Die Ausstellung „Farbenrausch. Meisterwerke des deutschen Expressionismus“ (Leopold Museum) bzw. „Radikal subjektiv“ (Barlach Haus Hamburg) präsentiert Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken aus dem Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen/Deutschland. Das Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen bezieht sich in seiner Gründungsidee auf den gleichnamigen Sammler und Unterstützer der Moderne und Begründe des Museum Folkwang. Nachdem Karl Ernst Osthaus 1921 verstorben war, verkauften seine Erben Sammlung und Namen jedoch nach Essen. Der Verlust traf die Bürger der Stadt tief: Ab 1927 bauten sie eine neue Museumssammlung auf und gründeten dazu den Karl Ernst Osthaus Bund. Die zeitgenössische Multimedia Installation von Virgil Widrich am Beginn der Wiener Schau berauscht sich an den Farben der expressionistischen Werke.
Österreich | Wien: Leopold Museum
9.10.2015 - 11.1.2016
Deutschland | Hamburg: Ernst Barlach Haus
29.5. - 25.9.2016
Die kleinformatige Pastellzeichnung „Holländische Straße mit Fahnen“ (o. J.) von Max Liebermann steht stellvertretend für den deutschen Impressionismus, gegen den sich die Expressionisten auflehnten. In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre hatte sich trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – des Widerstands von Kaiser Wilhelm II. der Impressionismus Bahn gebrochen. Auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1897 gelang Max Liebermann der Durchbruch: Ihm wurde ein eigener Saal zur Verfügung gestellt und die Große Goldene Medaille verliehen. Ein Jahr danach erhielt er den Professorentitel und gründete die Berliner Secession mit, deren erster Präsident Liebermann wurde. Die „Holländische Straße mit Fahnen“ verbindet sein frühes Interesse an einfachen, holländischen Motiven und den Straßenszenen der Pariser Impressionisten.
Kaiser Wilhelm II. nannte Liebermann einen „Apostel der Hässlichkeit“. Als „Pionier der Moderne“ und wichtigster Vertreter des deutschen Impressionismus wird er heute gefeiert. Doch nicht nur als Künstler, sondern auch als begeisterter Sammler von Edgar Degas, Camille Pissarro, Pierre-Auguste Renoir, Henri de Toulouse-Lautrec und besonders Edouard Manet tat er sich hervor. Als Präsident der Berliner Secession und Jurymitglied der Sommerausstellung 1910 lehnte er jedoch die junge Strömung des Expressionismus ab. Nachdem 27 Künstlern die Teilnahme abgesagt worden war, gründete Max Pechstein gemeinsam mit den Brücke-Künstlern, Emil Nolde und Otto Mueller die Neue Berliner Secession.
„Kunst beruht auf einem Müssen, einer Notwendigkeit (…) Das Dekorative musste nebensächlich werden, das gesteigert Menschliche und Seelische das Wesentliche, dem alles zu dienen hätte.“ (Paul Fechter, 1914)
Karl Schmidt wurde am 1. Dezember 1884 in Rottluff geboren, ab 1906 nannte er sich Karl Schmidt-Rottluff. Bereits als Gymnasiast lernte er Erich Heckel im literarischen Debattierclub 1904 in Chemnitz kennen. Ernst Ludwig Kirchner war gerade von einem Semester in München zurückgekehrt und hatte dort neben der Technischen Hochschule auch das private „Lehr- und Versuchs-Atelier für angewandte und freie Kunst“ besucht. Mit neuartigen Lehrmethoden wie dem „Viertelstundenakt“ wollten die Lehrer „gerade das Schöpferische, Spontane, Naive, Intuitive, Urwüchsige (…) herauszaubern.“ Die Freundschaft zwischen Kirchner und Heckel fußte auf ihrem Wunsch Maler zu werden. Sie waren sich gegenseitig fördernde Kollegen und herausfordernde Konkurrenten. Noch während des Architekturstudiums folgten die Bekanntschaften mit Fritz Bleyl und Ernst Ludwig Kirchner. Bevor am 7. Juni 1905 die Künstlergruppe Die Brücke gegründet wurde, übte bereits eine Van Gogh-Ausstellung in der Galerie Ernst Arnold nachhaltigen Einfluss aus. Mit dem Namen wollten sie auf ihren Weg zu etwas Neuem anspielen.
Bereits während seiner Schulzeit wurde das zeichnerische Talent von Erich Heckel erkannt und mit Preisen gewürdigt. Dass er nach seinem Abitur ein Architektur- und kein Malereistudium begann, war einem Kompromiss mit seinen Eltern geschuldet. Pflichtbewusst schloss er seine Ausbildung nach Gründung der Künstlervereinigung Brücke 1905 mit der Note „Gut“ ab. Als umsichtiger Geschäftsführer und Sprecher der Gruppe pflegte er Kontakte mit gleichgesinnten Künstlern; Franz Marc und Lyonel Feininger wurden ab 1912 sogar gute Freunde.
Max Pechstein ist das einzige Brücke-Mitglied, das an der Akademie in Dresden Malerei studiert hat. Ab 1903 war er Meisterschüler, zwei Jahre später erhielt er den Sächsischen Staatspreis für Malerei, den so genannten „Rompreis“. Trotz dieser Erfolge im akademischen System trat er 1906 der Brücke bei. Von Dezember 1907 bis Mitte 1908 hielt sich Pechstein in Paris auf und lernte dort die Künstler der Fauves kennen. Ihre Gemälde stachen durch leuchtende Farben hervor. Es ging den „Wilden“ - so die deutsche Übersetzung von „Fauves“ - darum, ihre Gefühle spontan auf Leinwände zu bannen. Max Pechstein brachte das Wissen um die Pariser Avantgarde rund um Matisse und die Künstler des Fauvismus nach Dresden mit. Die Suche nach dem Ursprünglichen, Unverbrauchten führte Pechstein an die Moritzburger Teiche, wo er sich 1910 gemeinsam mit Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner aufhielt. Dort malten und zeichneten sie gemeinsam nach ihren Lieblingsmodellen, den beiden Jugendlichen Fränzi und Marcella. Einige Jahre später reiste der deutsche Maler in die Südsee, um dort das herbeigesehnte „Paradies auf Erden“ zu finden (→ Von Matisse zum Blauen Reiter).
Emil Nolde beugte sich als Jugendlicher dem Diktum des Vaters, Handwerker zu werden und kam erst spät, mit ca. 30 Jahren zur Malerei. Er schloss kein Akademiestudium ab, sondern bildete sich in München, Dachau und Paris eigenständig fort. Nachdem sich Noldes Farbspektrum um 1903 deutlich aufgehellt hatte, beschäftigte er sich intensiv mit divisionistischen und neo-impressionistischen Malprinzipien. Dafür trug er die Spektralfarben mit zunehmend dynamischer Pinselführung auf. Eindeutig stehen hier der differenzierte Zeichenstil Vincent van Goghs in dessen gezeichneten Bildern und dessen bewegte Pinselschrift dahinter; 1910 besuchte Nolde sogar Van Goghs Verwandte in Holland. . „Die Farben waren mir ein Glück. Es war, als ob sie meine Hände liebten.“ Und: „Instinkt ist zehnmal mehr als Wissen“, war Nolde überzeugt.
Zu den wichtigsten Erlebnissen des nicht mehr ganz jungen Künstlers zählt seine „Ehrenmitgliedschaft“ bei der „Brücke“, die ihm im Februar 1906 von Karl Schmidt-Rottluff angetragen wurde. Endlich mit den Brücke-Künstlern Gleichgesinnte gefunden zu haben, erfüllte Emil Nolde anfangs mit Stolz und Freude. Bald jedoch entfremdete er sich von den philosophierenden, jungen Künstlern, da er der Ansicht war, dass sich ihre Werke zu sehr ähnelten.
Christian Rohlfs war einer der Lieblingskünstler von Karl Ernst Osthaus und durfte über 40 Jahre ein Atelier im Folkwang-Museum nutzen. Daher ist sein Werk im Hagener Museum gut vertreten. Dass der bereits 1849 in Holstein geborene Künstler überhaupt in einer Expressionisten-Ausstellung vertreten sein kann, erstaunt, war er doch um gut 30 Jahre älter als seine Kollegen von der Brücke und dem Blauen Reiter. Ein erster Kontakt mit den Avantgardisten ergab sich bereits 1906, als er gemeinsam mit Emil Nolde in Soest malte. Obwohl sich die beiden Künstler - angeblich wortlos - gut verstanden, verhinderte Nolde im folgenden Jahr, dass die Brücke-Künstler Rohlfs eine Mitgliedschaft anboten.
Zu den außergewöhnlichsten Werken aus dem Osthaus Museum Hagen zählen die kunstgewerblichen Arbeiten von Christian Rohlfs. „Dämon Weib“ (um 1906) ist eine eigenhändige Plattstich-Stickerei mit Wollfäden auf einer groben Leinwand. Bereits in den 1880er-Jahren muss sich Rohlfs mit dem Sticken beschäftigt haben, da er 1890 kleinere Arbeiten in dieser Technik in Berlin ausstellte. Doch erst nachdem er 1901 nach Hagen übersiedelt war, beschäftigte er sich um 1906 erneut mit dieser Technik. Vermutlich hatte ihn der Architekt Henry van de Velde dazu angeregt. Dieser hatte das Folkwang Museum mit einer spektakulären Inneneinrichtung ausgestattet und die Gesamtkunstwerksidee nach Hagen gebracht.
„Walter Bötticher gehört zu jener Gruppe, die in Frankreich Matisse, in Deutschland Nolde zum Führer hat. [...] Wer erkennen will, wo heute die Zukunftshoffnungen unserer Kunst liegen, wird sich den Namen dieses Künstlers merken müssen.“
Dessen war sich der Sammler und Museumsgründer Karl Ernst Osthaus sicher. Dass der expressionistische Maler heute nur mehr Spezialisten geläufig ist, hat vor allem mit seinem frühen Tod 1916 an der Somme zu tun.
Für den im westfälischen Hagen geborenen Walter Bötticher wurde anfangs Christian Rohlfs wichtig. Osthaus hatte Rohlfs ein Atelier eingerichtet, so dass dieser 1901 nach Hagen übersiedelte. Bötticher studierte an der Kunstschule Weimar und dann an den Lehr- und Versuchsateliers für angewandte und freie Kunst in München. Anschließend ließ er sich von Christian Rohlfs unterrichten und teilte sich mit ihm 1907/08 ein Atelier. Ein wichtiger Schritt für seine künstlerische Entwicklung war Böttichers Umzug nach Berlin 1910. In der Metropole knüpfte er Kontakt zu Emil Nolde und der Künstlergemeinschaft Brücke. Bereits ein Jahr später war Bötticher wieder nach Hagen zurückgekehrt. Zu seinen wichtigsten Ausstellungsbeteiligungen zählte 1912 die Kölner Sonderbund-Ausstellung, die maßgeblich von Osthaus organisiert wurde. Bötticher präsentierte „Kühe auf der Weide“ (1912) und bewies, was er von Nolde und den Brücke-Künstlern gelernt hatte: mutig gewählten Farben und flächiger Farbauftrag!
Erst ein Malaufenthalt mit Emil Nolde auf der Ostsee-Insel Alsen brachte für Schmidt-Rottluff den Durchbruch in der Malerei. Der Vergleich von Ernst Ludwig Kirchners „Porträt Emmy Frisch“ (1908) mit Gemälden aus den folgenden Jahren zeigt die Entwicklung des Brücke-Künstlers von einem Postimpressionisten zum Expressionisten. Er malte das Bildnis mit pastosen Farben und einer aufgewühlten Pinselschrift. Der Einsatz der Farbtöne ist noch der Wirklichkeitsbeschreibung verpflichtet, beginnt sich aber schon zu verselbständigen.
Das überlebensgroße „Bildnis Erich Heckel“ (1910, datiert 1908, überarbeitet nach 1923/24) von Ernst Ludwig Kirchner ist eine Hommage von Kirchner an seinen wichtigen Künstlerfreund. Er stellt ihn als Mann von Welt, weit ausschreitend in einer Parkanlage dar. Die Angaben zur Datierung verweisen auf eine komplexe Entstehungsgeschichte. Aus stilistischen Gründen lässt sich das Ölgemälde auf 1910 datieren. In diesem Jahr hatten die jungen Dresdner ihren Stil gefunden und sich vom Vorbild des Impressionismus gelöst. Nun arbeiteten sie mit großen, geschlossenen Farbflächen, schwarzen Umrisslinien und schrillen Farben. Nach dem Ersten Weltkrieg „restaurierte“ Kirchner das Gemälde und datierte es vor. Mit der früheren Datierung wollte er seine Führungsrolle in der Entwicklung des Brücke-Stils fixieren.
Otto Mueller wurde 1910 mit den Mitgliedern der „Brücke“ bekannt und trat der Künstlergemeinschaft ein Jahr später als aktives Mitglied bei. Die Jury der Berliner Secession wies Muellers Gemälde - wie jene von Emil Nolde und den Brücke-Künstlern - von der Jahresausstellung 1910 zurück. Max Liebermann spottete über den Expressionismus, dass an ihm „nur der Titel gut“ wäre. Doch die Avantgarde ließ sich nicht abhalten, ihre Werke in der Galerie Macht zu präsentieren. Die „Zurückgewiesenen der Berliner Secession“, so der Titel, wurden von Publikum und Kritik grundweg abgelehnt. Max Pechstein und Erich Heckel lernten Otto Mueller bei der Ausstellung kennen und freundeten sich mit ihm an. Noch im gleichen Jahr verbrachten Otto Muller und Ernst Ludwig Kirchner den Sommer gemeinsam in Böhmen. Charakteristisch für Muellers Malerei ist sein großzügiger Umgang mit Farbflächen ohne Binnenzeichnung. In den folgenden Jahren entwickelte er einen Akttypus, den er bis in die späten 1920er Jahre beibehielt: Seine gelängten Figuren haben eckige Gliedmaßen. Köpfe mit spitzen Kinn und schräg gestellten Augen vervollständigen Muellers lyrische, sanfte Akte.
Als Vorbereitung für die so genannte „Zigeunermappe“ (1927) fotografierte Otto Mueller Sinti und Roma. Ob er auch an ihrem Leben teilnahm, wie vielfach vermutet wurde, kann nicht bestätigt werden. Vermutlich ließ er sich zu dieser Mappe aus neun Steindrucken während eines Aufenthalts im ungarischen Szolnok inspirieren. Auf dem neunten Blatt der Serie machte er aus einer idyllischen Mutter-Kind-Szene im Titel eine „Zigeunermadonna“ - das Wagenrad im Hintergrund verwandelt sich in einen Heiligenschein. Zweifellos hat der Künstler viel Sympathie übrig für seine Modelle. Ähnlich wie Artisten und Schausteller waren und sind die Fahrenden bis heute vielen Vorurteilen ausgesetzt. Der ungehinderte Blick ermöglicht Kommunikation, die Art der Inszenierung nötigt wenn schon nicht Respekt so doch Akzeptanz ab. Ob sich in Muellers Darstellung der „Zigeunermadonna“ sein privates Drama um die Trennung von seiner zweiten Frau widerspiegelt? Elsbeth hatte Otto Mueller noch vor der Geburt ihres gemeinsamen Kindes verlassen und ihm keinen Kontakt zu seinem Sohn Joseph gewährt.
Ernst Ludwig Kirchner übersiedelte - gemeinsam mit Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff - im Oktober 1911 nach Berlin. Max Pechstein befand sich bereits seit 1908 in der Metropole an der Spree. Die Hauptstadt bot bessere Ausstellungsmöglichkeiten und eine stärkere Vernetzung mit Galeristen, Sammlern und Herausgebern von Kunstmagazinen. Nachdem sich 1911 alle Brücke-Künstler in der Großstadt Berlin niedergelassen hatten, änderten sich ihr Stil und ihre Motive. Anstelle von überhöhten Naturdarstellungen und paradiesisch-natürlichen Akten traten nun die Straßen von Berlin, die Vergnügungslokale, das metropolitane Leben. Zu den veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen zählten auch die Treffen mit Gleichgesinnten, darunter auch Schriftstellern, Galeristen, Sammlern, Modellen und Musen. Man traf sich in Salons zum Gedankenaustausch und forderte, wie Paul Hatvani es formulierte: „Der Expressionismus ist eine Revolution!“
Jeder der Brücke-Künstler reagierte anders auf die Millionen-Metropole. Ernst Ludwig Kirchner nahm vor allem die hektische Stimmung, die mondäne Nervosität auf und setzte sie in Straßen- und Atelierbildern um (→ Ernst Ludwig Kirchner: Die Berliner Jahre). Die Unbefangenheit und das Primitive der Dresdner Bilder aber auch ihr Aufbau aus reinen Farbflächen wandelte sich in Berlin in eine neue Formensprache, wie in „Akte im Atelier“ (1912) zu sehen ist: Er trieb das Kantige und Zersplitternde voran, nutzte gedecktere Farbtöne. Charakteristisch für die Kunst Ernst Ludwig Kirchners sind auch die gestrichelten Konturen, mit der er das Volumen der Körper suggerierte. Inhaltlich sticht der voyeuristische Blick, der hier auf die Frauen ermöglicht wird, hervor und ist für die frühen Berliner Jahre von Ernst Ludwig Kirchner typisch.
Ernst Ludwig Kirchner stellte zwar 1913 eine Unterhaltung der Künstler dar, war allerdings selbst nicht mehr bereit ausschließlich als „Brücke“-Künstler wahrgenommen zu werden. Er hatte in diesem Jahr eine Einzelausstellung im Museum Folkwang in Hagen und in der Galerie Fritz Gurlitt in Berlin. Als er ohne Absprache mit seinen Kollegen in der „Chronik der Künstlergemeinschaft Brücke“ sich selbst die bedeutendsten Entwicklungen der Brücke-Malerei zuschrieb, kam es zum Bruch. Seine Kollegen waren entsetzt und weigerten sich den Text zu publizieren. Es ging wohl auch darum, dass jeder einzelne seine Position am Kunstmarkt aufzubauen und zu sichern musste. Am 27. Mai 1913 lösten sich die Künstlergruppe aufgrund persönlicher Streitigkeiten auf.
Charakteristisch für den Brücke-Holzschnitt sind die kantigen Formen sowie die „hölzerne“, scheinbar ungelenke Ausführung. Deutlich sind die Spuren des Grabeisens zu erkennen, sie sind fast so persönlich wie Pinselstriche gesetzt.
Schmidt-Rottluffs Beschäftigung mit dem Holzschnitt begann früh, nämlich bereits 1905 (→ Karl Schmidt-Rottluff Holzstöcke). Während seines gesamten Lebens spielte diese druckgrafische Technik eine wichtige Rolle: So war das erste publizierte Werk von Schmidt-Rottluff ein Holzschnitt - 1911 präsentierte der Galerist und Herausgeber Herwarth Walden in seiner Zeitschrift „Der Sturm“ einen Druck. Vor allem aber während des Ersten Weltkriegs wurde das Schneiden in Holz zu einer wichtigen Beschäftigung des Künstlers. Er war im Mai 1915 zum Kriegsdienst einberufen worden und in Litauen stationiert. Eine Versetzung in die Presseabteilung ermöglichte ihm künstlerisch zu arbeiten. Es entstanden während des Kriegs Holzschnitte und Skulpturen, darunter das im Leopold Museum gezeigte „Selbstbildnis“ (1917).
Zehn Jahre vor dem „Gefangenen“ (1918) hatte Christian Rohlfs 1908 seinen ersten Holzschnitt gemacht. Immerhin war der Maler fast 60 Jahre alt, als er sich mit Feuereifer daran machte, eine neue Technik zu erlernen. Angeregt wurde er dazu durch eine Druckgrafik-Ausstellung der Brücke-Künstler im Museum Folkwang. Der Holzschnitt war - wie diese Ausstellung anhand von vielen Arbeiten belegt - eine wichtige Technik expressionistischer Künstler und vor allem der Dresdner. Sie bearbeiteten die hölzernen Druckstöcke selbst, indem sie alle Stellen, die nicht drucken sollen, wegschnitten. Die erhabenen Teile wurden mit schwarzer Druckerfarbe eingestrichen und auf ein angefeuchtetes Papier gedruckt. „Der Gefangene“ entstand am Ende des Ersten Weltkriegs. In diesen Jahren ist das druckgrafische Werk von Rohlfs von religiösen Motiven wie der „Bergpredigt“ bestimmt. Der ausgemergelte, nackte Mann hinter Gitterstäben wird zur Ikone des menschlichen Leidens und der Verzweiflung.
„Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes.“ (Gabriele Münter, 1911)
Gabriele Münter und Wassily Kandinsky führten von 1903 bis 1914 eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für das Malen im Freien, entdeckten sie 1908 den Marktort Murnau im oberbayerischen Voralpenland. Dessen malerische Lage vor der unvermittelt aufsteigenden „blauen“ Kette der Alpen und die bunt gestrichenen Häuser des Ortes selbst begeisterten sie - genauso wie Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin. Die Malwochen im August und September 1908 in Murnau wurden zu einem Wendepunkt in ihrem Schaffen.
Münters „Landschaft mit weißer Mauer“ ist aus intensiven, stark leuchtenden, großflächig und ungemischt nebeneinandergesetzten Farben aufgebaut. Sie lösen sich vom Naturvorbild, sind flächig verarbeitet, die Formen vereinfacht. Damit befreien sich die Murnauer Bilder, die die Künstlerin nun spontan direkt vor dem Motiv, in großer Anzahl und in einer Art rauschhafter Farbexplosion auf die Malpappe bringen, endgültig von den Zwängen der herkömmlichen realistischen Gegenstandsbeschreibung (→ Gabriele Münter: Malen ohne Umschweife).
Im Jahr 1911 gelangte Alexej von Jawlensky wie in „Mädchenkopf mit gelbem Turban und gelber Agraffe (Barbarenfürstin)“ (um 1912) zu seinem eigenen Stil, indem er auf fast quadratischen Leinwänden stark stilisierte Köpfe mit schrillen Farbkombinationen verband. Die wilde Farbgebung wird durch ein schwarzes Liniengerüst zusammengehalten. Sowohl die nach eigenem Empfinden zusammengestellten Farbwerte als auch die schematischen Gesichtszüge lassen den Kopf zu einer Maske erstarren.
„Ich malte (…) große figurale Arbeiten in sehr starken, glühenden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich. Ich habe sehr viel Rot genommen, Blau, Orange, Kadmiumgelb, Chromoxydgrün. Die Formen waren sehr stark konturiert in Preußischblau und gewaltig aus einer inneren Ekstase heraus.“ (Jawlensky 1911/1912)
Franz Marc studierte nur zwei Jahre an der Kunstakademie in München und war der einzige Münchner im Kreis des Blauen Reiter. Er stieß erst Anfang des Jahres 1911 auf Wassily Kandinsky, obwohl er schon zwei Jahre zuvor in der Nähe von Murnau zu malen begonnen hatte. In der Folge wurde er zum engsten künstlerischen Weggefährten Kandinskys, zum Mitherausgeber des Almanachs und zum Gründungsmitglied der Künstlervereinigung. Schon früh konzentrierte er sich auf sein bevorzugtes Sujet, die Tierdarstellung. Es ging ihm jedoch nicht um die Abbildung von Pferden, Kühen, Rehen oder Tigern, sondern um deren Symbolik. In nur drei Jahren, von 1911 bis 1914, schuf Marc ein bedeutendes Werk, das immer mehr von rhythmischer Zersplitterung und Abstraktion bestimmt ist. 1913/1914 entstand die „Kleine Komposition III“, in der sogar das Tier verschwunden ist. Rückblickend schrieb er an seine Frau Maria:
„Ich empfand schon sehr früh den Menschen als „hässlich“; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und hässliches, so dass meine Darstellungen instinktiv (…) immer schematischer, abstrakter wurden. (…) Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt; deswegen träume ich ja von einem neuen Europa.“
August Macke studierte an der Düsseldorfer Akademie und besuchte zugleich Kurse der dortigen Kunstgewerbeschule. Während einer ersten Reise nach Paris im Juni 1907 lernte er den Impressionismus kennen. Dadurch fühlte er sich in seiner Neigung zu einer sinnlichen, farbigen Gestaltung der Wirklichkeit bestärkt. Für ihn war Malen ein kreatives Umgestalten der Natur, die er mit wunderbaren Farbeinheiten im Bild neu aufbaute. Daher begrenzt er die Themen seiner Gemälde auf den eigenen Kosmos: Stillleben und Porträts, Spaziergänger unter Bäumen, auf der Uferpromenade, Frauen vor einem Schaufenster, badende Mädchen, Besucher im Zoologischen Garten. Das Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen besitzt „Helle Frauen vor dem Hutladen“ (1913).
Anfang 1910 lernte Macke in München Franz Marc kennen und schloss mit ihm enge Freundschaft (→ August Macke und Franz Marc). Obgleich Macke im folgenden Jahr nach Bonn zurückkehrte, gehörte er durch die Vermittlung von Marc zum engen Kreis des sich formierenden Blauen Reiter. Macke lieferte Beiträge für den Almanach und beteiligte sich an den Ausstellungen des Künstlerkreises. Dem Mystischen und „Geistigen“ in der Kunst von Kandinsky und Marc stand er jedoch distanziert gegenüber. Im Frühjahr 1914 unternahm er zusammen mit Paul Klee und Louis Moilliet jene legendäre Tunisreise, von der er eine Fülle von Aquarellen mitbrachte.
„Gaberndorf I“ (1921) zeigt einen Stadtteil von Weimar in Thüringen. Die evangelische Dorfkirche mit ihrer hohen Mütze und spitzen Turmhelm ist ein häufiges Motiv in den Gemälden von Lyonel Feininger. Außergewöhnlich an dieser Version ist, dass er eine sitzende, menschliche Figur mit der Kirche zu einem Vexierbild verbindet. Der in New York City geborene, deutsch-amerikanische Künstler kam 1887 nach Deutschland, wo seine Eltern im Rahmen einer Konzertreise gastierten. Schon ab Mitte der 1890er Jahre war Lyonel Feininger ein bekannter Karikaturist, der sowohl für deutsche, österreichische als auch amerikanische Zeitungen arbeitete.
Erst 1910 trat Feininger als Maler an die Öffentlichkeit. In den folgenden Jahren interessierte er sich für atmosphärische Farbphänomene und wechselnde Lichtverhältnisse. Angeregt durch kubistische Werke von Pablo Picasso und Robert Delaunay entwickelte er sein „Prinzip der Monumentalität und Konzentration“. Indem er von der „Kristallisierung des Gesehenen“ sprach, erschuf er einen vollkommen neuen Bildraum. Feininger wertete das Gesehene in andere Farb- und Helligkeitswerte um. Er nutzte auch monochrome Erdtönen und eine sublime Lichtregie. Klang und Symbolik seiner Farbwahl, Transparenz der Schichten, all das bewirkt eine Steigerung der Bedeutung des zersplitternden Motivs: Die gotische Kathedrale wächst als Licht-Inkarnation in den Kosmos einer erträumten Zukunft.
Wichtiger als schnelles Einfangen von Farb- und Lichtwerten war den Expressionisten, das innere Erleben, Einfühlung, Visionen und „Gesichte“ als Inspiration für ihre Werke zu nutzen. Unter dem Begriff der „Gesichte“ verstanden sie Erscheinungen, Empfindungen der Augen „ohne Reiz von außen“. Die so geschaffenen Bildnisse konnten manchmal in die Zukunft schauende Qualitäten entwickeln. Aber immer sind sie am Wesen des Dargestellten interessiert und nicht an der Fassade.
Erich Heckels „Männerbildnis“ (1918/19, Farbholzschnitt) zählt zu den berühmtesten Menschenbildern des Expressionismus und seines Schöpfers Erich Heckel. In ihm steckt ein Selbstporträt Heckels als konzentriert denkendes Subjekt. Der bildfüllende Kopf mit seiner hohen Stirn und die vor dem Kin gefalteten Hände sind Symbole für das Geistige Vermögen des schöpferischen Künstlers an sich. Nachdenklich blickt die Figur zur Seite, vielleicht sieht sie auch mehr in sich hinein. Wie sehr sich Erich Heckel mit dem „Männerbildnis“ identifizierte, zeigt seine Weiterverwendung als Ausstellungsplakat. Von Mai bis Juni 1920 fand am Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld die „Ausstellung neuzeitlicher deutscher Kunst“ statt, für deren Bewerbung diese Komposition eingesetzt wurde.
Zu den Lieblingsthemen der Brücke-Künstler zählte der nackte Mensch in unberührter Natur. Bewusst entschieden sich die Künstler gegen den Fachbegriff „Akt in einer Landschaft“, um ihr Konzept einer natürlichen Nacktheit in einer wild wuchernden Umgebung zu betonen.
Im Sommer 1912 besuchte Ernst Ludwig Kirchner gemeinsam mit seiner Freundin Erna Schilling die Ostsee-Insel Fehmarn. Wie schon zuvor an den Moritzburger Teichen malte Kirchner nackte Menschen in freier Natur, darunter „Badende (Fehmarn)“. Von ihrem Quartier beim Leuchtturmwärter von Staberhuk führte ein Weg durch das Gehölz hinunter zum Strand. Hier widmete sich Kirchner der Aktmalerei. Mit dem Ergebnis war der Maler höchst zufrieden und berichtete einem Freund begeistert:
„Ich habe dort Bilder gemalt von absoluter Reife, soweit ich das selbst beurteilen kann. Ocker, blau, grün sind die Farben von Fehmarn, wundervolle Küstenbildung, manchmal von Südseereichtum (…) Ich bin (…) zu einer Steigerung der Form gekommen, die zwar den naturwissenschaftlich gefundenen Proportionen widerspricht, die aber in ihren geistigen Beziehungen ausgeglichen und proportioniert ist. (…) so wächst die Form von sich selbst ins Große.“ (Karl Schmidt-Rottluff)
Karl Schmidt-Rottluff reiste im Sommer 1913 nach Nidden an der Kurischen Nehrung. Bis 1919 gehörte der Seeort zum deutschen Ostpreußen, heute liegt er in Litauen. Max Pechstein hatte ihn entdeckt und ihn seinem Freund Karl Schmidt-Rottluff wärmstens empfohlen. Schmidt-Rottluff liebte das Meer mit seinen ungestümen Wellen und seinen Licht- und Wetterstimmungen, und die Landschaftsmalerei war das wichtigste Genre in seinem Werk. Im Fischerdorf Nidden fand er wieder zu monumentalen Formen. Die Schiffe in „Boote am Wasser (Boote im Hafen)“ (1913) wirken genauso schnell hingeworfen wie das Ufer und die Vegetation links. Die offene Malweise und die konturierten Farbflächen erinnern an den so genannten Brücke-Stil von 1909/1910. Zu den wichtigsten Entscheidungen von Karl Schmidt-Rottluff zählt sein Verzicht auf Details. Er reduzierte die Formen auf das Wesentliche, womit er ein Höchstmaß an Ausdruck erzielte. Anregung dafür fand er in der ozeanischen und vor allem afrikanischen Plastik.
Heckel meldete sich kurz nach Kriegsausbruch freiwillig zum Militärdienst, da er gerne „mitgeholfen und diese ganz starken Eindrücke aus nächster Nähe“ miterleben wollte, wie er selbst zugab. „Frühling in Flandern“ entstand im Jahr 1916. Erich Heckel war seit März 1915 als Sanitäter der vierten Armee in Belgien stationiert. Er hatte dabei Glück im Unglück, denn zwei Monate später wurde er nach Ostende versetzt und 1916 zum Sektionsführer ernannt. Als solcher verpflegte er gesunde, durchreisende Soldaten, konnte malen und sogar den belgischen Maler James Ensor besuchen. Der „Frühling in Flandern“ ist ein dunkles Bild. Über einer ruhigen Landschaft mit entlaubten Bäumen türmt sich ein wolkenverhangener Himmel. Die Sonne bricht zwar durch, ist aber kraftlos. Diese nach innen gekehrte Sicht auf den Krieg wurde in Berlin sehr positiv aufgenommen und Heckels Landschaften für die Nationalgalerie angekauft.
Doch nicht nur zunehmende Beachtung während der Kriegszeit war die Folge für den Expressionismus, sondern auch Verluste: Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde August Macke zum Kriegsdienst eingezogen und fiel wenige Wochen später am 26. September 1914 an der französischen Front bei Perthes-les-Hurlus in der Champagne. Im August 1914 wurde Franz Marc an die französische Front eingezogen. Er fiel am 4. März 1916 auf einem Erkundungsritt bei Verdun. Lyonel Feininger wurde als Amerikaner in ein Internierungslager verbracht, Wassily Kandinsky musste das Land in Richtung seiner Heimat verlassen. Kandinskys Beziehung zu Gabriele Münter zerbrach in den folgenden Jahren. Der ebenfalls aus Russland stammende Alexej von Jawlensky floh mit seiner Freundin in die Schweiz. Max Beckmann und Ernst Ludwig Kirchner erlitten Nervenzusammenbrüche, die bei Kirchner in Drogensucht endete.
In den 1920er Jahren begann sich der Publikumsgeschmack zu ändern, und auch Emil Nolde wurde berühmt! Zum 60. Geburtstag richtete man ihm eine große Retrospektive aus, die in Dresden, Hamburg, Kiel, Essen und Wiesbaden zu sehen war. Der Erfolg ermöglichte dem Künstler und seiner Frau Ada ein Atelierhaus in Seebüll zu erwerben und einen prächtigen Blumengarten anzulegen. Wie schon in seinem Frühwerk inspirierten ihn Blumen, Landstriche und das Wolkenschauspiel am Himmel zu expressiven Farbenspielen.
Wassily Kandinsky publizierte sechs Monate nachdem er am Bauhaus in Weimar zu unterrichten begonnen hatte, „Kleine Welten“. Mit der Serie konnte er nicht nur seine technische Brillanz beweisen, sondern wollte mit ihnen auch seinen Neuanfang in Deutschland feiern. Als gebürtiger Russe hatte er München während des Ersten Weltkriegs verlassen müssen. Es folgten turbulente Jahre - die Eheschließung mit seiner zweiten Ehefrau Nina, der Tod des gemeinsamen Sohnes, die Russische Revolution, die Einschränkung der künstlerischen Freiheit durch die bolschewistische Diktatur und Auseinandersetzungen mit Künstlerkollegen wie Alexander Rodtschenko (→ Von Chagall bis Malewitsch. Russische Avantgarden). Als das Ehepaar Kandinsky zu Weihnachten 1921 in Berlin eintraf, bedeutete das für Wassily einen Neuanfang. Noch immer war seine Kunst der Abstraktion in Deutschland heftig diskutiert und wenig verstanden. In Russland hatte er sich von einem expressiven Abstrakten zu einem nach Gesetzmäßigkeiten konstruierenden Künstler weiterentwickelt. Seine Kompositionen sind nun geklärt und systematisch, aber voller Klänge und Harmonien. Die „Kleinen Welten“ weisen bereits auf die geometrische Bildsprache der kommenden Jahre voraus. Das „Geistige in der Kunst“ - so der Titel seiner theoretischen Schrift aus dem Jahr 1912 - ist in ihnen wirksam.
Das großformatige Aquarell „Der Dichter“ (1924) des Dresdner Künstlers Conrad Felixmüller entstand während der Weimarer Republik. Es ist charakteristisch für den Maler aus Sachsen, dass er sich nicht für Posen, sondern für Menschen interessierte. Seine Künstlerporträts zeigen Kämpfer, die für ihre Überzeugungen leben. Er wollte „Zeitgesichter“ einfangen. Knapp zehn Jahre zuvor war Felixmüller als diskussionsfreudiger Maler nach Berlin umgezogen. Schon damals stand der Mensch im Mittelpunkt seiner Kunst. Zudem war er publizistisch aktiv und stellte gemeinsam mit den Brücke-Künstlern aus. Der überzeugte Sozialist Felixmüller war nach der gescheiterten Novemberrevolution ernüchtert, glaubte aber noch immer an eine „Kunst des einfachen, luxuslosen Menschen“. Als er 1918 den Sächsischen Rom-Preis gewann, verwendete Felixmüller das Geld nicht, um nach Italien zu fahren, sondern für eine Reise durch das Ruhrgebiet! Der Arbeitersohn identifizierte sich mit dem Proletarier. Auch der Dichter in diesem Aquarell ist kein Bohemien, sondern geht - im wahrsten Sinne des Wortes - seinem Beruf nach. Ob sein Werk jedoch von den unsichtbaren Städterinnen und Städtern gehört werden wird, bleibt offen. Die dunklen Fensteröffnungen lassen jedenfalls nichts Gutes erhoffen.
Das Mappenwerk „Berliner Reise“ (1922) mit 10 Lithografien und einem Titelblatt widmete Max Beckmann kurz nach dem Ersten Weltkrieg dem großstädtischen Leben (→ Max Beckmann und Berlin). Es beginnt mit einem Selbstbildnis des Künstlers in einem anonymen Hotelzimmer. Er sitzt in korrekter Kleidung mit Griffel und Malunterlagen zwischen Spiegeln. Dort hat er es sich mit einer Flasche Wein und einer Zigarre bequem gemacht. In den folgenden neun Drucken entwickelt Beckmann ein vielseitiges Panorama unterschiedlicher sozialen Gruppen und ihrer Beschäftigungen. Der Leierkastenmann mitten unter den „Bettlern“ ähnelt frappant Karl Marx. Die Bettler auf der Straße scheinen seinem Lied nicht zu folgen und die linken Intellektuellen in „Die Enttäuschten II“ haben sich zwar zu einem Gedankenaustausch getroffen, können aber ihr Gähnen nicht unterdrücken. Der selbst unpolitische Beckmann zeigt, wie bürgerich-adelige Konservative und politische Linke gleichermaßen von den politischen Entwicklungen enttäuscht sind. In der „Nacht“ wirft er einen Blick auf Armut in einer Dachkammer. Beckmann gelingt das mit Anteilnahme und ohne Anklage. Charakteristisch für ihn sind spürbar überzeichnete Charakterköpfe, die er während seiner Streifzüge durch die Stadt heimisch beobachtete. Nackttanz war vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland per Zensur verboten und nur aus Frankreich bekannt. Nun gehören Varietés und Tingeltangel genauso zu den Berliner Sehenswürdigkeiten wie die bunte Theaterlandschaft.
Das Spätwerk von Christian Rohlfs wird von Blumenbildern dominiert. Anstelle von Ölfarben nutzte er ab den 1910er-Jahren zunehmend Wassertempera, die ihm das Wegwischen von Farbe ermöglichte. Ausgangspunkt für seine Bildschöpfungen waren zwar noch immer Natureindrücke, doch ging er in der Umsetzung weit darüber hinaus. Der Vergeistigung der 1910er Jahre folgte ein Streben nach Immaterialität. Ende der 1920er Jahre gelangte Rohlfs in die letzte Phase seines Spätwerks und ließ Blumen und Pflanzen zunehmen schweben und hinter Farbschleiern auftauchen. Rohlfs setzte seinen sinnlichen Eindruck und die dadurch ausgelöste Empfindung ganz unmittelbar oder aus der Erinnerung um. Der Gestaltungsprozess zog sich dann jedoch über einen längeren Zeitraum hin, da Rohlfs die Farben mehrfach auftrug, partiell wieder wegwischte oder abrieb. Die Arbeit besteht daher aus mehreren Farbschichten, die neu aufgetragen, weggewaschen und mit flüchtigen Strichlagen ergänzt wurden. „Rote Cannas“ (1935) wird zu einem Farberlebnis in Rot und Blau! Auch wenn Christian Rohlfs nicht den Schritt in die Abstraktion gemacht hat, löste er sich von der Wiedergabe des Gesehen, um einer neuen Seherfahrung Platz zu machen.
Das Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen bezieht sich in seiner Gründungsidee auf den gleichnamigen Sammler und Unterstützer der Moderne. Der Bankierssohn aus Hagen hatte von seinen Großeltern 3 Millionen Reichsmark geerbt und davon etwa 2/3 für seine Sammlungstätigkeit ausgegeben. Er erwarb als erster in Deutschland Werke von Künstlern der französischen und deutschen Moderne. Osthaus ließ sich für seine Kollektion ein Ausstellungshaus von Henry van de Velde errichten, das „Folkwang-Museum“. Hier machte er ab 1902 seine Werke der Öffentlichkeit zugänglich und organisierte Ausstellungen. Nachdem Karl Ernst Osthaus 1921 verstorben war, verkauften seine Erben Sammlung und Namen jedoch nach Essen.
Der Verlust traf die Bürger der Stadt tief: Ab 1927 bauten sie eine neue Museumssammlung auf und gründeten dazu den Karl Ernst Osthaus Bund. Schon sieben Jahre später eröffnete ein neues Museum, das durch die NS-Aktion „Entartete Kunst“ gleich wieder 400 Werke verlor. In Karl Ernst Osthaus Museum umbenannt, konnte erst nach 1945 wieder an den Aufbau einer Sammlung Klassischer Moderne gedacht werden. Die Stadt kaufte 1955 das alte Folkwang-Gebäude und erwarb wichtige Werke im Kunsthandel. Ergänzungen brachten vor allem bürgerliche Sammler: Erst jüngst schenkte Paul Vogt dem Museum über 200 Werke aus dem Nachlass von Christian Rohlfs.