Raffael in der Albertina ist ein chronologischer Rundgang durch ein facettenreiches Werk, das in nur zwanzig Jahren entwickelt wurde. Der 1483 im Herzogtum Urbin geborene Maler absolvierte seine Lehre in der Werkstatt von Pietro Perugino und fand in Leonardo und Michelangelo seine Lehrmeister in Florenz. Der kunstsinnige Papst Julius II. (reg. 1503–1513) berief ihn Ende 1508 an seinen Hof in Rom. Hier brillierte der gerade knapp Dreißigjährige mit den Fresken der Stanza della Segnatura und stellte sogar den „göttlichen“ Michelangelo Buonarroti in den Schatten. Weitere Freskenausstattungen, unzählige feinfühlige Madonnenbilder und Porträts, Aufgaben wie Dombaumeister und Antikenbeauftragter folgten. Als Raffael 1520 im Alter von nur 37 Jahren starb, war die europäische Kunstwelt geschockt. Im Herbst/Winter 2017/18 versammelt die Albertina, unterstützt vom Ashmolean Museum in Oxford als Kooperationspartner, einige der herausragendsten und berühmtesten Zeichnungen des Meisters in Wien. Madonnenbilder und Porträts ergänzen die Werkauswahl und machen den Entstehungsprozess nachvollziehbar.
Österreich / Wien: Albertina
29.9.2017 – 7.1.2018
Die chronologisch geordnete Schau setzt mit dem bekannten „Selbstbildnis“ (1506) Raffaels aus den Uffizien ein. Eine Zeichnung aus dem Ashmolean Museum, die lange Jahre als Selbstbildnis gedeutet wurde, ähnelt dem Aussehen Raffaels, sie dürfte aber dann doch ein „Knabenporträt“ zeigen. Immer wieder wird in der Literatur betont, dass das gute Aussehen, die soziale Anpassungsfähigkeit, die gepflegten Umgangsformen dem aus Urbino stammenden Jungstar am Papsthof im Vatikan quasi die Herzen entgegenfliegen haben lassen. Und damit wird auch schon eine Differenz zu Michelangelo aufgemacht, der zwar als „Göttlicher Michelangelo“ apostrophiert aber für seine „terribilità“ gefürchtet wurde. Der sanften Natur des Malers scheinen auch die unzähligen Madonnenbilder zu entsprechen, in denen er, in die Fußstapfen Leonardos tretend, der Mutter-Kind-Beziehung große Bedeutung zumaß. Skizzenblätter zeigen mehrere Varianten, wie Mutter und Kind zueinander positioniert werden konnten. Die Intimität und Lebhaftigkeit der Darstellung steht dabei im spannungsreichen Bezug zur theologischen Aussage einer Gottesschau. Dieses „Equilibrium zwischen Ideal und Natürlichkeit“ beschreibt für Albertina-Direktor das Wesen von Raffaels Kunstwollen.
Aus der Zeit in Umbrien datiert die Predella für die Pala Oddi (1503), die Raffael für die Cappella Oddi in San Francesco in Perugia malte. Die Marienkrönung im Altarbild wird durch Verkündigung, Anbetung der Könige und Darbringung Jesu im Tempel in der Predella ergänzt. Die Albertina zeigt sie am Beginn der Raffael-Ausstellung gemeinsam mit den Kartons. In diesen Werken ist Raffael noch so stark von Perugino beeinflusst, dass Vasari sogar eine Verwechslung der Hände für möglich gehalten hat. Erst der Umzug des Künstlers nach Florenz 1504 ermöglichte Raffael, sich an den Meistern der Hochrenaissance zu schulen und direkt von ihren Werken zu lernen.
Neben einer Kopie nach Leonardo da Vincis nicht erhaltenen „Leda“-Zeichnung von Raffael sind vor allem Zeichnungen für die berühmte „Grablegung“ (Galleria Borghese, Rom), die ursprünglich für Perugia bestimmt war. Das erste Blatt zeigt noch eine Beweinung, wobei Christus im Schoß von Maria liegt. Relativ rasch entschied sich Raffael jedoch, eine Grablegung darstellen zu wollen und studierte das Tragemotiv, das der Pietà eine deutlich erzählerischere Wendung gab. Die Predella der Tafel mit den Grisaille-Personifikationen von Spes, Caritas und Fides (Musei Vaticani, Vatikan) ist in der Albertina neben der Albertina-Zeichnung der „Caritas“ zu sehen. Wo der gemalte Tondo bereits in die Verallgemeinerung geht, ist die Zeichnung noch spontan, was in der Vergangenheit dazu geführt hat, sie später zu datieren.
Wirklich berühmt wird Raffael in der Florentiner Zeit für seine Madonnen-Darstellungen wie die „Heilige Familie mit dem Lamm“ (1507 datiert, Museo Nacional del Prado, Madrid), die „Madonna Esterházy“ (Szépmu˝vészeti Múzeum, Budapest), die „Madonna mit Kind“ (Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin) oder die im KHM ausgestellte „Madonna mit Kind und dem Johannesknaben“ (1506, Kunsthistorisches Museum, Wien). Varianten- und einfallsreich kombiniert Raffael das beliebte Bildthema während seiner ganzen Schaffenszeit immer wieder durch. Skizzenblätter zeigen den „realistischen“ Zugang, der während des Arbeitsprozesses einer Klärung und Idealisierung unterzogen wurde. Die unvollendete „Madonna Esterházy“ hängt neben ihrer unmittelbaren Vorzeichnung, die Spuren der Übertragung auf die Tafel zeigt.
Kleinformatige „Juwelen“ des jungen Raffael sind auch seine Darstellungen des „Hl. Georg den Drachen besiegend“ (um 1504/05, Louvre) sowie „Traum des Scipio Africanus d. Ä.“ (um 1504, The National Gallery, London). Vor allem der „Hl. Georg“ ist ein Exempel für Raffaels inzwischen gewachsenes Verständnis für Dynamik und Expressivität im Bild. Damit entfernte er sich bereits deutlich von seiner künstlerischen Herkunft (Perugino) und zeigte sich als lernwilliger Schüler Leonardos.
Achim Gnann, Kurator der Schau und Experte für italienische Renaissance-Zeichnung, betont die komplexe Arbeitsmethode Raffaels. Zeichnen bedeutete für Raffael Nachdenken und Ölgemälde bzw. Fresken vorzubereiten. Die manchmal spontan, manchmal konzise ausgeführten Blätter lassen auf einen langwierigen Entstehungsprozess der Werke rückschließen. Meist, so Gnann, begann Raffael mit einer spontanen Bildidee, die er schnell auf ein Blatt Papier warf. Dann durchlief diese Idee verschiedene Stadien, bis zum Schluss ein Karton die endgültige Komposition festlegte. Dazwischen studierte Raffael einzelne Figuren oder Figurengruppen, um Haltungen, Gebärden und das Zueinander der Figuren zu klären. Mit Hilfe von Aktstudien vergewisserte er sich der Spannung im Körper, ausgedrückt durch Muskeln und Sehnen. Draperiestudien hingegen thematisieren den Fall der Gewänder – aber vor allem das Spiel mit Licht und Schatten in den Faltentälern. Detailstudien von Händen und Köpfen (z.B. für die „Transfiguration“) können auch noch während der Arbeit am Ölgemälde entstanden sein, um einmal mehr das Minenspiel, die Beleuchtung, die Gestik durchzudeklinieren.
Raffaels Zeichnungen entstehen also in seiner Werkstattpraxis nicht als autonome Kunstwerke, sondern haben eine dienende Funktion. Damit steht der Mittelitaliener in deutlichem Kontrast zu Albrecht Dürer, dessen ausformulierte Naturstudien – etwa das „Rasenstück“ – in keinen Gemälden „Verwertung“ fanden.
Die römische Phase ist vor allem von Freskomalerei geprägt, die naturgemäß in der Wiener Ausstellung nur anhand von Abbildungen in die Schau geholt werden können. Ein Modell der ersten drei Räume der Stanzen, an denen Raffael ab 1509 arbeitete, gibt einen Raumeindruck; an die Wände affichierte, lebensgroße Reproduktionen in Schwarz/Weiß verankern die Zeichnungen in den Entstehungskontext.
Julius II. beauftragte Raffael mit der Ausstattung der Stanzen, da er selbst die wenige Jahre zuvor von Pinturicchio ausgemalten Räume für Alexander VI. nicht goutierte. Bis zu seinem Lebensende sollte sich Raffael, anfangs für Julius II. und später für Papst Leo X., mit der Ausstattung der päpstlichen Gemächer beschäftigen. Die „Disputa“, das erste von Raffael ausgeführte Fresko in Rom, ist mit fast zwanzig Zeichnungen am besten dokumentiert. Hier lassen sich die oben beschriebenen Schritte von der ersten Idee über Detail- und Draperiestudien am eindrücklichsten nachvollziehen. Für die zweitelige Komposition ließ sich das junge Talent von Fra Bartolommeos Fresko des „Jüngsten Gerichts“ (1498/99) in Florenz inspirieren. In der Albertina sind Studien für jeweils eine Hälfte der symmetrischen Komposition chronologisch geordnet. Die Draperiestudien - einige davon erstauntlich expressiv (!) - wurden mit Hilfe von in Gips getränkten Kleindungsstücken am Ende des Entwurfsprozesses angefertigt.
Ein denkwürdiges Kuriosum ist der Fall „Salomos Urteil“: Die von Raffael für die Decke der Stanza della Segnatura um 1510 geschaffene Komposition wurde kurzerhand in einen „Kindermord“ umgedeutet und umformuliert. Vasari berichtet, dass Raffaels Begeisterung für Dürer ihn dazu angeregt hätte, an druckgrafische Reproduktionen seiner Werke zu denken. Marcantonio Raimondi (1475–1534) reichte als einzige Kupferstecher in Rom an die Dürer‘schen Qualitäten heran und begann in dieser Zeit mit Raffael zusammenzuarbeiten. Als erstes wichtiges Blatt entstand „Der Bethlehemitische Kindermord“ nach einer Zeichnung von Raffael. Vielleicht ist das Blatt aus Budapest wirklich ein abgeriebenes Original – allerdings fehlen hier die architektonischen Elemente im Hintergrund.
Die Verbindung von Raffael zu Albrecht Dürer war, wenn auch nicht gänzlich nachvollziehbar, eng. Der einzige Beleg für ihre gegenseitige Bewunderung ist das in der Albertina verwahrte Blatt Raffaels, das im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Borgobrandes in der Stanza dell’Incendio steht. Raffael muss dem Dürer mehrere Blätter geschickt haben, von dem nur dieses erhalten geblieben ist, um seinem Kollegen zu zeigen, wie er arbeitet. So zumindest notierte es Dürer 1515 am Blatt selbst. Noch während seines Studiums, erzählt Archim Gnann, wären Zuschreibung und Beschriftung stark bezweifelt worden. Doch die vereinfachte Darstellung schließt eine Autorschaft von Raffael nicht aus, wie seit einigen Jahren wieder betont wird. Seither handelt man die Zeichnung zweier männlicher Akte wieder als authentische Werke Raffaels und erfreut sich an der schönen Geschichte eines dokumentierten Künstleraustauschs.
Zu den atemberaubendsten Werken in der Ausstellung zählt m.E. der Karton für den Pferdekopf für die Stanza dell’Eliodoro. Die Kraft des Pferdes, seine geblähten Nüstern, die wallende Mähne wurden dreihundert Jahre später von Eugène Delacroix (1798–1863) aufgenommen und in dessen orientalischen Phantasien weitergeführt. In ausdrucksstarken Details wie diesen oder unzähligen figure serpentinate zeigt sich der Einfluss Michelangelos (vor allem die Ignudi und Sibyllen der Sixtina-Decke), der dem „klassisch ruhigen“ Raffael eine durchaus interessante Note abringt. Steigerung und auch dramatischer Endpunkt dieses Künstlerwettstreits ist die „Transfiguration“ (The National Gallery, London). Um sich gegen den von Michelangelo unterstützten Sebastiano del Piombo durchzusetzen, entwarf Raffael ein dramatisches Nachtstück (→ Michelangelo & Sebastiano del Piombo). Indem er die Transfiguration und die Heilung des besessenen Knaben miteinander verband, konnte er eine vielfigurige Szene entwerfen. Die Reaktionen der Apostel und Frauen auf das Wunder lässt sich an mannigfaltigen Gesten und reichem Minenspiel nachverfolgen: Minutiös studierte Raffael die Affekte und wie sie sich am Körper zeigen.
Neben dem Papst – und das wird in der Hängung deutlich – spielten noch Patrizier als Auftraggeber sowohl von Porträts wie Madonnen als auch Dekorationsaufträgen wie Agostino Chigi (1466–1520) in der Farnesina bzw. seiner Familienkapelle in Santa Maria della Pace in Rom.
Bindo Altoviti (1491–1557) gab bei Raffael ein Porträt (um 1514/15, National Gallery of Art, Washington) und die monumentale „Madonna dell’Impannata“ (1511, Palazzo Pitti, Florenz) in Auftrag. Das Gemälde wurde für die Ausstellung erstmals gereinigt und hängt nun mit den Vorzeichnungen in der Albertina. Der Titel leitet sich vom Pergament ab, mit dem Fenster abgeklebt und verschattet wurden. Die weißen Blätter im Hintergrund leuchten nun erstmals auf, die Lokalfarbigkeit und die großen Flächen der Gewänder erstrahlen, die Linienführung ist charakteristisch weich und feingliedrig. Die Identifikation der weiblichen Heiligen (Elisabeth, Anna?) ist nicht gesichert, hierbei handelt es sich mehr um typisierte Figuren (die alte und die junge Heilige). Wie in vielen Madonnendarstellungen Raffaels handelt es sich auch um ein erstauntes Erkennen, ein Entdecken, ein Schleier Heben und in diesem Fall sogar ein vorsichtiges Anstupsen des Christusknaben als göttliche Figur.
Agostino Chigi (1466–1520) beauftragte Raffael mit der Fertigstellung der Loggia seiner Villa am Tiber, die Sebastiano del Piombo begonnen hatte. Raffael malte dort seinen berühmten „Triumph der Galatea“. In einer zweiten Ausstattungsphase 1519 gestaltete Raffael die Geschichten von Amor und Psyche in der Gartenloggia sowie Szenen aus dem Leben von Alexander dem Großen im Schlafzimmer der Villa. Hierfür haben sich hauptsächlich Zeichnungen von Mitarbeitern Raffaels erhalten.