Toyen

Wer war Toyen?

Toyen (bürgerlich: Marie Čermínová, Prag 21.9.1902–9.11.1980 Paris) war eine tschechoslowakische Künstlerin des Surrealismus. Die Malerin hat sich nie über ihre Werke geäußert, weshalb sie absolut enigmatisch bleiben. Toyen trat ganz hinter ihrem Werk zurück, weshalb sie nur ein frühes Selbstporträt schuf (1922) und dieses bereits mit ihrem geschlechtsneutralen Pseudonym signierte.

„Je ne suis pas peintre [Ich bin kein Maler/keine Malerin]“1 (Toyen)

Kindheit und Ausbildung

Toyen kam am 21. September 1902 als Marie Čermínová in Prag zur Welt. Sie verließ ihr Elternhaus bereits im Alter von 17 Jahren, um in Prag zu studieren und sich in Boheme-Kreisen zu bewegen.

Dort besuchte sie zwischen 1919 und 1922 die Hochschule für angewandte Kunst, ohne einen Abschluss zu machen. Im Sommer 1922 lernte sie auf der jugoslawischen Insel Korčula den drei Jahre älteren Dichter und Maler Jindřich Štyrský (1899–1942) kennen, mit dem sich eine langjährige Zusammenarbeit entwickelte. Die junge Kunststudentin war von Štyrský sofort begeistert, stellte er doch seine Staffelei so auf, dass sich das Modell hinter seinem Rücken befand. In diesem Sommer arbeitete Toyen am einzigen Selbstporträt, das es von ihr gibt. Es ist ein doppelt bezeichnetes Blatt in einer naiv realistischen und einer künstlerischen Variante. Letzteres trägt die Signatur von Štyrský, während das traditionelle Bildnis bereits mit Toyen signiert ist. Um 1922 änderte die Künstlerin ihren Namen in das geschlechtsneutrale Pseudonym Toyen, möglicherweise abgeleitet von dem französischen Wort citoyen [franz. Bürger].2

In den folgenden eineinhalb Jahrzehnten entwickelte das Künstlerpaar eine nahezu symbiotische Beziehung, sodass in der tschechischen Avantgarde bis heute von „Štyrský und Toyen“ gesprochen wird. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich die beiden ab Ende der 1920er Jahre stilistisch voneinander entfernten.

Toyen und die tschechische Avantgarde

Ihre künstlerische Karriere begann Toyen im Jahr 1923 mit der Beteiligung an der radikalen tschechischen Avantgarde-Gruppe „Devětsil [Pestwurz]“, gegründet am 5. Oktober 1920 von Karel Teige (1899–1951). Darin führte er Schriftsteller, Dichter, Theaterregisseure, Schauspieler:innen, Architekten, Komponisten und auch Wissenschaftler (Roman Jakobsen, Jan Mukarovský) zusammen. Gemeinsam mit Josef Šima und Štyrský repräsentierte Toyen den künstlerischen Flügel der Vereinigung. Obschon die tschechoslowakische Gruppe vieles in ihrer Programmatik mit anderen Avantgarde-Bewegungen in Mitteleuropa – darunter italienischer und russischer Futurismus, Konstruktivismus, Bauhaus, De Stijl – teilte, verfolgte sie doch eine dezidiert politische Stellungnahme für den Marxismus. Teige hatte in seinem Manifest „Neue proletarische Kunst“ (1922) bereits die Grundlagen für den „Kampfverband der künstlerischen und intellektuellen Linken“ formuliert. Er träumte von einer kommenden revolutionären Kunst, die sich nicht mehr als Agitationskunst verstehe, sondern den ästhetischen und affektiven Bedürfnissen des kunstungewohnten Proletariats Rechnung tragend, an volkstümliche Kunstformen anknüpfen solle. Teige deutete beispielsweise afrikanische Skulpturen und Masken als Inbegriff einer volksnahen, exotischen Kunst – und als Vorbilder einer kommenden Poesie.

„Devětsil“ organisierte die Ausstellung „Basar der modernen Kunst“ (Dezember 1923), wo Toyen erstmals mit Bildern in kubistisch-futuristischen Stil vertreten war („Der Exzentriker“, 1923). Nach einigen kubistisch beeinflussten Gemälden folgte 1925 eine kurze primitivistische Phase Toyens, in der sie bereits eine erstaunlich freie, von Humor durchsetzte Erotik feierte.3 Sie widmete sich Tänzerinnen, Akrobaten, Clowns und Schwertschluckern – und versuchte mit etwas Verspätung, die Forderungen Teiges nach einer naiven, exotischen Kunst einzulösen. Gleichzeitig beschäftigte sich Toyen aus wirtschaftlichen Gründen mit der Illustration von Kinderbüchern. Stritt ist, ob diese die kurze primitivistische Phase auslöste, oder umgekehrt, diese Arbeit erst ermöglichten.

Paris (1925–1928)

Die drei Jahre von Herbst 1925 bis 1928 verbrachten Toyen und Štyrský in Paris, wo sie 1926 in der „Galerie d’art contemporain“ ihre erste Einzelausstellung zusammenstellten. Bereits 1925 wurde Toyen eingeladen an der wegweisenden Ausstellung „L’Art d’aujourd’hui“ (November 1925 – Februar 1926). Das Ziel dieser Schau war, post-kubistische und konstruktivistische Kunst auf internationaler Ebene zu präsentieren; mit Werken von Hans Arp, Constantin Brancusi, Robert Delaunay, Theo van Doesburg, Max Ernst, Paul Klee, Fernand Léger, André Masson, Joan Miró, László Moholy-Nagy, Piet MondrianPablo Picasso und anderen. Dort stellte sie Werke aus, die vom Postkubismus ausgehend, als abstrakte Malerei resultieren. Bis 1926 sind ihre Bilder überwiegend noch von geometrischen Kompositionen beherrscht: „Jahrmarkt“, „Pik Dame“, „Tobogan“, „Der Hafen“, „Kubistische Komposition“.

Toyen und Štyrský beteiligten sich an zahlreichen Ausstellungsprojekten. Die „Galerie Vavin“ widmete ihnen 1927 eine Schau, für die Philippe Soupault das Vorwort verfasste. In den „Aventinum Mansarden“ war 1928 die „Štyrský – Toyen“-Ausstellung zu sehen.

Poetischer Artifizialismus

Gemeinsam mit Štyrský erfand Toyen den poetischen Artifizialismus – eine Alternative zu Abstraktion und Surrealismus, den sie 1927 in der Prager Zeitschrift „ReD (Revue des Devětsil)“ proklamierte.4

„Er [der Artifizialismus, Anm. AM] konzentriert sein Interesse auf die Poesie, die die existierenden Lücken zwischen den Formen des Wirklichen ausfüllt. […] Das artifizialistische Bild löst poetische Emotionen aus, die keineswegs aufs Optische beschränkt sind; es erregt eine Sensibilität, die nicht nur visuell ist. […] Die im Bild dargestellten Formen koinzidieren mit den Bildern der Erinnerung.“5 (Štyrský und Toyen, Artifizialismus, 1927)

Dabei handelt es sich um den einzigen von Toyen je (mit)verfassten Text. Toyen und Štyrský versuchten damit poetische Prinzipien auf die Malerei zu übertragen, was zu zunehmenden ungeometrischen, lyrisch-abstrakten Bildfindungen führte, für die Toyen auch Zufallstechniken wie Sprayen und Dripping einsetzte. Vorausschickend sei erwähnt, dass Toyen und Štyrský den Artifizialismus experimentell verstanden, das heißt, dass die Werke dieser Phase keine einheitliche formale Struktur aufweisen. Stattdessen finden sich höchst unterschiedliche Behandlung von Farben und Formen. Grob lässt sich die Malerei Toyens in den Jahren zwischen 1926 und 1934 in drei Perioden einteilen: der Übergang von geometrischen Kompositionen zu freien, artifizialistischen Farbkompositionen (1926–1928), Hauptphase des Artifizialismus (1928–1931) und dem Übergang zum Surrealismus (ab 1931). Den Surrealismus lehnte das Künstlerpaar zu diesem Zeitpunkt noch als „historisierende Malerei“ ab. Für die Ausstellung 1927 in der Pariser Galerie Vavin schrieb allerdings Philippe Soupault die Einführung.

Als Werk des Übergangs gilt „Fata Morgana“, greift die Malerin darin doch das Phänomen der optischen Täuschung, des Trugbildes oder der Vortäuschung auf. Der geometrische Bildaufbau dient dazu, die eingebildete Erscheinung von der realistischen Wahrnehmung, dem monotonen Wüstengrund, abzugrenzen. Toyen lässt eine Oase auftauchen, einen fernen Strand. Die „poetischen Emotionen“ werden nicht durch Bildgegenstände visualisiert, sondern durch sie assoziativ ausgelöst. Es sollen Empfindungen ausgedrückt werden, ohne die Gegenstände zu erwähnen, die sie auslösten (vgl. Mallarmé). Das artifizialistische Bild soll die primären menschlichen Bedürfnisse nach Imagination und Ausdruck zugleich befriedigen. Toyen wählte dafür vornehmlich Landschaften als Motiv. Häufig mischte sie die Farbe mit grobkörnigen Materialien, wodurch diese geträumten Landschaften Relief und räumliche Tiefe erhalten.

Rückblickend beschrieb Frantisek Smejkal in „Styrský und Toyen“ den Artifizialismus:

„Beide Gattungen entsprechen auf besonders eloquente Weise der artifizialistischen Ästhetik, die man als eine nicht-figurative Konkretisierung von Impressionen, Gefühlen, Erinnerungen bezeichnen könnte, als Bilder einer gesehenen, gelebten oder auch nur geträumten Realität, die mit der Zeit ihre räumliche Beziehung verloren hat du nur eine unaussprechbare Essenz, ein unbestimmtes Erzittern der Sinne, eine Vibration der Empfindungen hinterlässt. Und genau diese subtile und fast ungreifbare Essenz der Empfindung oder des Bildes wird im Artifizialismus Gegenstand der Darstellung. Die Farbgebung dieser abstrakten Substrate und gelebten Empfindungen, die im Bewusstsein des Künstlers hausen und manchmal in seinen Kindheitserinnerungen verankert sind, kann nicht der Prozess einer Umschreibung sein; es handelt sich im Gegenteil um einen Prozess langsamer Fixierung dieser Substrate in der Farbmaterie. Aber dieser Prozess bleibt ambivalent. In ihm vermischt sich das Moment der Abbildung eng mit dem der Empfindung, mit der Entdeckung neuer Welten, unbekannter und gewöhnlicher Landschaften, Formen, Objekte und Texturen, die einzig der künstlerischen Imagination entspringen. Die neue artifizialistische Realität ruft auch im Geist des Betrachters einen ganzen Komplex von Empfindungen, Erinnerungen und Assoziationen wach. Sie setzt seine Imagination in Bewegung und schafft eine lyrische Atmosphäre, die imm wesentlichen mit der Atmosphäre des Poetismus identisch ist.“6

Bereits in ihrer Pariser Zeit beschäftigte sich das Paar mit den „Gesängen des Maldoror“ von Lautréamont. Štyrský schuf zahlreiche Illustrationen. Toyen wandelte ihre abstrakten Bilder 1928 durch poröse, rissig-verwitterte Farbstrukturen, die an das Informel der Nachkriegskunst erinnern (→ Abstrakter Expressionismus | Informel). So zeigt das Bild „Sumpf“ (1928, Nationalgalerie, Prag) „informelle“ Verfahren, indem die dargestellten Gegenstände und Figuren zu zerfließen scheinen. Toyens imaginäre Welten werden nicht von den Gestalten des eigenen Unbewussten bevölkert, wie es die Surrealist:innen in diesen Jahren bereits taten.

Prag (1928–1947): Prager Surrealistin

Ab 1930 – nach Jahren der reinen Abstraktion – wandte sich Toyen wieder der figurativen Kunst zu, ab 1931 zeigen ihre Bilder ein neue Konkretisierung im Sinne des Surrealismus. Sie erträumte sich in ihren Bildern eine „versteinerte Unterwasserlandschaft“, die sie mit Muscheln, Korallen, Achatstrukturen oder kristallinen Formen aber auch „fremde“ Dinge wie Ei, Kugel oder Augen bestückte. Die artifizialistische Landschaft verwandelt sich nun in eine Art Naturbühne, die Toyen mit ihrer eigenen Ikonografie bestückt. Diese ist der Schlüssel zum verborgenen Reich der Poesie. 1932 nahm Toyen an der Ausstellung „Poesie 32“ in Prag teil: Von französischer Seite sind Arp, Dalí, Ernst, Giacometti, Masson, Miró und Tanguy vertreten, von tschechischer Seite die Maler:innen und Bildhauer des Devetsil, Hoffmeister, Janousek, Makovský, Muzika, Stefan, Šima, Štyrský, Toyen, Wachsman und Wichterlová.

Von 1930 bis 1933 arbeitete Toyen gemeinsam mit Jindřich Štyrský an der Zeitschrift „Erotická revue“, schuf zahlreiche eindeutig erotische Zeichnungen und illustrierte den Roman „Justine“ (1791) des Marquis de Sade. Damit wandte sich die tschechoslowakische Künstlerin als einzige Surrealistin der Sexualität zu.

Nach ihrer Rückkehr nach Prag wandte sich Toyen gänzlich dem Surrealismus zu und gründete im März 1934 mit Vítězslav Nezval (1900–1958), Vincenc Makovský (1900–1966) und Štyrský, Josef Šíma (1891–1971) und Jindřich Heisler (1914–1953) die tschechoslowakische Surrealisten-Gruppe: „Surrealistengrupe der CSR“. Toyen war unter den elf Gründungsmitgliedern die einzige Frau, Štyrský und Makovský die beiden weitere bildende Künstler. Kurze Zeit später trat Karel Teige der neuen Vereinigung bei. Im Jahr darauf fand die erste Ausstellung der Vereinigung mit dem Titel „Poesie“ statt (mit Toyen, Štyrský und dem Bildhauer Makovský). Toyen stellte 24 Gemälde aus, darunter „Magnetische Frau“ sowie drei Versionen der Serie „Stimme des Waldes“. Ihre ersten surrealistischen Bilder sind bedrohlich und düster wirkende imaginäre Landschaften, bevölkert von biomorphen Formen und tierähnlichen Wesen. Teige und Nezval veröffentlichten die erste Monografie über Štyrský und Toyen in Prag.

Nach dem Ende der Prager Surrealisten-Ausstellung besuchten André Breton und Paul Éluard Prag für Vorträge (Breton: „Der politische Standort der heutigen Kunst“ und „Die surrealistische Situation des Gegenstandes – Die Situation des surrealistischen Gegenstandes“). Zu diesem Anlass veröffentlichten sie gemeinsam mit den tschechischen Surrealist:innen das erste „Bulletin international du surréalisme“, womit der Zusammenschluss mit den französischen Surrealisten besiegelt wurde. Darüber hinaus schenkte Toyen Éluard „Stimme des Waldes II“ und Breton „Prometheus“ (1934; Privatsammlung). Toyens frühe surrealistische Bilder stehen im Zeichen des Traumes, wobei sie sich immer neue Symbole erarbeitete. Dabei bleibt die Malerin unbestimmt, ihre Bilder changieren zwischen Wunsch und Schrecken – das Schrecken des Wunderbaren.

Im Sommer 1934 fuhren Toyen, Štyrský und Nezval zu einem Gegenbesuch nach Paris. Dort lernten sie zahlreiche Surrealist:innen kennen: Max Ernst, Salvador Dalí und Yves Tanguy wie auch Claude Cahun. Ab 1935 nahm Toyen an allen internationalen Ausstellungen des Surrealismus teil, beginnend mit der „Internationalen Ausstellung des Surrealismus“ in Santa Cruz, Teneriffa. So präsentierte sie in der Londoner Ausstellung von 1936 „Prometheus“ und eine der zwei Versionen der „Stimmen des Waldes“. Mit „Botschaft des Waldes“ (1936) und „Die Schläferin“ (1937) schuf Toyen kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zwei ihrer Hauptwerke. Zwei Jahre später gehörte Toyen zu den neun Künstlerinnen, die neben 60 Künstlern an der größten Surrealisten-Ausstellung in Paris präsent war.

Ab 1937 nahmen die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen der stalinistisch geprägten Kommunistischen Partei und den Prager Surrealist:innen zu. Toyen, Štyrský und andere Künstler wurden des „Trotzkismus“ bezichtigt und ihre Werke als dekadent und antisowjetisch diffamiert. Der Konflikt führte im folgenden Jahr zur faktischen Auflösung der Gruppe.

Zweiter Weltkrieg

Nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei und der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ (16.3.1939) erhielten Toyen und Štyrský striktes Ausstellungsverbot, woraufhin sie in den Untergrund gingen. Toyen arbeitete an der von Štyrský und Jindřich Heisler (1914–1953) gemeinsam betriebenen, geheimen surrealistischen Edition mit. Am 21. März 1942 starb Štyrský im Alter von 39 Jahren an Herzversagen. In ihrer winzigen Wohnung in Prag versteckte Toyen den jüdischen Dichter und Künstler Heisler und rettete ihn so vor der Ermordung.

1945 malte Toyen „Am grünen Tisch“ als kritischen Kommentar auf das Kriegsende und die Friedenskonferenzen sowie das widersprüchliche „Mythos des Lichts“. Letzteres zeigt eine geschlossene Tür, die zum Sinnbild der Besatzung ist, davor spielt sich ein Drama in vollem Licht (Erkenntnis) ab: Frauenhände werfen den Schatten eines Hundekopfes spielend an die Wand, der Schatten eines Mannes links hält eine Pflanze in Händen. Der Schatten trägt die Züge von Heisler. Noch im selben Jahr erhielt Toyen eine erste Ausstellung mit Werken aus den Jahren 1939 bis 1945 im Topic-Salon in Prag. Teige und Heisler schrieben für sie Katalogtexte. Die Eröffnungsrede hielt Jan Mukařovský.

Toyens Gemälde „Im Schloss La Coste“ (1946) wird als eines ihrer schönsten Bilder gezählt. Die Malerin spielt in diesem Werk mit den vielfältigen Beziehungen zwischen Illusion und Realität. Das Bild im Bild erlaubt ihr, mit rein malerischen Mitteln auf das allgemeine Problem der Kunst zu reflektieren. Das Motiv geht auf Štyrskýs Fotos vom Schloss des hochverehrten Marquis de Sade zurück. Es scheint an diesem Ort zu spuken, Toyen lässt einen (Graffiti)-Wolf von der Wand springen und eine Taube schlagen. Malerei und gemalte Realität greifen in dieser Darstellung ineinander.

Paris (1947–1980)

Teilnahme an der Prager Surrealismus-Ausstellung 1947. Toyen und Heisler reisten auf Einladung von Breton und zur Vorbereitung einer Einzelausstellung in der „Galerie Denise René“ nach Paris. Als im Januar 1948 die Kommunisten die Macht übernahmen (dem sich der sogenannte „siegreiche Februar“ anschloss), entschloss sich die radikale Gegnerin des Stalinismus nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückzukehren. In Paris angekommen, wurde Toyen sofort von der neukonstituierten Surrealisten-Gruppe aufgenommen und eine ihrer wichtigsten Persönlichkeiten.

1953 erschien die erste Monografie über die Künstlerin, in der André Breton einen Beitrag schrieb, in dem er Prag als magische Hauptstadt Europas beschrieb.7 Weitere Texte stammen von Péret und Heisler. Heisler starb im Alter von 39 Jahren an Herzversagen. In diesem Jahr hatte Toyen eine Einzelausstellung in der Pariser Galerie „A l’étoile scellée“, gefolgt von einer weiteren 1955 (Vorwort von Charles Estienne).

Der Zyklus „Die sieben gezogenen Schwerter“ entstand 1957 nach einem gleichnamigen Gedicht von Paul Apollinaire. Im folgenden Jahr organisierte sie die Ausstellung „Les sept épees hors du fourreau“, begleitet von einem Katalog mit Texten von Breton, Péret, Robert Benayoun, E. L. T. Mesens, Yves Elléouet, Georges Goldfayn und Jean-Claude Silbermann in der „Galerie Fürstenberg“ in Paris.

Die erste Retrospektive von Toyens Werken aus den Jahren 1930 bis 1959 war 1960 in der „Galerie Raymond Cordier“ in Paris zu sehen (Vorwort von Charles Estienne). Dieselbe Galerie widmete zwei Jahre später Toyen eine Einzelausstellung (Vorwort: Edouard Jaguer).

1966 schuf Toyen mit „Der Paravant“ eines ihrer bekanntesten Werke – zudem fand in diesem Jahr zum ersten Mal seit 1947 eine Ausstellung in der Tschechoslowakei statt. Die Galerie Morav in Brünn organisierte eine große Retrospektive von Toyens Werken von 1921 bis 1945 (gemeinsam mit Štyrský). Der Katalog wurde von Frantisek Šmejkal und Vera Linhartová zusammengestellt. Die „Galerie Mánes“ in Prag übernahm 1967 diese Ausstellung. „Der Paravent“ – ein dreiteiliger Wandschirm – zeigt auf seinen Flügeln die Konturen zweier männlicher Gestalten in schwachem Licht. In der Mitte scheint eine Frau den Raum gerade zu betreten, aber sie entzieht sich dem Zugriff. Toyen lässt keinen Zweifel, dass die Frau als Projektion des männlichen Wunsches zu verstehen ist. Sie ist das abwesend-anwesende Zentrum, auf das sich das gesamte Geschehen konzentriert. Deutlich sichtbar sind nur ihr Torso und die Arme, die von langen Handschuhen bekleidet sind. Das weggeblendete Gesicht findet sich auf der Höhe ihres Geschlechts, wo sich eine Raubkatze mit menschlichem Antlitz findet. Bedrohlich und schön zugleich zeigt sich die Frau als begehrtes, aber gefährliches Wesen. Die Darstellung der Frau als abwesend-anwesendes Zentrum, das von der Bewegung, die es auslöst, selbst nicht bewegt wird, ist beherrschendes Thema in Toyens späten Ölgemälden.

Die Bedeutung Toyens wurde in den 1960er und 1970er Jahren international wahrgenommen, wie eine Retrospektive innerhalb der Ausstellung „Alternativi attuali 3“ in L’Aquila belegt. Die Texte im Katalog stammen von Enrico Crispolti und Frantisek Šmejkal.

Im Jahr 1974 erschien die Monografie „Toyen“ in Paris mit einem Text von Radovan Ivsic.

Tod

Toyen starb am 9. November 1980 im Alter von 78 Jahren in Paris. Sie wurde auf dem Friedhof Batignolles begraben.

Literatur zu Toyen

  • Annabelle Görgen-Lammers, Je ne suis pas peintre, in: Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo, hg. v. Ingrid Pfeiffer (Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 13.2.–24.5.2020; Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, 18.6.–27.9.2020), München 2020, S. 197–202.
  • Karoline Hille, Spiele der Frauen. Künstlerinnen im Surrealismus, Stuttgart 2009.
  • Toyen 1902–1980 (Ausst.-Kat. Galerija Klovićevi dvori), Zagreb 2002.
  • Toyen, hg. v. Karel Srp (Ausst.-Kat. City Art Gallery), Prag 2000.
  • Rita Bischof (Hg.), Toyen. Das malerische Werk, Frankfurt a. M. 1987.
  • Štyrský, Toyen, Heisler (Ausst.-Kat. Musée d’art moderne de la ville de Paris, Paris) Paris 1982.

Beiträge zu Toyen

Toyen

Hamburg | Hamburger Kunsthalle: Toyen


Toyen ist einzigartig unter den starken Frauen, die im Herzen des Surrealismus in Prag und Paris arbeiteten. Sie wirkte hier als Pionierin und ist zudem die bedeutendste tschechische Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Marie Čermínová (1902-1980) wählte früh ihr vom französischen „citoyen“ (franz. Bürger) abgeleitetes Pseudonym und kündigte als lebenslange Grenzgängerin nicht nur Geschlechter-Zuordnungen auf.
Frida Kahlo, Selbstbildnis mit Dornenhalsband, Detail, 1940 (Nickolas Muray Collection, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Texas at Austin) Foto: © Nickolas Muray Collection, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Texas at Austin, Werk: © Banco de México, Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust, México, D.F./VBK, Wien, 2010.

Frankfurt | Schirn: Künstlerinnen des Surrealismus


Die Schirn Kunsthalle räumt auf mit dem Diktum, dass der Surrealismus eine rein „männliche“ Kunstströmung gewesen sei. Kuratorin Ingrid Pfeiffer gelingt es, eine spannende Gruppe von 34 berühmte und weniger bekannten Künstlerinnen aus Europa und Mexiko zusammenzuführen, die erstaunliche surreale Werke geschaffen haben. Meist erst in der zweiten Generation, häufig als Freundinnen, Modelle oder Ehefrauen ab 1930 zur Bewegung gestoßen, entwickelten sie Gegenentwürfe zu dem mit Gewalt und Zerstörung verbundenen Frauenbild ihrer männlichen Kollegen.
  1. Annie Le Brun, Toyen ou l’insurrection lyrique, in: Toyen 1902–1980 (Ausst.-Kat. Galerija Klovićevi dvori), Zagreb 2002, S. 6–36, hier S. 7.
  2. Über Entstehung und Bedeutung des Künstlernamens kursieren drei unterschiedliche Narrative: So rühmte sich der tschechische Dichter Jaroslav Seifert, das Pseudonym erfunden zu haben. Die Ableitung vom franz. Citoyen wird häufig als spätere, auf französische Verhältnisse zugeschnittene Version relativiert. Das dritte Narrativ leitet sich vom tschechischen „to já jen“ ab, das im Deutschen so viel wie „Ich meine ja nur“ heißt. Die letzte Überlieferung gilt als beste Erklärung, wird damit doch eine junge, ihre unsichere Position als weibliche Kunstschaffende betonende Kreative beschrieben.
  3. Annabelle Görgen-Lammers, Je ne suis pas peintre, in: Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo, hg. v. Ingrid Pfeiffer (Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 13.2.–24.5.2020; Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, 18.6.–27.9.2020), München 2020, S. 197–202, hier S. 192.
  4. Jindřich Zdarsky, „L’Artificialisme“ [1927], in: ReD I, Heft 1, 1927/28, zit. nach: Štyrský – Toyen – Heisler (Ausst.-Kat. Musée d’art moderne de la ville de Paris, Paris) Paris 1982, S. 82.
  5. Štyrský und Toyen, Artifizialismus, 1927, in: ReD; zit. n. Rita Bischof (Hg.), Toyen. Das malerische Werk, Frankfurt a. M. 1987, S. 21.
  6. Frantisek Smejkal, Styrský und Toyen, in: Styrský, Toyen, Heisler (Ausst.-Kat. Paris), Paris 1982; hierbei handelt es sich um eine überarbeitete Version für den Katalog der Brünner Ausstellung „Styrský und Toyen“ von 1966.
  7. Breton nahm den Text in seine Sammlung „Der Surrealismus und die Malerei“ (1965) erneut auf.