4
Das Kapitel „Modernes Arkadien” versammelt Werke von Glyn Warren Philpot (1884−1937), Dame Ethel Walker (1861−1951) und Lotte Laserstein (1898−1993), die sich bekannter mythologischer, fantstischer und intimer Bildwelten als Tarnung bedienten, um homoerotisches Begehren darstellen zu können. So dominieren am Beginn der Ausstellung traumversunkene Akte und versteckte Orte in der Natur, wo der Schaulust und Sinnlichkeit gefrönt wird. Die rigide Sexualmoral der Jahrhundertwende ließ nichts Offensichtliches zu.
„Die Quelle“ (Thomas-Mann-Archiv, Zürich) des deutschen Jugendstilmalers Ludwig von Hofmann (1861–1945) zeigt, wie offen die arkadischen Sujets für homoerotische Phantasien sind. Der Künstler schuf das Werk 1913 und arbeitete in den folgenden Jahren weitere, teils monumentale Wandbilder mit athletischen, jungen Männern in den Hauptrollen, die unter anderem in Berlin, Weimar, Jena Leipzig zu finden sind. Thomas Mann erwarb „Die Quelle“ für sein Arbeitszimmer, schwärmte er doch für „Jünginge“ und unterdrückte seine Gefühle.
Ende der 20er Jahre zeigt sich die talentierte Malerin Lotte Laserstein mit ihm bevorzugten Modell, ihrer
mutmaßlichen Geliebten Traute Rose. Die beiden Frauen verband eine emotionale und vermutlich auch intime, körperliche Nähe, die im Doppelporträt durch das Zusammenrücken ihrer Köpfe, den sanften Griff an die Schulter zum Ausdruck gebracht wird. Laserstein steht zwischen Leinwand und Traute, sie hält einen Pinsel in ihrer Rechten und blickt selbstbewusst aus dem Bild. Auch wenn die beiden Frauen ihre (vermutete) Liebesbeziehung nicht öffentlich machten, so standen sie einander so nahe, dass die Künstlerin in Traute Rose nicht nur ein Lieblingsmodell, sondern auch eine Stütze fand.
Erst auf dem zweiten Blick offenbart das mit 183,5 × 367 cm monumentale Gemälde „Dekoration: Der Ausflug der Nausicaa“ (Tate, London) der Schottin Dame Ethel Walker seine homoerotische Bedeutung. Nausicaa ist eine Prinzessin, die gemeinsam mit ihren Gefährtinnen einen Tag am Wasser verbrachte und dabei den schiffbrüchigen Odysseus fand. Doch der ist in der Interpretation Walkers kaum auszumachen - vermutlich ist es der Knabe im Hintergrund links. Walker marginalisiert den Helden, um die Frauen in ihren Bildern hervorzuheben. Die bekennende Lesbe porträtierte zeitlebens mehr Geschlechtsgenossinnen und hielt berühmte Frauen ihrer Zeit fest, darunter Barbara Hepworth und Vanessa Bell, die Schwester von Virginia Woolfe (→ London | Courtauld Gallery: Vanessa Bell).
Sapphische Moderne
Werke lesbischer Künstlerinnen zeigen, wie Frauen mit ihrer Homoseualität künstlerisch umgingen. Die „Sapphische Moderne“ - in Düsseldorf wurde der Begriff „sapphisch“ in Anlehnung an die antike Dichterin Sappho von der Insel Lesbos zum Synonym für lesbisches Begehren gewählt - fokussiert auch auf Salons und transkulturelle Netzwerke in Paris, die von lesbischen Frauen geführt wurden. Die einflussreichsten Literatur- und Kunstsalons wurden von den Dichterinnen Natalie Barney und Gertrude Stein sowie den Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach geführt. An diesen Orten verkehrten zahlreiche Akteur:innen der sapphischen Moderne wie die Künstler:innen Romaine Brooks (1874−1970) oder Marie Laurencin (1883−1956), aber auch Vertreter:innen der Avantgarden wie zum Beispiel Pablo Picasso oder James Joyce.
Marie Laurencin hatte kurz nach 1900 ihr Atelier im BateauLavoir - als einzige Frau unter 20 Künstlern. Picasso stellte sie dem Dichter Guillaume Apollinaire 1907 als „die perfekte Verlobte“ vor.5 Laurencin nahm an Essen, Ausstellungen und Salontreffen teil. Gertrude Stein kaufte ihr Gemälde „Group of Artists“ (1908), in dem sich Laurencin mit Apollinaire, Picasso und seiner Freundin Fernande Olivier porträtierte. Erst in den 1920er Jahren - nach Trennung und Tod von Apollinaire sowie der Schweidung ihres Ehemanns - lebte Laurencin ihre Homosexualität aus. Sie schuf Kostüme und Bühnenbilder r Sergei Djagilew und die Comédie Française, arbeitete als Malerin Grafikerin und Buchillustratorin. In Düsseldorf sind ihre pastelligen Porträts von Tänzerinnen und zarte Linienführung in „Poèmes de Sappho“ (1950) zu sehen. Wie in seinem Katalogbeitrag richtig anmerkt, lässt sich Laurencins antisemitische Haltung und ihre mehr als unkritische Einstellung gegenüber Nazideutschland nur schwer mit ihrem arkadischen Werk in Einklang bringen.6
Im Gegensatz zu Laurencins Werk erscheint jenes der in Frankreich lebenden US-Amerikanerin Romaine Brooks härter und deutlich monochromer. Die vermögende Malerin und Bildhauerin war in Rom geboren, verbrachte ihre Kindheit in Philadelphia und wurde in europäischen Internaten erzogen, bis sie sich Mitte der 1890er Jahre von ihrer Familie distanzierte. Über ihren Ehemann, den mittellosen und schwulen Pianisten John Ellingham (Altphilologe und Liebhaber von Somerset Maugham), knüpfte Brooks Kontakte in die Bohéme. Ihr „Selbstporträt“ von 1912 zeigt sie als selbstbewusste Frau, als Vorahnung der „Neuen Frau“ der Zwischenkriegszeit. Romainre Brooks malte zahlreiche Porträts und Akte, darunter von ihrer Lebensgefährtin Natalie Barney, der Marchesa Casati oder von Weggefährt:innen wie Gluck.
„Bitte in gutem Zustand an Gluck zurücksenden, ohne Präfix, Suffix oder Anführungszeichen“7
Wie zahlreiche queere Künstler:innen nahm auch Gluck (1895−1978) einen geschlechtsneutralen Namen an und nutzte das Pronomen "he".8 Auch Gluck brach mit ihrer wohlhabenden, jüdischen Familie, um als rebellischer und provozierender Künstler zu leben. Gluck arbeitete in England, hielt sich von allen Gruppen und Bewegungen fern und verspottete die Pariser Gesellschaft um Romaine Brooks als „lesbische HauteMonde“9. Die in Düsseldorf ausgestellten Gemälde „Ernest Thesiger“ (1925/26) und „Bank Holiday Monday“ (um 1937) zeigen, wie sehr sich Gluck (in Anlehnuung an die britische Gesellschaft) mit Kleidung und self-fashioning auseinandersetzte.10
Surreale Welten
„Ich kämpfe gegen die Voreingenommenheit des Spießbürgers, der in mir ein Phänomen, eine Abnormität sucht. Wie ich jetzt bin, so bin ich eine ganz gewöhnliche Frau.“11
Die Worte schrieb Lili Elbe am 15. Juni 1931 an ihren deutschen Freund. Lili Elbe hatte als der dänische Landschaftsmaler Einar Wegener (1882–1931) seine Kollegin Gerda Wegener (1886–1940) geheiratet und war mit ihr 1912 nach Paris übersiedelt. Rasch hatte Gerada dort Erfolg als Illustratorin; im Laufe der Jahre wandelte sich ihr Mann immer öfter in Lili Elbe, stand Modell und unterzog sich 1930 einer ersten geschlechtsangleichenden Operation. Insgesamt vier Eingriffe in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft in Berlin und in der Städtischen Frauenklinik in Dresden sollten Lili Elbe in eine Frau verwandeln - incl. Transplantation eines Uterus, was ihren Tod im Jahr 1931 zur Folge hatte. In Düsseldorf kann man dieser Transition in Gemälden, erotischen Illustrationen und Fotografien nachspüren.
Androgynie und des Hermaphroditismus (heute: Intergeschlechtlichkeit) begeisterten die Künstler:innen des Surrealismus. Vor allem queere Kunstschaffende bedienten sich des Mythos, um traditionelle Geschlechterrollen infrage zu stellen.
Vor allem Künstlerinnen, die in den 1930er Jahren Mitglieder der Bewegung wurden, nutzten das Potenzial zweigeschlechtlicher Darstellungen: Ithell Colquhoun (1906−1988), Leonor Fini (1907−1996) und Milena Pavlović Barili (1909−1945). Hatten die Gründungsväter des Surrealismus der (sexuell attraktiven und deshalb gefährlichen) Frau einen bereits fixen Platz in ihrem Universum zugewiesen, so stellten die drei hier genannten Malerinnen diese Geschlechterordnung in Frage. Sie wandten sich wie die Britin Colquhoun gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu.
Queere Lesarten von Abstraktion
Können in abstrakten Formen sinnliche Verkörperung sowie soziale Beziehungen symbolisch zum Ausdruck kommen? Diese spannende Frage beantwortet die Düsseldorfer Ausstellung eindeutig mit JA. Aufbauend auf der Theorie von David J. Getsy („Ten Queer Theses on Abstraction“) lässt sich die Abstraktion als „A-figuration [Nicht-Figuration]“ verstehen. Ausgehend von der Beobachtung, dass die menschliche Figur in ihrer Darstellung unweigerlich kulturell markiert ist, bietet die Abstraktion eine Möglichkeit „der kulturellen Markierung des menschlichen Körpers zu widerstehen“12, so Getsy.
Daneben sind die Anfänge der geometrischen Abstraktion von einem Kern von queeren Künstler:innen, die ein interessantes internationales Netzwerk ausprägten. Rund um Piet Mondrian und die Künstler von De Stijl arbeitete Jacoba van Heemskerck (1876−1923), die mit ihrer Partnerin, der Kunstmäzenin Marie Tak van Poortvliet, in der Künstlerkolonie Domburg lebte. Mondrian und van Heemskerck diskutierten die Möglichkeiten, neuer formaler Mittel. Die Strenge und die Reduktion von Mondrians Kompositionen hingegen bezogen sich auf ein „weiblich-männliches Equilibrium“. Dabei verstand er Natur, Schönheit und Figuration als weibliche Eigenschaften, während das männliche Element geistige und rationale Kräfte verkörperte. Sein Pamphlet über den „Neoplastizismus in der Malerei“ (1917/18) kulminiert in der „Schlussfolgerung: Natur und Geist als weibliche und männliche Elemente“. Während sich Mondrian für eine streng geometrische Abstraktion entschied, arbeitete van Heemkerck an expressiven, abstrahierenden, biomorphen Formen mit leuchtenden Farben und schwarzen Umrisslinien, die durchaus an gotische Glasfenster erinnern (→ Wien | Albertina: Gothic Modern).13
Lesbische, niederländische Dichterinnen vermittelten die Idee Mondrians an ihre Freund:innen und Lebensgefährtinnen. So war die Avantgardedichterin Til Brugman, eine Spezialistin und Händlerin von De-Stijl, seit 1926 die Lebenspartnerin der Dada-Künstlerin Hannah Höch. Der britische Maler* Marlow Moss (1889−1958) traf 1929 in Paris ihre:seine Lebenspartnerin, die Dichterin A. H. Nijhoff, die ebenso den Kontakt zu De-Stijl herstellte. Die queeren Kunstschaffenden veränderten das Mondrian'sche Konzept jedoch gravierend und passten es ihrer Lebenssituation an. Moss, die:der jüngst wiederentdeckt wird, ergänzte beispielsweise Mondrians Elemente um die doppelte Linie, was vermutlich als Verstärkung gedeutet werden darf. Der ältere Kollege übernahm dieses Konzept, ohne je Moss als Erfinderin zu würdigen.14 In Düsseldorf sind Moss' „White with Bent Cord (Relief)" (1936) „White, Red, and Grey" (1935) und „Untitled (White, Black, Blue, and Yellow)" (um 1954) neben dem Objekt „Spheres and Curved Line" (1945) zu sehen.
Der aus Ungarn stammende Anton Prinner und die Amerikanerin Louise Janin (1893−1997) entwickelten völlig gegensätzliche Formen der Abstraktion. Die Autodidaktin Janin stammte aus San Francisco und unternahm ausgedehnte Reisen durch Asien, wo sie buddhistische, hinduistische und taoistische Mythologien studierte. Die Malerin verfolgte in ihrer „morphosentimentalen“15 Abstraktion das Streben nach einer Neuerfindung der Welt und einer Abkehr von realistischer Repräsentation.16 Janin erklärte die Natur zur Quelle ihrer Inspiration.
Anton Prinner (1902−1983) und seine Kunst wurden jüngst in Wien wiederentdeckt. Aus Budapest stammend, übersiedelte der als Anna Prinna geborene Künstler Ende 1927 nach Paris. Dort schuf er in den frühen 1930er Jahren eine Reihe von abstrakten Werken, die als konstruktivistisch betrachtet werden könnten (von ihm nicht so bezeichnet), gefolgt von einer Phase postkubistischer Skulpturen und einem umfangreichen Werk an Druckgrafik, für die er eine neue Technik auf Papyrus entwickelte, die er „papyrogravure“ nannte.
Queere Avantgarden und intime Netzwerke
Gemälde von Pavel Tchelitchew (1898−1957), George Platt Lynes (1907‒1955), Paul Cadmus (1904−1999), Duncan Grant (1885‒1978) oder Beauford Delaney (1901–1979) zeigen mehr oder weniger deutlich homoerotisches Begehren. Dadurch unterscheiden sie sich von dem etwas älteren Briten Henry Scott Tuke (1858–1929), der badende Burschen und athletische Männer in impressionistischer Manier zu seinem Lebensthema machte. Sein Gemälde „The Critics“ (1927) besticht nicht nur durch das Funkeln des Meeres im Hintergrund. Die zwei am Strand sitzenden Epheben könnten als Freunde oder Liebhaber gedeutet werden - je nach Urteil der Betrachter:innen. Erst in den 1970er Jahren wurde Tukes Kunst von den ersten offen schwulen Künstlern und Sammlern wiederentdeckt. Der Maler gilt heute als eine Kultfigur in der Gay Community.
Über den schwedischen Maler Niels Dardel (1888−1943) ist in deutschsprachigen Ländern wenig bekannt, obwohl er vor dem Ersten Weltkrieg eine stürmische Affäre mit dem deutschen Kunsthändler Alfred Flechtheim hatte und ihn auch porträtierte (Moderna Museet, Stockholm). In dieser Zeit spielte Dardel noch eine gewichtige Rolle bei der Entwicklung und Anerkennung des Kubismus; für seinen Liebhaber Rolf de Maré erwarb Dardel eine Reihe von bedeutenden Werken. Düsseldorf zeigt jedoch Arbeiten, die stärker dem Expressionismus zugeneigt sind und mit „Der sterbende Dandy“ (1918) eine „schöne Leich'“ (Wiener Slang) inszeniert.
- Nils Dardel, Besuch bei einer exzentrischen Dame, 1921, Öl auf Leinwand, 130,5 x 97,5 cm (ungerahmt), 142,8 x 109,6 x 6,5 cm (gerahmt) (Moderna Museet, Stockholm; Schenkung der Freunde des Moderna Museet in 1953)
Queerer Widerstand seit 1933
Das Kapitel „Queerer Widerstand seit 1933“ vereint Positionen wie die von Toyen (1902−1980) und Jeanne Mammen (1890−1976) sowie die der lesbischen Künstler:innenpaare Claude Cahun (1894–1954) und Marcel Moore (1892−1972) oder Hannah Höch (1889−1978) und Til Brugman (1888−1958), die ganz unterschiedliche Formen des antifaschistischen Widerstands entwickelten.
Nach drei Jahrzehnten der fragilen Errungenschaften neuer Freiheiten und eines fruchtbaren queeren künstlerischen Schaffens wurden viele Hoffnungen unter dem Schatten des europäischen Faschismus brutal zunichtegemacht. Spätestens mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 drohten queeren Menschen auf der Grundlage des von den Nationalsozialisten verschärften Paragrafen 175 das Konzentrationslager, grausame medizinische Experimente und der Tod.
Claude Cahun inszenierte sich und ihre Lebensgefährtin Marcel Moore in Fotografien, die Moor als Quelle ihrer Fotomontagen nutzte. 1937 waren sie bereits auf die Kanalinsel Jersey umgezogen. Als dort am 1. Juli 1940 die deutsche Wehrmacht einmarschierte, wurden sie in der Résistance aktiv. Sie schrieben Flugzettel in deutscher Sprache, in denen sie Soldaten zum passiven Widerstand aufriefen, unterzeichnet mit „Der namenlose Soldat“. Ende des Krieges inhaftiert, zum Tode verurteilt, begnadigt und dennoch bis zum Kriegsende im Gefängnis eingesperrt, erholte sich Cahun von dieser Tortur nicht mehr. Der Verlust vieler ihrer Werke und ihres Archivs traf die Künstlerin schwer.
Um ihre eigenen Arbeiten und die Werke ihrer Dada-Freunde zu retten, vergrub Hannah Höch sie in ihrem kleinen Garten in Berlin. In den 20er Jahren hatte sie zur kleinen Gruppe von politisch hochaktiven Künstler:innen des Dadaismus gehört, welche die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart - samt Aufstieg von Nationalsozialismus und Faschismus - mit ihren Werken kritisierten. Dafür entwickelte Höch die Fotomontage, was die Ästhetik ihrer Werke mit neuartigen Fotoreportagen und modernen Zeitschriftenlayouts verband. „Auf dem Weg zum Siebenden Himmel“ (1934) zeigt zwei Figuren, die aufgrund des nackten Torso und ihrer Kleidung als weiblich gelesen werden können. Feiert die Künstlerin damit die sapphische Liebe? Ihre eigene Beziehung zur niederländischen Autorin Til Brugman stand zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon auf der Kippe. Nachdem sich das Paar 1938 getrennt hatte, heiratete Höch den Pianisten und Volkswirtschaftler Kurt Matthies. Es folgten unstete Jahre und eine unglückliche Beziehung, die 1944 geschieden wurde. Panikattacken und Herzbeschwerden quälten die Künstlerin während der NS-Diktatur.
„Der Würgeengel“ (um 1939–1942, Leihgabe des Max Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft) von Jeanne Mammen zählt zu den eindrucksvollsten Werken der Düsseldorfer Schau. Ist die Berlinerin eigentlich als mondäne Illustratorin der Weimarer Republik bekannt, so zeigt sie sich mitten im Zweiten Weltkrieg als Kommentatorin des Weltgeschehens im Stilidiom von Pablo Picasso. Dessen „Guernica“ hatte sie noch vor Kriegsausbruch in Paris sehen können. Im Jahr 1936 zog sich die kritische Beobachterin der Neuen Frau in die innere Emigration zurück. Mammen malte nun im Verborgenen und für treue Freund.innen. Ihre Bilder müssen als kritischer Kommentar zur nationalsozialistischen Kunstideologie und politischen Situation gelesen werden. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch wären sie als „entartet“ eingestuft worden.
Epilog
Zum Schluss werfen die Kuratorinnen noch einen Blick auf die konservativ geprägten 1950er Jahre in den USA. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs leitete die McCarthy-Ära eine neue Phase politischer Repression gegen Homosexuelle ein.
Homosexuelle Künstler:innen wie Sonja Sekula (1918−1963) und John Cage wählten mit ihren Arbeiten eine besondere Form des stillen, konzeptuellen Protests: Die aus der Schweiz stammende Sonja Sekula widmete Cage das Gemälde „Silence“ (1951), und Cage brachte 1952 mit seiner legendären Performance „4'33“ die Stille selbst zur Aufführung. Im K20 werden beide Werke als ein Akt des kulturellen und politischen Widerstands gedeutet, als Sichtbarmachung des Unsagbaren, als künstlerischer Aufschrei.
Sekula hatte Liebesaffären mit Frida Kahlo, Alice Rahon und Betty Parsons. Sie feierte im Umfeld des Surrealismus und des Abstrakten Expressionismus große Erfolge, bis sie - in den USA mehrfach hospitalisiert und unter anderem wegen homosexueller Neigungen therapiert - 1955 wieder nach Europa zurückkehrte. In der kulturell verschlossenen Schweiz wurde ihr Werk immer kleinformatiger; die Malerin wechselte von der Leinwand in das Notizbuch. Der Stille aus New York folgten Selbstgespräche einer zunehmend unglücklicken Frau.
Man kann dem Team des K20 zu dieser Ausstellung nur gratulieren! Direktorin Susanne Gaensheimer gelingt eine Programmierung, die zwischen etablierten und neu zu entdeckenden Positionen changiert - und zeitgenössische Diskurse mutig aufgreift. Mit Anke Kempkes konnte eine international tätige Kuratorin und Kunsthistorikerin als Gastkuratorin gewonnen werden, die mit Isabelle Malz, einer ausgewiesenen Kennerin der Moderne und Zeitgenössischen Kunst (siehe u.a. ihre 1997-Publikation „Nicht nur Körper: Künstlerinnen im Gespräch“), die Ausstellung gestaltete. Der begleitende Katalog führt präzise zur Fragestellung der queeren Kunst, vertieft Biografien und interessante Geschichten und Aussprüche.
Idee und Konzept von Anke Kempkes, Kunsthistorikerin und Autorin.
Kuratiert von Isabelle Malz, Kuratorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, mit Isabelle Tondre, wissenschaftliche Volontärin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, und Anke Kempkes, Gastkuratorin.
Quelle: Kunstsammlungen NRW
Ausgestellte Künstler:innen
Die Ausstellung versammelt rund 100 Werke von 34 internationalen Künstler:innen, ergänzt um Fotoalben:
Richmond Barthé, Rosa Bonheur, Romaine Brooks, Til Brugman, Paul Cadmus, Claude Cahun, Jean Cocteau, Ithell Colquhoun, Nils Dardel, Beauford Delaney, Leonor Fini, Loïe Fuller, Gluck, Duncan Grant, Jacoba van Heemskerck, Hannah Höch, Ludwig von Hofmann, Robin Ironside, Louise Janin, Lotte Laserstein, Marie Laurencin, Jeanne Mammen, Marcel Moore, Marlow Moss, Milena Pavlović-Barili, Glyn Warren Philpot, George Platt Lynes, Anton Prinner, Sonja Sekula, Pavel Tchelitchew, Toyen, Henry Scott Tuke, Dame Ethel Walker, Gerda Wegener
Vergessene Avantgarde - Queere Moderne: Ausstellungskatalog
Susanne Gaensheimer, Isabelle Malz und Anke Kempkes (Hg.)
mit Beiträgen von Jonathan D. Katz, Anke Kempkes, Tirza True Latimer, Isabelle Malz, Isabelle Tondre, Diana Souhami
304 Seiten, ca. 200 Abbildungen
Deutsch/Englisch










