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Wien | Albertina modern: Herbert Boeckl – Oskar Kokoschka Eine Rivalität | 2023/24

Die Ausstellung „Herbert Boeckl – Oskar Kokoschka. Eine Rivalität“ zeigt zwei der bedeutendsten österreichischen Künstler des Expressionismus. Präsentiert werden mehr als 100 Zeichnungen.

Die Ausstellung „Herbert BoecklOskar Kokoschka. Eine Rivalität“ zeigt zwei der bedeutendsten österreichischen Künstler des Expressionismus. Präsentiert werden mehr als 100 herausragende Arbeiten auf Papier, eine Auswahl aus den reichen Beständen der Albertina. Zwar verbindet Boeckl und Kokoschka ihr ähnliches Alter und ihre lange Schaffenszeit (sie reicht bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts), doch sie beschreiten ganz unterschiedliche Wege. Die Ausstellung bietet einen umfassenden Überblick über das Schaffen beider Künstler und hebt mit mehr als 100 herausragende Arbeiten auf Papier die bedeutende Rolle der Zeichnung in ihrem Œuvre hervor.

Kokoschka – Boeckl in der Albertina modern 2023/24

Oskar Kokoschka ist einer der Gründerväter der Moderne, ein weltberühmter Künstler mit internationaler Karriere. Bereits ab 1906/07 entstehen seine frühexpressionistischen Hauptwerke in Wien, der pulsierenden Residenzstadt einer Großmacht. Er geht nach Deutschland und gilt bereits in den 1920er Jahren als wichtige Persönlichkeit der zeitgenössischen Malerei.

1934 geht Kokoschka aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach Prag, und flieht 1938 nach London. Sein Werk wird als „entartet“ diffamiert, er reagiert darauf mit extrem politischen Arbeiten. Boeckl bleibt, nicht zuletzt wegen seiner großen Familie, in Österreich und versucht, seine Arbeit so gut wie möglich fortzusetzen. Er wird nach 1945 die prägende Lehrerpersönlichkeit in Österreich.

Herbert Boeckls Œuvre beginnt sich erst nach dem Tod von Gustav Klimt und Egon Schiele (1918) und dem Umzug von Kokoschka nach Dresden (1919) zu entfalten, obwohl er nur acht Jahre jünger ist. Er findet ganz andere Voraussetzungen vor und muss sich einem Österreich anpassen, das nur mehr Reststaat ist. Der Frühexpressionismus ist bereits Geschichte, ebenso die Künstlergruppen Die Brücke und Der Blaue Reiter. Der Expressionismus von Boeckl, der im Österreich der 1920er und 1930er Jahre zur künstlerischen Leitfigur wird, hat daher einen anderen Ausgangspunkt.

Die Ausstellung eröffnet mit den frühexpressionistischen Werken von Oskar Kokoschka, insbesondere mit seinen frühen Aktzeichnungen ab 1907. Diese zeigen eine grundlegend unterschiedliche Auffassung des nackten Menschen im Vergleich zu Boeckl, dessen Werk erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzt. Neben Kokoschkas expressionistischen Porträts, die den seelischen Zustand der Porträtierten reflektieren, präsentiert die Ausstellung Boeckls Rückzug ins Private während der Zwischenkriegszeit, wo er seine große Familie, bestehend aus seiner Frau Maria und elf Kindern, darstellt.

Ein besonderes Highlight ist Herbert Boeckls „Anatomisches Skizzenbuch“ aus dem Jahr 1931. Es enthält 16 Zeichnungen von Naturstudien aus dem Seziersaal und gewährt einen Einblick in die unabänderliche Vergänglichkeit unserer Existenz. Der vierte Abschnitt der Ausstellung zeigt die späten Aquarelle von Oskar Kokoschka, insbesondere solche von Tieren und Blumen. Diese treten in Kontrast zu Boeckls späten Landschaftsaquarellen und seinen Arbeiten zum Erzberg. Diese Gegenüberstellung ermöglicht einen Blick auf die Entwicklung der beiden Künstler im späteren Verlauf ihrer Karrieren.

Oskar Kokoschka – Frühexpressionismus eines eigenwilligen Genies

In seiner frühen Schaffensperiode konzentriert sich Oskar Kokoschka vorwiegend auf grafische Arbeiten. Seine Zeichenkunst steht zunächst noch unter dem Einfluss von Gustav Klimt und dem Wiener Jugendstil. Im Schuljahr 1907/08 an der Kunstgewerbeschule beginnt für ihn eine Phase des Experimentierens, in der sich sein Zeichenstil permanent verändert.

Ungemein rasch bewältigt er die Auseinandersetzung mit der „Körper-Kunst“ von Gustav Klimt, Auguste Rodin und George Minne. Das Hauptthema seiner Zeichnungen in dieser Zeit sind Akte und Halbakte junger Mädchen. Mit seinem Lieblingsmodell Lilith Lang verbindet ihn eine unglückliche Liebe, die er in dem Buch „Die träumenden Knaben“ verarbeitet. Dieses Auftragswerk für die Wiener Werkstätte ist ein frühexpressionistisches Meisterstück der Zeichnung und Dichtung. Kokoschka hat über Nacht Erfolg und wird durch seine Unangepasstheit berühmt-berüchtigt.

Oskar Kokoschka – Menschenköpfe

Ab 1909 malt Oskar Kokoschka auf Veranlassung seines Mentors Adolf Loos zahlreiche Porträts. Die malerische Wirkung überträgt er 1912 durch die Verwendung von schwarzer Kreide auf die Zeichnung, womit er womöglich einen noch größeren Effekt erzielt.

Kokoschka porträtiert Menschen aus seinem Umfeld, Freunde und Bekannte, aber auch Geschäftspartner. So entsteht eine Art Chronik seiner Begegnungen. Er sucht in seinen Bildnissen stets nach dem „inneren Gesicht“ und will hervorholen, was für das Auge eigentlich nicht sichtbar ist. Er möchte Porträts der Psyche zeichnen und die Gefühlslage seiner Modelle auf das Papier oder die Leinwand bannen. Daher spricht man bei Kokoschka oft von Charakterbildnissen und „Seelenmalerei“.

Herbert Boeckl – Der nackte Mensch

Herbert Boeckl tritt nach dem Ersten Weltkrieg mit Zeichnungen in Erscheinung, die sich über den Linienkult des Jugendstils hinwegsetzen. Gustav Klimt und Egon Schiele sterben 1918, Oskar Kokoschka ist dabei, Österreich zu verlassen. Der Frühexpressionismus ist Geschichte, die Künstlergruppen Brücke und Der Blaue Reiter haben sich schon vor Jahren aufgelöst. Boeckl beginnt zu einem späteren Zeitpunkt und in einem anderen Umfeld als Kokoschka, nämlich im kleinen Reststaat Österreich. Er betont nicht den Kontur, sondern arbeitet mit einer offenen Zeichenweise, mit der er Körper und Raum gestaltet. Die Aktzeichnungen der 1920er Jahre zeigen keine individuellen menschlichen Körper, sondern verallgemeinern. Es kommt zu keiner expressiven Inszenierung von Körpersprache und Gestik wie bei Schiele, sondern zu einem fließenden Übergang der Körper in ihren Umraum. Der Künstler modelliert beides mit Punkten und Flecken, die er zu einem pulsierenden Ganzen verwebt. Auf die gleiche Weise geht er bei Landschaftszeichnungen vor.

Herbert Boeckl – Karge Zwischenkriegszeit

Anfang der 1920er Jahre schließt der Wiener Kunsthändler Gustav Nebehay mit Herbert Boeckl einen Vertrag, der ihm ein monatliches Fixum garantiert und zunächst auch Reisen ermöglicht. In Berlin kommt er mit Werken von Paul Cézanne in Berührung. Der große französische Impressionist, der auf viele Künstlergenerationen faszinierend wirkt, macht auch auf Boeckl einen starken Eindruck. Für einige Jahre beschäftigt er sich intensiv mit Cézannes Bildern und konzentriert sich dabei auf die Stillleben. Seine eigenen Stillleben gestaltet er mit offenen Konturlinien und harten Hell-Dunkel-Kontrasten; sie vermitteln die karge Zwischenkriegszeit. Boeckl bleibt von der Neuen Sachlichkeit in Deutschland, dem Dadaismus in der Schweiz und dem Surrealismus in Frankreich unberührt.

Herbert Boeckl – Rückzug ins Private

Herbert Boeckl ist kein Gesellschaftsporträtist wie Oskar Kokoschka oder Anton Faistauer, die ihre Bekannten oder Auftraggeber sowie Persönlichkeiten aus Kunst und Wirtschaft darstellen. Er beschränkt sich anfangs auf seine stetig wachsende Familie (in der 1919 geschlossenen Ehe mit Maria Plahna werden bis 1941 neun Kinder geboren); sie wird ein wiederkehrendes Thema in seiner künstlerischen Arbeit. Familie ist für ihn eine gottgewollte Einrichtung, aus der er Kraft schöpft. Wie bei seinen Landschaften und Stillleben liebt Boeckl die Variation ein und desselben Motivs: Figuren werden ausgetauscht, Gegenstände hinzugefügt oder weggelassen oder die räumliche Situation verändert. Einmal wird nur ein Kind allein porträtiert, ein andermal eine Gruppe, und manchmal zeigt er sich mit seiner Frau als Paar.

Herbert Boeckl – Die nackten Toten

1931 lädt der Primararzt des Wiener Kaiser-Franz-Joseph-Spitals Herbert Boeckl ein, im Seziersaal zu zeichnen. Boeckl will ein monumentales Ölbild des Seziervorgangs –Anatomie – malen, eine Gruppendarstellung. Das Gemälde zählt heute zu seinen Hauptwerken. Er nähert sich dem Thema zunächst mit einer Reihe von Studienzeichnungen an, weit über 70 an der Zahl. Alle außer zwei befinden sich in der Sammlung der Albertina.

Boeckl bewegt sich im Seziersaal und zeichnet die dort liegenden Toten – Männer, Frauen, Kinder – in unterschiedlichen Stadien der Leichenöffnung. Manchmal zeichnet er den ganzen Körper, mitunter in perspektivischer Verkürzung; manchmal konzentriert er sich auf Details, die er besonders herausarbeitet oder wiederholt. Boeckl, der bis dahin meist Stillleben und Porträts geschaffen hat, befasst sich hier zum ersten Mal künstlerisch mit dem toten Menschen. Still beobachtend fertigt er Naturstudien über die unabänderliche Vergänglichkeit unserer Existenz an, die ihn zu einer neuen Beziehung zur Religion bringen:

„Nachdem ich die Anatomie gemalt habe, überkam mich eine große Verlassenheit.“

Oskar Kokoschka – Tiere als Symbol

Die Darstellung von Tieren fasziniert Oskar Kokoschka von Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit an. Bereits in seinen Arbeiten für die Postkarten der Wiener Werkstätte und das Buch „Die träumenden Knaben“ finden sich verschiedene Tiere als Sinnbilder für Gefühle und Seelenzustände: Überall tummeln sich Säugetiere, Fische, Vögel, Amphibien und Reptilien, die in dieser frühexpressionistischen Phase vor allem sexuell konnotiert sind. Jahrzehnte später wird das Tier von Kokoschka zum sozialen, moralischen oder politischen Symbol erhoben: Die Schildkröte zum Beispiel steht für ein langes Leben. Er beobachtet das Verhalten eines Tieres und fängt es in der Bewegung ein, oder er zeichnet tote Tiere und gibt ihnen damit eine neue Existenz.

Herbert Boeckl – Reaktion auf die Abstraktion nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzieht sich in Herbert Boeckls Werk eine Zäsur. Es ist die „Stunde null“ in der österreichischen Kunst, es herrscht Aufbruchsstimmung. Nach Jahren der Isolation werden die neuen Errungenschaften der Kunst aus Paris interessiert aufgenommen. Boeckl, der in seinem Werk nie auf politische Ereignisse reagiert hat, reagiert jetzt auf das Informel aus Paris: Seine Arbeiten werden unter diesem Einfluss abstrakter, lösen sich in Farbflecke auf, ohne jedoch vollkommen abstrakt zu werden.

Landschaft bedeutet ihm Natur, und Natur ist Schöpfung. In unzähligen Zeichnungen und Gemälden hält Boeckl die Natur fest, will das Spannungsverhältnis von Kunst und Natur enträtseln. So wie er den Schöpfungsakt der Natur als religiösen Akt versteht, sieht er seine Aufgabe als Künstler darin, die Natur in etwas Künstlerisches zu verwandeln. Seine Landschaftsbilder sind, wie auch seine Porträts, vom Glauben an die Unvergänglichkeit und Unzerstörbarkeit der Natur getragen.

Oskar Kokoschka – spätes Glück in der Natur

In Aquarellen verewigt Oskar Kokoschka die Blumen aus seinem Garten in Villeneuve am Genfersee. Der Garten mit den blühenden Pflanzen ist sein Paradies, der Ort, an den er sich von überall hinsehnt, um vor allem die Frühlingsblüte zu sehen. Im Alter realisiert er, wie notwendig ihm der Kontakt zur Natur nach den vielen Jahren in einer stinkenden, lärmenden Großstadt ist. Er hat in seinem Leben viele Kämpfe ausgefochten, sein Werk im Naziregime als „entartet“ diffamiert gesehen und darauf mit extrem politischen Arbeiten reagiert. Jetzt genießt er die Schönheit der Natur. Er aquarelliert ohne Vorzeichnung und fängt das Licht ein, das durch die Blüten und Blätter schimmert. Die Motive sind Blumensträuße, lose Blumenarrangements oder auch nur einzelne Blumenarten und Blüten. Nur selten malt er Stillleben in Öl.

Kuratiert von Elisabeth Dutz.
Quelle: Albertina, Wien

Bilder

  • Herbert Boeckl, Selbstbildnis mit blauem Hemd, 1929, Öl auf Leinwand, 90 x 74 x 5 cm (ALBERTINA, Wien – Familiensammlung Haselsteiner)
  • Oskar Kokoschka, Stehender Knabenakt nach rechts, 1912, Schwarze Kreide, Aquarell, verbräuntes Packpapier, 44 × 32 cm (ALBERTINA, Wien)
  • Herbert Boeckl, Anatomisches Skizzenbuch, um 1930, Kreide, 48 x 60 cm (ALBERTINA, Wien)
  • Herbert Boeckl, Stehender männlicher Akt, von rückwärts, 1919, Kohle, 52 x 35 cm (ALBERTINA, Wien)
  • Oskar Kokoschka, Studien eines Mädchenhalbakts (Tochter des Gauklers), 1908, Bleistift, Packpapier, 45 × 31 cm (ALBERTINA, Wien)
  • Oskar Kokoschka, Mädchen mit Halskette, 1930, Technik: Öl auf Leinwand, 56 × 38 cm (ALBERTINA, Wien - Sammlung Batliner)