Text von Johannes Karel und Alexandra Matzner
Hieronymus Boschs Gemälde mit ihren absonderlichen Mischwesen, Dämonen und Teufeln übten bereits auf seine Zeitgenossen eine große Faszination aus (→ Hieronymus Bosch: Garten der Lüste & Versuchung/). Wiewohl Bosch sich zeit seines Lebens vor allem mit christlichen Themen beschäftigte, war er ein „Visionär“, der „völlig neuartige Lebewesen und pflanzliche und mineralische Formen geschaffen“1 hat. Der Künstler thematisierte die Verderbtheit und Torheit der Menschen und ihre dadurch drohenden Höllenstrafen. Detailreich ausgemalt, fanden Boschs Gemälde neue und begeisterte Auftraggeber und Sammler. Diese waren bereit, gigantische Summen2 für seine Gemälde zu bezahlen. Seinen Namen – Jheronimus Bosch (eigentlich van Aken) – hatte er durch konsequente Schreibweise und charakteristische Signatur zu einem Markenzeichen ausgeprägt.
Deutschland | Hamburg: Bucerius Kunstforum
4.6. - 11.9.2016
Boschs erhaltenes Œuvre ist vergleichsweise gering, etwa 25 Tafelbilder und 20 Zeichnungen werden ihm heute noch als eigenhändig zugeschrieben. Diese waren europaweit verbreitet. Der Ruhm des niederländischen Künstlers war so groß, dass er italienische Maler und Kunsttheoretiker Giorgio Vasari ihn in seiner Zusammenstellung berühmter Künstlerviten berücksichtigte und ihn für seinen außergewöhnlichen Einfallsreichtum lobte.3 Damit ließ sich eine wachsende Nachfrage nicht befriedigen, und so schufen Schüler und Kopisten eine schier unüberschaubare Anzahl von Werken im Stile Boschs. Der stetige und weitreichende Wunsch nach Bosch-Arbeiten ließ sich in Folge jedoch nicht mehr nur mit Gemäldekopien und stilverwandten Neuschöpfungen befriedigen. Einfacher und schneller herzustellen, zahlreicher und günstiger mussten die Arbeiten sein, wofür sich die aufkommende Druckgrafik und ab 1550 der Kupferstich hervorragend eigneten.
Die Ausstellung „Verkehrte Welt. Das Jahrhundert des Hieronymus Bosch“ im Bucerius Kunst Forum in Hamburg widmet sich daher der grafischen Rezeption und thematischen Weiterentwicklung von Bosch-Erfindungen durch seine Epigonen des 16. Jahrhunderts. Der Name Bosch und selbst die bloße Zuschreibung eines Blattes als Wiedergabe einer Arbeit des Meisters ließen den Markt, der von einem gebildeten, kunstinteressierten Bürgertum gebildet wurde, florieren. Vor allem der Drucker Hieronymus Cock verlegte in seinem Antwerpener Haus „Aux Quatre Vents“ (1548–1600) eine Menge von Blättern mit Boschs Kompositionen4, wobei die angefügten Texte die Themen ausdeuteten bzw. einzelne Aspekte der Darstellungen betonten.
Themen, die allegorisch oder karikaturhaft sündiges Treiben anprangern, wie Pieter van der Heydens (1530–1572) „Die blaue Schute“5 von 1559, verweisen auf Arbeiten der Bosch-Nachfolger oder zitieren möglicherweise (verlorene) Arbeiten des Meisters. Das kleine Boot, in dem sich ausgefallene Menschentypen treiben lassen, gilt als Metapher des „Narrenschiffes“ - des Schiffs der Sünde. Die überzeichneten Gestalten repräsentieren die Wollust und Genusssucht, sie führen ins Verderben. So bemerkt Laura Ritter in ihrem Katalogbeitrag, dass „die Kritik an menschlichem Fehlverhalten immer deutlicher zum hauptsächlichen Bildinteresse“6 wurde.
Authentische Werke des 1516 verstorbenen Malers befanden sich unerreicht in fürstlichen oder privaten Sammlungen. Die Monster der Unterwelt übten nach wie vor großen Reiz aus, der Name Boschs war allgemein bekannt. Arbeiten wie „Christus im Limbus“ oder „Die Versuchung des Hl. Antonius“ von unbekannten Bosch-Nachfolgern zeigen die Kombination einer christlichen Szenerie mit einer Überfülle boschesker Monster und Mischwesen. Vor allem die Darstellungen von Christus in der Vorhölle konnten mit den tollsten Erfindungen ausgeschmückt werden, gab es doch in der Literatur kaum Hinweise über ihr Aussehen, Lage oder auch ihre Peiniger. Hinter der Beliebtheit genau dieses Sujets dürfte die zunehmend größere Abnehmerschicht im Bereich des sich etablierenden Bürgertums gestanden haben, das während des 16. Jahrhunderts einen Selbstfindungsprozess durchmachte. Werte wie Selbstdisziplin und Impulsbeherrschung wurden ihm anhand von Bildern des Hl. Antonius vor Augen geführt. Gleichzeitig erfuhr die bildende Kunst mit dem Werk von Hieronymus Bosch eine enorme Weiterung ihrer Themengebiete, stellte er doch Alltägliches und Phantastisches gleichermaßen dar. Verkaufsargument war demnach nicht nur der geschätzte Künstlername, sondern ebenso das wohlige Gruseln beim Anblick teuflischer Unterweltwesen und schauriger Folterqualen oder die hämische Belustigung über närrisches Treiben.
Der wohl bekannteste Rezipient von Bosch-Arbeiten war Pieter Bruegel der Ältere (um 1525–1569). Obwohl sich der Antwerpener Renaissancemaler 1552/53 in Italien aufgehalten hatte, finden sich Spuren der italienischen Malerei nur in seinen Landschaften und späten Figurenbildern. Bruegel entwickelte ab den späten 1550er Jahren die Bildfindungen Boschs – vor allem in seinem Figurenrepertoire – unter seinem Namen weiter und war damit so erfolgreich, dass ihn ein Zeitgenosse den „zweiten Hieronymus Bosch“ nannte. Die Darstellung von Sprichwörtern und Volksweisheiten, närrisches Treiben und törichte Verhaltensweisen waren Inspirationsquellen des Künstlers, er griff Motive aus Arbeiten Boschs auf und erweiterte sie zu eigenständigen Bilderzählungen. Den Spitznamen „Höllenbruegel“ verdiente er sich u. a. mit der Grafikfolge der „Sieben Todsünden“ (1558). Hieronymus Bosch hatte sich den Sieben Todsünden und ihrer Bestrafung bereits ausführlich gewidmet („Die sieben Todsünden mit den vier letzten Dingen“, Madrid; „Weltgerichtstriptychon“, Wien → Hieronymus Bosch: Weltgerichtstriptychon).
Die nach Zeichnungen von Pieter Bruegel d. Ä. (1556/57) gearbeiteten Kupferstiche zeigen die „Sieben Todsünden“ als so genannte Diablerien, worunter Ansammlungen Monster, Mischwesen und amorphen Gebäuden in der Art des Hieronymus Bosch gemeint sind. Ob es sich bei den Anleihen in übervollen Komposition (weite Überblickslandschaften) und Figurenrepertoire um eine Idee des Künstlers oder eine Vorgabe des Verlegers handelte, ist nicht bekannt. Pieter Bruegel der Ältere zeigt auf je einem Blatt eine personifizierte Todsünde mit ihren Attributen, umgeben von unzähligen Phantasiewesen, die das thematisierte Sündentreiben variantenreich illustrieren und die Konsequenzen daraus vorführen. Auffallendster Unterschied zu Boschs Inszenierungen des Sündhaften ist der fehlende heilsgeschichtliche Rahmen. Die Beschriftungen warnen vor körperlichen (irdischen) Folgen und nicht vor der Gefährdung des Seelenheils. Der Stich „Das Jüngste Gericht“ (1558) verbindet die Schilderungen traditioneller Moralbegriffe mit den zwei Jahre später entstandenen „Sieben Tugenden“ (1559/60). Wenn auch die Kompositionen weiterhin mit vielerlei Figuren gefüllt sind, sind sie weniger dem Motivschatz von Hieronymus Bosch verpflichtet. Anhand der Darstellung der „Klugen und törichten Jungfrauen“ (1560/63) auf einem vergleichsweise geordneten Blatt sollten Zeitgenoss_innen ebenfalls auf den rechten Weg der Vorsorge bringen.
Im Laufe des 16. Jahrhunderts verlor die Kirche zusehends die Definitionsmacht über den Wertekanon, der zunehmend vom städtischen Bürgertum bestimmt wurde. Verboten oder nicht – die propagierte Bestrafung im Jenseits wurde als Abschreckung immer weniger relevant. Sammler erfreuten sich aber nach wie vor an den phantasievollen Mutanten aus der Unterwelt und zusehends an den sozialen Randschichten der Bettler, Krüppel und Narren, deren Protagonisten in körperlichen Verrenkungen überhöht als bizarr und grotesk präsentiert wurden. Bücher wie Sebastian Brants Moralsatire „Das Narrenschiff“ (1494) halfen den Leser_innen, durch die Darstellung von Negativhelden menschliche Fehler, Schwachen und Laster, die mit Sünde gleichgesetzt wurden, als solche zu erkennen. Nicht nur Boschs berühmtes gleichnamiges Werk im Louvre, sondern auch seine Interpretation des „Heuwagens“ inspirierte seine Nachfolger.
Zu den größten Kupferstichen aus dem Verlagshaus von Hieronymus Cock gehört Cornelis Corts (1533–1578) Bosch-Kopie (?) „Die Endzeit, Himmel und Hölle“7 (1560/65). Es zeigt ein Triptychon mit den Darstellungen von irdischem Paradies und himmlischem Jerusalem, Kampf zwischen Teufeln und Engeln um menschliche Seelen sowie Folterszenen.
„Die Verspottung des Hiob“ (um 1520–um 1560) von Jan Mandyn (1502–ca. 1560) vereint verschiedene Ansprüche: gottgefälliges Leben trotz schwerer Prüfungen, die Ernsthaftigkeit der Lebensentscheidung wird den gaukelnden Verführern entgegengesetzt. Diesem Gemälde von Jan Mandyn könnte ein verlorenes Werk von Hieronymus Bosch vorausgegangen sein. Karel van Mander hatte 1604 über Jan Mandyn bereits geschrieben, dass er „stark in der Manier von Hieronymus Bosch schöne Spukgestalten und Drolerien gemalt habe“8. Bizarre Gestalten bevölkern moralisierend gemeinte Bildinhalte oder ganze Zyklen von Bosch-Nachfolgern, die zunehmend gesellschaftskritisch gelesen werden sollen. Sie mahnen vor Neid, Gier oder Hochmut und prangern unüberlegte Entscheidungsfindungen an. Es läuft etwas augenscheinlich nicht richtig, es scheint eine „verkehrte Welt“ zu sein, die veranschaulicht wird. Darin finden sich die Grundlagen für Bildinhalte, die die niederländische Kunst bis ins 17. Jahrhundert hinein prägten: Blicke auf das Laster – aber es lebe die Tugend! Denn neben Jenseitsqualen droht nun schon im Diesseits die gesellschaftliche Ächtung.
Volkscharaktere und Fastnachtsbräuche aber auch Redewendungen wurden während des 16. Jahrhunderts zu beliebten Bilderfindungen, seien es „Der Blinde führt den Blinden“ (1571/72), „Die großen Fische fressen die kleinen“ (1557), „Kampf der Sparbüchsen und Geldkisten“ (nach 1570) von Pieter Bruegel d. Ä. oder Frans Hogenbergs (um 1538–1590) „Kampf zwischen Karneval und Fasten“ (1558). Wie wichtig diese Drucke auch für die Entwicklung eines Motivschatzes für Künstler war, belegt der „Kampf zwischen Karneval und Fasten“, der ein Jahr vor Pieter Bruegels berühmtem Gemälde im Kunsthistorischen Museum veröffentlicht wurde. Wie auch schon im Werk von Hieronymus Bosch feststellbar, steht hinter den visualisierten Sprichwörtern eine pessimistische Weltsicht.
„Die großen Fische fressen die kleinen“ geht auf eine authentische Zeichnung von Pieter Bruegel d. Ä. in der Albertina (→ Bosch Brueghel Rubens Rembrandt. Meisterwerke aus der Albertina) zurück, wurde von Cornelis Cock dennoch in einer Serie veröffentlicht, die mit dem Namen Hieronymus Bosch vermarktet wurde. Der Kupferstich verweist einerseits auf die soziale Rangordnung, doch schwingt auch leise Schadenfreude im Sinne der „Kleinen“ mit, denn es gibt immer einen noch größeren Fisch.
Auch das Blatt „Das Schlaraffenland“ (nach 1570?) veranschaulicht, dass die Sünden Völlerei und Gier zu nichts Gutem führen und ist dadurch erneut ein Verweis auf die Todsünden-Blätter des Künstlers. Dieser scheinbar erstrebenswerte Ort voller Köstlichkeiten wurde nicht als Belohnung von Tugendhaftigkeit verstanden, sondern galt als Hort für gierige Schmarotzer, Vielfraße und moralisch Verdorbene. Es ist die Persiflage des Garten Eden, erdacht zur Belustigung und Unterhaltung.
Zu den bekanntesten Gemälde der Bosch-Nachfolge zählt „Das Steinschneiden“9 (um 1550/1600). Es zeigt einen Arzt, der seinem Patienten einen Stein aus dem Kopf schneidet, was im 16. Jahrhundert ein beliebtes Sprichwort und Bildsujet war. Einige Männer betrachten interessiert einen bereits operativ entfernten Stein auf der Tischplatte, der wohl dem Mann dahinter gerade entfernt worden war. Eine Frau ist interessiert und abgestoßen zugleich, während der aktuelle Patient mit erstaunlicher Gelassenheit den Vorgang über sich ergehen lässt. „Jemandem den Stein schneiden“ meint, ihn vom Wahnsinn zu heilen. Doch hier ist wohl die Dummheit derer gemeint, die sich von solchen Betrügern auch noch für dumm verkaufen lassen. Die in vielen Varianten überlieferten „Steinschneider“ gehen wohl auf ein verlorenes Werk von Hieronymus Bosch zurück. Der Erfinder der Bilderzählung – vielleicht Hieronymus Bosch (?) – brachte damit einen guten Schuss Ironie und Menschenbeobachtung in die Kunst.
Mit dem fortschreitenden künstlerischen Einfluss der italienischen Renaissance ab den 1520er Jahren wandelten sich in den Niederlanden die bisher furchteinflößenden Dämonen zu dekorativen Groteskerien. Cornelis Bos (1506/10–1556) und Cornelis Floris (1524–1581) aus Antwerpen beschäftigten sich als erste mit diesen neuen Möglichkeiten der verniedlichenden Teufelchen in so genannten Rollwerken und Beschlagwerken. Ob in Ornamentblättern oder als kunsthandwerkliche Formen das Spiel der Phantasie erfreute sich höchster Beliebtheit: Dämonische Fratzen und mystische Mischwesen dekorierten geschnitzte Möbel und fein bemalte Innenräume, sie zierten Hausfassaden als Fensterbekrönungen oder Türklopfer und wurden in der Damenmode zu mit Juwelen besetzten Preziosen. Angst und Schrecken verblassten, die einst Höllenqualen suggerierenden Dämonen und Mischwesen standen für modisches Dekor und phantasievolles Ornament der gehobenen Lebensführung.
Hieronymus Bosch ist eine der künstlerisch einflussreichsten Persönlichkeiten der europäischen Kunstgeschichte. Seine phantasievollen Schöpfungen, die Neuinterpretation gängiger Darstellungen und seine konsequente Handschrift sind für die europäische Kunst zugleich Zäsur als auch Fundament. Die Ausstellung in Hamburg zeigt dies in vielen Druckgrafiken anschaulich und deutlich nachvollziehbar. Der Inhalt wird thematisch geordnet in ästhetisch anspruchsvoller Weise vermittelt, ohne dadurch die Themen zu überlagern. Audioguide und Saaltexte führen in die Kapitel der Schau ein und begleiten durch die künstlerische Entwicklung der gezeigten Inhalte. Besonders die Präsentation jener Arbeiten, die in eingebauten Wandnischen gezeigt werden, animiert besucherfreundlich zum sorgfältigen Detailstudium und ermöglicht die Freude am Entdecken der künstlerischen Phantasien.
Das Bucerius Kunstforum beleuchtet in seiner sehenswerten Schau, die von einem umfangreichen und informativen Katalog begleitet wird, das Aufgreifen und die Weiterentwicklung von Ideen und Aussagen aus dem Œuvre des Hieronymus Bosch, die ihre gesellschaftliche Aktualität nach wie vor beweisen. Die Verbreitung der in seinem Geist geschaffenen Druckgrafiken festigte Boschs künstlerischen Ruf, dessen Wirkmacht bis heute anhält und den niederländischen Meister aus ’s-Hertogenbosch zu einer der meist geschätzten und einflussreichsten Künstlerpersönlichkeit hat werden lassen.
Franz Wilhelm Kaiser, Michael Philipp (Hg.)
Mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, Stephanie Buck, Nils Büttner, Nora Haubold, Bram van den Hoven van Genderen, Sebastian Oesinghaus, Michael Philipp, Stephanie Porras, Laura Ritter, Jaco Rutgers, Gary Schwartz
240 S., 184 Abb. in Farbe, 22,5 x 28 cm, gebunden, Schutzumschlag
ISBN 978-3-7774-2566-5
Hirmer Verlag, München