Paul Klee war zwischen 1917 und 1919 in der Königlich Bayerischen Fliegerschule V in Gersthofen-Gablingen bei Augsburg stationiert. Während in der Literatur bislang Klees Haltung zum Krieg marginalisiert und keine Auswirkungen auf das künstlerische Werk nachgewiesen wurden, wird nun erstmals im H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast in Augsburg der Einfluss des Fliegens auf sein Werk und die drohenden Gefahr einer Versetzung an die Front genau nachgezeichnet. Die präzise Quellenarbeit zahlt sich aus, denn die deutlich erweiterte Faktenlage ermöglicht einen neuen Zugang zu Klees abstrahierten Aquarellen dieser Zeit: Fliegen ist für Klee eine existenzielle Vorstellung, die die Dualität von Himmel und Erde erfahrbar macht und als solche auch die Motivwahl über die Kriegszeit hinaus bestimmt.
Deutschland/ Augsburg: H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast
23.11.2013 – 23.2.2014
Als Paul Klee als Infanterist zum 11. März 1916 einberufen wurde und nach Landshut ins Rekrutenlager kam, erhielt er dort, und ab Juli in München bei der 1. Ersatzkompanie des 2. Bayerischen Reserve-Infanterieregiments, eine Ausbildung als Landsturmmann. Während dieser anfänglichen Stationen in Landshut, München und Schleißheim, wo er bei der Flieger-Ersatzabteilung I Nummern und Hoheitszeichen an den Flugzeugen ausbessern und erneuern musste, begleitete er mehrfach Flugzeugtransporte an die Westfront. Klee spricht in seinen Briefen vom „Gespenst Schützengraben“, das ihn verfolgte. Der Maler wurde jedoch zu keinem einzigen Fronteinsatz verpflichtet!
„Was für ein Unglück für uns alle ist dieser Krieg, und insbesondere für mich, der ich Paris so viel verdanke und geistige Freundschaft mit den dortigen Künstlern pflege. Wie wird man nachher sich gegenüberstehen! Welche Scham über die Vernichtung auf beiden Seiten!“ (Paul Klee in einem Brief an den Berner Kunstsammler Hermann Rupf, Dezember 1914)
Bislang wurde die Tatsache, dass Klee nicht an die Front musste, mit Protektion oder seiner felduntauglichen Konstitution erklärt. Das von Shahab Sangestan unter Direktor Christof Trepesch betreute Projekt „Paul Klee. Mythos Fliegen“ belegt, dass beide Erklärungen falsch sind, und dass Klees Versetzung nach Augsburg mit dem simplen Bedarf an Malern und Anstreichern sowie seinem Bestreben, einen kriegswichtigen Posten zuerst als Schreibgehilfe bei der Kassenverwaltung und dann als Zahlmeister-Anwärter in der Kaserne zu bekleiden, zu tun hatte. Gleichwohl können Annegret Jürgens-Kirchhoff in ihrem Beitrag „Der Held mit dem Flügel – Paul Klee im Ersten Weltkrieg“ und Uta Gerlach-Laxner in „Zickzackwege. Der Ausdruck von Zwang, Angst und Unheil“ die Auswirkungen des Krieges auf die Kunst Paul Klees schlüssig belegen.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen konnte Paul Klee dem Krieg von Anfang an nichts abgewinnen, ja am Tag seiner Einberufung erhielt er die Nachricht vom Tod Franz Marcs am 4. März 1916 in der Schlacht vor Verdun (S. 20, → August Macke und Franz Marc). Noch kurz vor dem Ende hält er fest, dass der Krieg die „große europäische Krankheit“ gewesen sei.
Bereits in den Jahren 1914 und 1915 hatte Paul Klee mit Kriegsbildern zu reüssieren versucht. Da die Werke jedoch keine Abnehmer fanden, gab er die Thematik bald wieder auf. Als Klee jedoch als „Bauarbeiter“ nach Gersthofen-Gablingen bei Augsburg kam, gehörte er einem Gründungskommando von 70 Soldaten an, das die Königlich Bayerischen Fliegerschule V samt Flugplatz in Gersthofen aufzubauen hatte. Die folgenden Jahre - v.a. ab seiner Tätigkeit bei der Kassenverwaltung vom 16. Januar 1917 und ab 1. Januar 1918 als Zahlmeister-Anwärter - konnte er nicht nur seine Freizeit während seines fast zweijährigen Aufenthaltes bei Augsburg zum Zeichnen, Aquarellieren und Drucken verwenden. Klee kehrte aus dem Weihnachtsurlaub 1918, der ihm gewährt worden war, nicht in den Militärdienst zurück. Seinem Gesuch um Entlassung aus dem Wehrdienst wurde erst am 4. Februar 1919 stattgegeben.
Es entstanden ungefähr 380 Werke, hauptsächlich Zeichnungen, aber auch Gemälde und Druckgrafiken, in denen sich Klee mit dem Alltag auf dem Flugplatz, dem Fliegen, dem Krieg, der Dualität von Himmel und Erde, von Abstraktion und Figuration beschäftigte. Von Mai 1917 bis Anfang September malte er fünf Aquarelle im „Dickicht der Lechauen“, in denen er auch Flusssteine fand, die er Jahre später zu Assemblagen verband. Abstraktion, so der Künstler, wäre in Kriegszeiten die einzig adäquate Bildsprache. Mit diesen Werken fand der Künstler Klee zunehmend Akzeptanz am Kunstmarkt (S. 21).
Uta Gerlach-Laxner interpretiert in ihrem Beitrag unter dem Titel „Zickzackwege. Der Ausdruck von Zwang, Angst und Unheil“ anhand einer größere Anzahl an Aquarellen Klees „steilwinklige Zickzackbewegunge“ als Ausdruck von Zwang einerseits, Angst, Bedrohung und Zerstörung andererseits (S. 44). Erstmals tauchen sie 1915 auf, so die Klee-Expertin, ehe sie sich nach 1919 wieder langsam verlieren. Klee deklarierte jegliche Bewegungsspur als etwas Abstraktes, da nicht ihr Urheber selbst, sondern nur seine Spur wahrnehmbar ist (S. 42): „Die Kräfte, die eine Linie bewegen, sind das Ergebnis von Kräften verschiedener Richtung. Spannung ist Bindung“, war sich Klee sicher (zit. nach S. 49). Die Zickzacklinie kann als Kern- und Leitmotiv der Arbeiten der späteren Kriegsjahre angesehen werden (S. 48).
Mit den in Augsburg entwickelten Strategien sollte Klee noch in den folgenden Jahren experimentieren. Ab dem Jahreswechsel 1918/1919 tauchen in seinen Werken zunehmend Hybridgestalten wie die „Vogel-Flugzeuge“ als Formeln eines imaginierten Luftkriegs auf. Diese beschäftigten ihn bis 1920. Obwohl er sich danach nicht mehr mit diesen technoiden Flugwesen beschäftigte, blieb das Fliegen – in Form von Ballonen, Drachen, Flugmaschinen und Schwebegeräten – weiterhin ein wichtiges Thema.
„Diese Woche hatten wir hier drei Tote, einer vom Propeller bearbeitet, zwei derhutzten sich. Ein Vierter sauste gestern mit Krach [...] aufs Dach. [...] Ein Gerenne von allen Seiten. [...] Ein Kinoeffekt erster Güte.“1 (Paul Klee in einem Brief an Lily, Februar 1918)
In der Ausstellung sind 78 meist grafischen Arbeiten aus zahlreichen internationalen Sammlungen in sieben Kapiteln präsentiert, welche die thematischen Schwerpunkte des Œuvres mit „Flugplatz“, „Krieg und Zerstörung“, „Schweben“, „Mythos Fliegen“, „Warnende Schiffe“, „Kosmische Landschaft“ und „Schöpfungsplan“ zusammenfassen. Welche Bedeutung diese bislang unterschätzte Phase im Werk des deutschen Expressionisten hatte, lässt ein Brief an seine Frau Lily vom 9. September 1917 vermuten:
„Die Zeit ist gewiss nicht leicht aber voller Aufschlüsse. Ob meine Kunst bei gelassenem Weiterleben auch so schnell emporgeschossen wäre wie anno 1916/17??? Ein leidenschaftlicher Zug nach Verklärung hängt doch wohl mit der großen Veränderung der Lebensführung zusammen.“ (S. 15)
Zu den sehenswertesten Exponaten zählen die bemalten Assemblagen aus Lechauen-Fundstücken. Paul Klee hatte 1901 sein Studium in der Klasse von Franz Stuck abgebrochen, um in die Bildhauer-Klasse zu wechseln. Der Versuch mißlang, weshalb der Künstler sich jahrelang autodidaktisch weiterbildete. Die Liebe zur Plastik blieb ihm offensichtlich erhalten, denn Klee sammelte während seiner Ausflüge rund geschliffene Steine und verarbeitete sie Jahre später künstlerisch. Zwei solcher Plastiken sind im Paul-Klee-Zentrum in Bern erhalten geblieben, eine davon wird erstmals nach Deutschland ausgeliehen und ist in der Augsburger Ausstellung zu sehen.
„Ich stieg im FLussbett umeinander [...] Die schönsten geschliffenen Steine fand ich. Einige Ziegel nahm ich mit. Der Schritt zu einer Plastik ist sehr klein.“2 (Paul Klee in einem Brief an Lily, Jänner 1918)
Die Aufarbeitung von Klees Erfahrungen im Ersten Weltkrieg kontextualisieren einen wichtigen Aspekt seiner Kunst. Das Fliegen beinhaltet immer das Risiko abzustürzen, und dennoch wollte sich der Künstler - zumindest in seiner Fantasie - vom Boden lösen. Pfeile nach oben oder unten geben die Richtung vor! In Summe sind die Augsburger Ausstellung und ihr Katalog ein weit über das Gedenkjahr 2014 reichendes Projekt, denn beide helfen, das Werk der Zwischenkriegszeit besser zu verstehen. Ganz im Sinne des Künstlers, der 1920 im Sammelband „Schöpferische Konfession“ meinte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (zit. nach S. 15)
1906 Heirat mit Lily
1911 im Januar Alfred Kubin besucht ihn; im Oktober lernte Klee Wassily Kandinsky, der in seiner Nachbarschaft wohnte, kennen; enge Freundschaft von Paul und Lily Klee zu dem Ehepaar Franz und Maria Marc
1912 im Frühjahr Reise nach Paris, wo er das Künstlerpaar Delaunay in ihrem Atelier besuchte sowie diverse Museen und Galerien, wo er Werke von Picasso und Braque sah
1914 im Frühjahr Tunisreise mit seinen Malerfreunden Louis Moilliet und August Macke (starb am 26. September 1914 in der Champagne); im Sommer in Bern bei seinen Eltern; Klees Werk entwickelte sich immer mehr in Richtung Abstraktion
1915 Sommer bei seiner Familie in Bern
1916 „Am 4. März fiel mein Freund Franz Marc bei Verdun. Am 11. März wurde ich als Rekrut von 35 Jahren zum Militärdienst eingezogen“ (aus dem Tagebuch). Von 11.März bis 20.Juli Rekrutenausbildung in Landshut. Dann für drei Wochen nach München in die erste Ersatzkompanie des zweiten Reserve-Infanterie-Regiments versetzt. Am 11. August kommt Paul Klee als Pionier in die Werftkompanie der Flieger-Ersatzabteilung nach Schleißheim.
Im März sind 45 Werke in der Berliner Sturm-Galerie ausgestellt. Anfang Juni eröffnete die 2. Ausstellung der Münchner Neuen Sezession, Klee war mit acht Werken beteiligt.
1917 am 15. Jänner wird Klee an die neu errichtete Fliegerschule in Gersthofen bei Augsburg versetzt. Ab Februar als Schreiber in der Kassenverwaltung eingesetzt, kann sich vermehrt seiner Kunst widmen. Am 20. März 1918 wurde er noch zum Gefreiten ernannt.
1919 offizielle Entlassung am 4. Februar 1919 – Klee war jedoch vom Weihnachtsurlaub in München nicht mehr zurückgekehrt.
Ch. Trepesch und Sh. Sangestan (Hg.)
mit Texten von G. Dietmair, L. Dittmann, U. Gerlach-Laxner, T. Grabach, U. Müller-Heckmann, R. Ide (†), A. Jürgens-Kirchhoff, E. Pfeuffer, J. Quandt, Sh. Sangestan, Ch. Trepesch, E. Wiederkehr Sladeczek
S. 288, Berlin München 2013
ISBN 978-3-422-07234-3
Deutscher Kunstverlag
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