Jean Dubuffet
Wer war Jean Dubuffet?
Jean Dubuffet (Le Havre 31.7.1901–12.5.1985 Paris) war ein französischer Künstler der Nachkriegszeit. Er reagierte auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs mit geschichteten Materialbildern, die ihm rasch internationale Beachtung brachten. Als Maler, Bildhauer, Collage- und Aktionskünstler schuf Dubuffet ein vielschichtiges, hochphilosophisches Werk. Neben seinen künstlerischen Arbeiten ist die Etablierung der Art Brut eine der wichtigsten Leistungen Dubuffets: Jean Dubuffets Art Brut!
Kindheit und Ausbildung
Jean Philippe Arthur Dubuffet wurde am 31. Juli 1901 in Le Havre geboren. 1901 in Le Havre als Sohn einer Familie von Weingroßhändlern geboren, entstammte er gutbürgerlichen Verhältnissen. Bereits in der Jugend entschied er sich für eine künstlerische Ausbildung und besuchte ab 1916 Abendkurse im Zeichnen an der École des Beaux-Arts in seiner Heimatstadt.
Im Alter von 17 Jahren zog Dubuffet nach Paris, um ab 1918 an der renommierten Académie Julian Malerei zu studieren. Nach sechs Monaten verließ er die Ausbildungsstätte, da er erkannt hatte, dass er mit Lieblingsfächern seinen eigenen Lehrplan schaffen konnte: Philosophie, Literatur und Ethnologie. Voller Skepsis gegen den gängigen Kunstbetrieb arbeitete Jean Dubuffet völlig isoliert. Zu den wichtigsten Überzeugungen des aus dem gutbürgerlichen Milieu stammenden Künstlers gehörte, dass nur im einfachen Leben der „kleinen Leute“ und in den nichtangepassten gesellschaftlichen Randbereichen Wahrheit und Ursprünglichkeit zu finden wären. In Paris lernte Dubuffet 1919 Max Jacob kennen, kurz darauf die Künstler Raoul Dufy und Fernand Léger.
Die frühesten Werke von Jean Dubuffet lassen die Unsicherheit des angehenden Malers spüren. Sie sind stilistisch disparat, paraphrasierte er doch die unterschiedlichsten Richtungen: Neoklassizismus, im Stil von Jean Fautrier oder Juan Gris und Joan Miró. In den während der 1960er Jahre verfassten Werkkatalog hat Jean Dubuffet nur wenige dieser Arbeiten aufgenommen. Obschon sich der Künstler später von diesen Werken distanzierte, gelten sie in der kunsthistorischen Forschung als wichtige Wegmarken, von denen aus Dubuffet nach dem Zweiten Weltkrieg weiterarbeitete: Der relativ flächige und aus großen Farbformen zusammengesetzte Bildaufbau ist an Henri Matisse geschult. Weiters fallen das Überschneiden des Bildmotivs durch den Rahmen und die extreme Nahsichtigkeit auf. Dazu kommen das gleichwertige Nebeneinander isolierter Einzelformen, die Deformation der Figur und die betont kindliche, volkstümliche Interpretation des Porträts bei Masken (vgl. Paul Klee, den Dubuffet bewunderte).
Reisejahre – Weinhandel – Zweiter Weltkrieg
Den Winter 1919/20 verbrachte der angehende Künstler in Algier. Seine Zeichnungen und Landschaften waren von Paul Cézanne beeinflusst. Genauso zeigte sich der Maler beeinflusst von Suzanne Valadon und Raoul Dufy.
1923 musste Jean Dubuffet seinen Militärdienst leisten und zog, da er in Paris im Büro für Meteorologie eingesetzt wurde, in eine Wohnung in der Rue Joseph Bara. Er verkehrte mit Fernand Léger und Kahnweiler, bei dem er sonntags in Boulogne André Masson und Juan Gris traf. Nachdem Dubuffet 1924 aus dem Militärdienst entlassen worden war, hielt er sich in Lausanne bei seinem Freund Paul Budry auf, wo er „Kirschen mit Raucher“ malte.
Nun begann Jean Dubuffet vermehrt zu reisen. Schließlich entschied er sich, seine Karriere als Künstler zu beenden. Nach einem Aufenthalt in Buenos Aires (ab 1.1.1925), wo er als technischer Zeichner arbeitete, ging Dubuffet schließlich nach Le Havre zurück, um in die väterliche Weinhandlung einzutreten.
Kurze Zeit später verschlug es ihn aber wieder nach Paris, wo er 1930 in Bercy eine Weingroßhandlung eröffnete. Zu jener Zeit schien Dubuffet allerdings bereits hin- und hergerissen, widmete sich immer wieder mit seiner künstlerischen Ader, entschied sich aber 1937 erneut, die Kunst hinter sich zu lassen und sich auf sein Geschäft zu konzentrieren. Bereits 1935 hatte der junge Mann seine zukünftige Frau Émilie Carlu kennengelernt, die er 1937 heiratete. Einige Jahre führte das Paar das bürgerliche Leben einer Händlerfamilie.
Im Zweiten Weltkrieg kam es schließlich zu einer weiteren Zäsur, Dubuffet musste 1939 als einfacher Soldat zum Militär einrücken. Er wurde dem Luftfahrtsministerium in Paris zugeteilt und im meteorologischen Dienst in Italien stationiert. Im August 1940 kehrte Dubuffet völlig mittellos nach Paris zurück, wo er Lili traf. Um ihren gemeinsamen Lebensunterhalt zu verdienen, musste er einmal mehr als Weinhändler tätig werden. Nach der Rückkehr nach Paris 1942 verpachtete Dubuffet seinen Großhandel und entschloss sich endgültig, Künstler zu werden.
Frühe Werke
Erst im Alter von 41 Jahren, während in der deutschen Besatzung von Paris, entschied sich Jean Dubuffet, sich vollkommen der Kunst zu widmen. Kurz darauf folgte jene Ausstellung in der Galerie René Drouin (Oktober 1944), die mit großer Aufregung einherging, bei einigen wichtigen Kunstkritikern aber auch Begeisterung auslöste.1 Dubuffet lebte und arbeitete im Herzen des befreiten Paris, umgeben von den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Er machte es sich zur Aufgabe, seine Farben mit gefundenen Materialien zu mischen. Daher erscheinen seine Leinwände in kraftvoll viszerale Objekte aufgeschichtet. Nicht zuletzt der Besuch einer Ausstellung des französischen Malers Jean Fautrier im Jahr 1945 offenbarte ihm die die vielfältigen Möglichkeiten der pastosen Malerei. Auf diese Weise verwandelte Dubuffet das Gewöhnliche in das Außergewöhnliche. Dubuffet trat dem traditionellen Kunstbegriff bewusst entgegen, war sogar überzeugt, dass sich der Mensch „von seinem kulturellen Erbe befreien müsse“2. Nur Kinder, „Geisteskranke“ und primitive, vorzivilisatorische Kulturen wären imstande, Impulse für eine neue, unangepasste und revolutionäre Kunst zu geben. Insbesondere in den ersten als eigenständig akzeptierten Werken, die er im Werkkatalog unter dem Titel „Marionettes de la ville et de la campagne“ (1942–1945) zusammenfasste, übertrug Dubuffet diese Ansichten in seine Bildsprache. Mit diesen Werken etablierte sich Jean Dubuffet an der Spitze der Avantgarde in Paris – und sie machten ihn zum Vorbild der jüngeren Künstlergeneration wie den Malern der „CoBrA“.
„Ob Szenen aus der Métro, Graffitis an der Wand oder Flöte spielende Beduinen [Anm.: zu jener Zeit reiste das Ehepaar Dubuffet viel] – Dubuffet beschreibt Leben. Er gibt keine Schilderung, sondern malt das durch seinen Geist verarbeitetet Gesehene als Spiegelung seiner Realität, Seine Wirklichkeit mag sich von der als verbindlich anerkannten unterscheiden, sie steht aber lediglich für eine individuelle Erfahrung des Realen, des Alltäglichen. Das Banale wird von Dubuffet in Allgemeingültiges und damit Archetypisches umgewandelt.“3
Dubuffets „Stillosigkeit“
Mitte der 1940er Jahre schuf Jean Dubuffet, angeregt durch die Graffiti-Fotografien von Brassai, die Serie der Mauerbilder, „Raucher an der Mauer“ (April 1945) ist das letzte Werk darin. Dubuffet setzte Farbe als spontan formbare Substanz ein und wandte sich damit dem Einsatz unterschiedlichster Materialien als Gestaltungsmittel zu. Mit den Mauerbildern reduzierte er die Farbpalette, was sowohl motivisch begründet ist, aber darüberhinausgehend, auch die Materialität der Farbmasse sichtbar werden lässt. Die Oberfläche der Bilder wirkt wie poröser Putz. In der Literatur wird betont, dass Dubuffet seine Handschrift unterdrückte, „stillos“ malen wollte.4 Gleichzeitig sollte sich der psychische Prozess des Malers unmittelbar auf die gestaltete Leinwand übertragen. Dies betonte er in seinem Werkkatalog im Zusammenhang mit dem Bild „Raucher an der Mauer“:
„Die entscheidende Handbewegung des Malers ist das Überstreichen. Nicht mit einer kleinen Feder oder einem Pinsel soll er farbiges Wasser verbreiten, sondern er soll seine Hände eintauchen in die vollen Kübel oder Fässer und mit den Ballen seiner Hände, seinen Fingern jene Mauer, die sich ihm gerade anbietet, mit seinen Pasten und Farben zukitten, sie körperlich durchdringen und ihr die unmittelbarsten Zeichen einprägen, die aus seinen Gedanken, seinem Rhythmus kommen, die seine Triebkräfte, die in seinen Schlagadern pulsieren und die sein Nervensystem in Bewegung setzen, übertragen, mit den bloßen Händen oder mittels irgendwelcher guter Ersatzgeräte wie Bretter, kurze Stöcke oder geschlagene Steine, die den Impuls weder schwächen noch durchtrennen können. Wie unwesentlich erscheint es einem, ob sich da nun viel oder wenig Farbe findet, oder gar welche Farben!“5
Auf dem ersten Blick ähneln Dubuffets Anliegen jenen der Künstler des Informel, darunter Wols. Während dieser jedoch das Malen und das Zeichnen als Medien seine psychischen Zustände begriff, so brach Dubuffet mit seiner körperlichen Malerei die bekannten bildnerischen Mittel mit Gewalt auf.
Im Mai 1946 stellte Jean Dubuffet zum zweiten Mal aus – in der Galerie René Drouin. Bis auf wenige Ausnahmen riefen seine Werke, darunter die Bildfolge „Mirobolus, Macadam et Cie. /Hautes Pâtes“ öffentlich Irritation hervor. Dubuffet trug die Farbe sehr pastos auf. Aus Asphalt, Teer und Bleiweiß mischte er eine Grundsubstanz, die widerstandfähig trocknet und sehr hart wird. Je nach Bedarf reicherte er diese Grundmischung mit unterschiedlichsten Materialien an, darunter Sand, Zement, Glasstücke, Kieselsteine, Stroh, Holz, Bindfäden usw. In die noch nicht getrocknete Oberfläche zeichnete und ritze Dubuffet Zeichnungen ein.
Ein Jahr später zeigte Jean Dubuffet bei René Drouin die Ausstellung „Porträts, mit Ähnlichkeiten in Teilen, mit eingekochter und in Erinnerung eingeweckter Ähnlichkeit, mit Ähnlichkeit, zerborsten in der Erinnerung des Herrn Jean Dubuffet“. Später nannte er die zwischen August 1946 und August 1947 entstandenen Porträts „Plus beaux qu’ils croient [Schöner als sie glauben]“. Im Frühjahr 1947 reiste der Künstler zum ersten Mal mit seiner Frau nach El-Goléa in die algerische Sahara. Grund für die Reise war die Kälte in Paris, der allerdings die Kälte in der Wüste um nichts nachstand. Dubuffet lebte dort ein halbes Jahr in der abgelegenen Oase, begann arabisch zu lernen und begeisterte sich für die Phantasie und Musikalität der Einheimischen. Mit Werken wie diesen gelang Jean Dubuffet der internationale Durchbruch. Ab 1951 reiste er mehrfach in die USA und richtete sich ein Atelier in Downtown Manhattan ein.
Jean Dubuffet und die Art Brut
Von Anfang an war Jean Dubuffet von anderen Autodidakten, Graffiti-Künstlern, Tätowierern, Spiritualisten, Inhaftierten und Personen in psychiatrischen Anstalten angezogen. Deren Kreativität fühlte sich für ihn so viel inspirierender an als alles, was in den Museen der Stadt ausgestellt wurde. Er erfand das Konzept der „Art Brut“ (wörtlich „rohe“ Kunst) und widmete sich ab 1945 begeistert der Forschung und Anerkennung dieser Kunstrichtung. Im Laufe seines Lebens trug Jean Dubuffet eine der wichtigsten Sammlungen der Art Brut zusammen.
Bereits 1948 formierte sich die „Compagnie de l’Art Brut“, zu deren Gründungsmitgliedern neben Dubuffet auch andere bekannte Künstler, wie beispielsweise André Breton, gehörten. Es ging ihr darum, jene Talente zu fördern, darunter auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Kunstschaffenden der Art Brut erfuhren erstmals 1949 Aufmerksamkeit, als die Compagnie eine Ausstellung in der Pariser Galerie René Drouin organisierte, in der über 200 Arbeiten von rund 60 Künstlern gezeigt wurden. 1949 verfasste Jean Dubuffet das Manifest „L’Art Brut préféré aux arts culturels“, das die erste umfassende Definition jener Kunst beinhaltet. Sein wichtigstes Anliegen war, diese Kunst vom Begriff des Primitiven zu lösen.
„Mein Gefühl sagte mir, dass Bilder, die ohne jede Kunstfertigkeit – so wie Kinderzeichnungen – mühelos und schnell gemacht sind, in ihrer Wirkung genauso stark oder noch stärker sein können als Bilder aus dem kulturellen Umkreis, und vor allem, dass sie vielleicht ganz unerwartete Dinge enthalten und dem Denken erschließen können“6 (Jean Dubuffet)
Erfolge in den 1950ern
Zu den bekanntesten Werken von Jean Dubuffet gehören die Serien „Corps de dames“ (vgl. Willem de Kooning), die „Tables paysagées, paysages du mental, pierres philosophiques“ und die „Pâtes battues [Aufgespachtelte Farbpasten]“ und „Torrents [Wildbäche]“ (1953) der 1950er Jahre. Die steinige Struktur eines ausgetrockneten Wildbachs regte Jean Dubuffet genauso zu einer dreiteiligen Serie an wie die „Kahle Landschaft“ (Juni 1952) aus der Serie „Erde und Boden“ (1951/52) einer unbelebten, vegetationslosen Landschaft gleicht. Die dick aufgetragene Farbmasse kann dabei sowohl als Referenz auf den Makro- oder den Mikrokosmos gedeutet werden.
Im Jahr 1953 stellte Jean Dubuffet erstmals Collagen aus Schmetterlingsflügeln in einer Pariser Gruppenausstellung mit dem Titel „Démons et mervilles“ aus. Kritiker kommentierten die brutale Art und Weise, in der der Künstler die Schmetterlinge zerstückelt hatte - ohne ein Trennbrett, um die zarten Flügel zu trennen und die Körper intakt zu halten. Stattdessen riss Dubuffet die Flügel auseinander und verteilte ihre fragmentarischen Überreste zufällig auf dem Blatt. Ein Kritiker beschrieb die Schmetterlingscollagen als „Hübsch, aber katastrophal, schillernd und doch leblos. Dubuffets üppige Massaker haben die Oberflächlichkeit des Schmetterlings mit der Tiefe des Grabes durchbohrt.“
1955 übersiedelte Jean Dubuffet nach Vence in Südfrankreich. Er ließ sich sich dort geräumige Ateliers von L’Ubac erreichten und arbeitete über das Thema der „Straßen und Chausséen, der Oberflächen der steinigen, erdigen und staubigen Wege“. Ab September 1957 entstand die Serie „Nackte Sonnen“, die Dubuffet später zur umfangreichen Serie der „Texturologien“ (bis September 1959) weiterentwickelte. Die Werke der 1950er Jahre changieren zwischen der Gattung Landschaft und der abstrakten Malerei, die sich ganz auf die Malmittel konzentriert.
Anfang der 1960er Jahre war Jean Dubuffet ein wichtiges Vorbild für so unterschiedliche Künstler wie Christo und Jeanne-Claude bzw. Gerhard Richter.
Objekte
Zu den bedeutenden Werken von Dubuffet gehören kleine Statuen des prekären Lebens (1954–1959), Figuren aus Naturschwamm, Holzkohle, Weinrebe und Lavastein; und die Texturologien aus den späten 1950er Jahren, inspiriert von der reichen natürlichen Umgebung von Vence, Südfrankreich. Diese Objekte bewegen sich zwischen der Mikro- und Makrowelt, wobei ihre zarten Flecken eine faszinierende Wirkung haben.
Während „Paris Circus“ von 1961 eine Reihe von Werken ist, die aus dem Rausch des Straßenlebens stammen, das vor Konsumismus strotzt und einen Salto dichter Bilder zeigt.
L’Hourloupe (Juli 1962–1974)
Die Serie „L’Hourloupe“ entstand aus Kritzeleien des immer verspielten Dubuffet. Ab Juli 1962 schuf er am Telefon erste in sich verwobene Strukturen, die er anfangs ausschnitt und auf schwarzes Papier klebte. Jean Dubuffet entwickelte die Idee zu einem Künstlerbuch, für das er die „Monstren“ betitelte und mit kurzen Texten versah. Die Figuren erinnern an Tierisches, später an Vegetation oder Labyrinthe. Es tauchen aber auch Kaffeegeschirr und utopische Gegenstände auf.
Das erdige Kolorit der Materialbilder weicht einem leuchtenden Schwarz-Weiß und Blau-Rot-Akkord. Gleichzeitig wandte sich der Maler von der Ölfarbe ab und Vinyl zu, da es sich gut zum raschen Arbeiten eignete. Diese entwickelte der Künstler zu einem neuen Arbeitszyklus, der ihn über zwölf Jahre beschäftigte und in Form von riesigen Gemälden, überlebensgroße und mehrfigurige Skulpturen, architektonischen Umgebungen und Performances auftritt.
„In meiner Vorstellung sind alle Arbeiten aus dem Zyklus ‚Hourloupe‘ eng miteinander verbunden […] Dieses Ensemble will die Gestaltwerdung einer Welt sein, die anders ist als unsere, eine Welt, die, wenn man so will, parallel der unseren ist, und diese Welt trägt den Namen ‚Hourloupe‘ […] In diesen grafischen Abläufen entstehen unbestimmte Gestalten, flüchtig und doppeldeutig. […] Daraus folgt – wenigstens für mich – die Erkenntnis des illusionistischen Charakters dieser Welt, die wir für wirklich halten, die wir auch den Namen ‚wirkliche Welt‘ geben. Diese grafischen Schrift-zeichen mit ihren doppeldeutigen Bezügen haben die Eigenschaft – wie immer, für mich –, die Wohlbegründetheit dessen, was wir gewohnt sind für wirklich zu halten, in Frage zu stellen. […] Wie Sie sehen, werden die Arbeiten des Zyklus ‚Hourloupe‘ von philosophischen Überlegungen bestimmt […] die in die tatsächlichen materiellen Erscheinungsformen unserer alltäglichen Welt den Zweifel einführen, ob diese nicht doch nur eine Schöpfung unseres Denken sei.“7 (Jean Dubuffet)
Mäanderförmige Linien erzeugen flüssige Formen von geschmolzenem Rot, Weiß und Blau. Ab 1967 löste Dubuffet die Figuren vom Grund, da er die Auflösung der Figur um Grund als verwirrend empfand. Gleichzeitig setzte der Künstler die Figuren auch als dreidimensionale Objekte im Raum um. Dubuffet schnitt und formte mit Hilfe eines heißen Fadens das Styropor mit verblüffender Leichtigkeit. Das Weiß stand für ihn für die Entmaterialisierung. Die Form erinnert an Felsen, die er bemalte. Ob als großformatige Freiplastiken oder als teilweise begehbare Labyrinthe wie „Jardin d’Email“ (1972/73) im Kröller-Müller Museum in Otterlo, Niederlande.
Die Serie gipfelte im Frühjahr 1973 in einer Theateraufführung von „Coucou Bazar“ im Guggenheim Museum in New York, gefolgt von einer zweiten im Herbst 1973 im Grand Palais, Paris. Zwei Jahre lang hatte Dubuffet an der Entwicklung der Figuren und der Versatzstücke gearbeitet. Dieses „lebende Gemälde“ wurde in einem einstündigen Spektakel mit 60 Kunstwerken aufgeführt, die von Darstellern, Motoren und Fernbedienungen animiert wurden. Mimaroglu komponierte die Musik. Diese Requisiten für das Theater sind jetzt zu zerbrechlich, um sie für Neuinszenierungen zu verwenden (wie ursprünglich von Dubuffet vorgesehen). Sie werden allerdings in Ausstellungen als statische Objekte gezeigt. Die letzte Aufführung in Turin wurde auf Film aufgezeichnet.
Jean Dubuffet charakterisierte das Werk selbst so:
„Ohne Zweifel wird man meinem Stück vorwerfen, nicht in Kategorien eingliederbar zu sein […] es hat einen Maler zum Autor und weder einen Dramaturgen noch einen Choreografen; die Malerei ist die einzige Quelle; es ist wie die Weiterentwicklung der Malerei, eine Animation derselben. Es ist wie ein Bild, das aufhört nur ein Bild zum Anschauen zu sein, sondern zu existieren beginnt und euch in seinem Inneren aufnimmt […] Coucou Bazar muss als philosophische Übung angesehen werden.“8
Mit der Serie „L’Hourloupe“ konnte Dubuffet einmal mehr auf eine junge Künstlergeneration einwirken: Keith Haring und Jean-Michel Basquiat.
Späte Werke
In seinem Spätwerk – „Theater der Erinnerung“ (1976–1979) – kehrte Jean Dubuffet zur Assemblage zurück. Zunächst setzte der Maler Schmetterlingsflügel ein (vgl. Damien Hirst). Als ihm die Materialbeschaffung zu anstrengend wurde, ersetzte er die bunten Flügel durch Zeitungspapier und Lithotusche, die er in einander überlagernden Schichten aufklebte. Schlussendlich verarbeitete er bemalte Leinwandstücke.
Indem Jean Dubuffet Fragmente seiner Gemälde in enorme Collagen verwandelte, zeigte er sich noch im Alter von 75 körperliche Ausdauer: „Vicissitudes“ ist mehr als 3,5 Meter lang und entstand am Ende von Dubuffets Schaffen. Um sich davon auszuruhen, zeichnete Dubuffet an seinem Tisch sitzend, mit seinem schwarzen Filzstift die „Mémorations [Erinnerungen]“. Einige der Zeichnungen wurden 1981 zur serigrafierten „Rolle Parcours“ zusammengefasst.
Die Serien „Mires [Blickpunkte]“ und „nicht-Orte“ sind die letzten, an denen Jean Dubuffet 1983 und 1984 arbeitete. Das letzte gemalte Werk entstand am 1. Dezember 1984, so hat es Jean Dubuffet beschlossen. Dennoch schuf er zwischen dem 15. Dezember 1984 und dem 11. Februar 1985 noch weitere 54 „Aktivierungen“, die mit der Serie der „Nicht-Orte“ verbunden sind.
Tod
Jean Dubuffet starb am 12. Mai 1985.
Ausstellungen
- 1944: Galerie René Drouin, Paris
- 1945: Galerie René Drouin, Paris
- 1947: Pierre Matisse Galerie, New York
- 1954: Retrospektive, Cercle Volney, Paris
- 1959: documenta 2 in Kassel
- 1957: Retrospektive, Schloss Morsbroich, Leverkusen
- 1962: Robert Fraser Galerie, London
- 1964: L’Hourloupe, Palazzo Grassi, Venedig
- 1964 documenta 3 in Kassel
- 1968 documenta 4 in Kassel
- 1973: Retrospektive, Guggenheim Museum, New York
- 1980: Retrospektiven, Akademie der Künste, Berlin
- 1980: Museum Moderner Kunst, Wien
- 1980: Kunsthalle, Köln
- 1981: Ausstellung zum 80. Geburtstag, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
- 1985: Retrospektive, Fondation Beyeler, Basel
- 1998: Galerie Karsten Greve, Köln
- 2009: Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München[6]
- 2009: Galerie Beyeler, Basel
- 2016: Jean Dubuffet – Metamorphosen der Landschaft, Fondation Beyeler, Riehen
- 2017: Jean Dubuffets Art Brut! Die Anfänge seiner Sammlung. Eine Ausstellung der Collection de l’Art Brut, Lausanne, Museum Gugging, Maria Gugging
- 2021: Jean Dubuffet. Brutal Beauty - Barbican Gallery, London
Beiträge zu Jean Dubuffet
- Franzke 1975, S. 169.
- Messensee 2003, S. 28
- Messensee 2003, S. 29.
- Siehe: Carla Schultz-Hoffmann, Jean Dubuffet – Eine Einführung, in: Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien, 15.2.–30.4.1995), Wien 1995, S. 9–21, hier S. 13–14.
- Dubuffet. Retrospektive (Ausst.-Kat. Berlin, Wien, Köln 1980–1981), Berlin 1980, S. 47.
- Husslein-Arco 2003, S. 50.
- Zit. n. Dubuffet Retrospektive, S. 368.
- Zit. n. Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien), S. 90.
- Franzke 1975, S. 169.
- Messensee 2003, S. 28
- Messensee 2003, S. 29.
- Siehe: Carla Schultz-Hoffmann, Jean Dubuffet – Eine Einführung, in: Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien, 15.2.–30.4.1995), Wien 1995, S. 9–21, hier S. 13–14.
- Dubuffet. Retrospektive (Ausst.-Kat. Berlin, Wien, Köln 1980–1981), Berlin 1980, S. 47.
- Husslein-Arco 2003, S. 50.
- Zit. n. Dubuffet Retrospektive, S. 368.
- Zit. n. Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien), S. 90.
- Franzke 1975, S. 169.
- Messensee 2003, S. 28
- Messensee 2003, S. 29.
- Siehe: Carla Schultz-Hoffmann, Jean Dubuffet – Eine Einführung, in: Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien, 15.2.–30.4.1995), Wien 1995, S. 9–21, hier S. 13–14.
- Dubuffet. Retrospektive (Ausst.-Kat. Berlin, Wien, Köln 1980–1981), Berlin 1980, S. 47.
- Husslein-Arco 2003, S. 50.
- Zit. n. Dubuffet Retrospektive, S. 368.
- Zit. n. Jean Dubuffet (Ausst.-Kat. KunstHausWien), S. 90.