Georges de La Tour, Die reumütige Maria Magdalena, Detail, Öl auf Leinwand, 113 x 92.7 cm (National Gallery of Art, Washington. Alisa Mellon Bruce Fund, Washington D. C.)
Georges de La Tour (1593–1652) bleibt als Person ein Geheimnis, prominent sind hingegen seine mystischen Heiligendarstellungen und unterhaltsamen Genrebilder. Mit größter Akribie setzte sie der lothringische Maler des Barock mit nächtlichen Räumen oder farbenfrohen Gewändern um. Da nur vier Werke datiert und 18 signiert sind, herrscht in der Forschung noch Uneinigkeit über die künstlerische Entwicklung La Tours1: Insgesamt 46 Gemälde werden derzeit als eigenhändig akzeptiert, ergänzt durch 28 Gemälde und Druckgrafiken nach verlorenen Werken. Das heute bekannte Gesamtwerk von Georges de La Tour besteht folglich aus 74 Kompositionen.2 Der Prado schaffte es, mit 31 Gemälden zwei Drittel des Gesamtwerks nach Madrid zu holen!
Spanien | Madrid: Prado
23.2. – 12.6.2016
Georges de La Tour, ein Altersgenosse von Jacob Jordaens, Claude Vignon, Jaques Callot und Louis Le Nain, ist erstmals 1616 in Vic-sur-Seille dokumentarisch nachweisbar. Bei wem er zum Maler ausgebildet worden war, ist nicht bekannt. Er könnte in die Werkstatt von Jacques Bellange in Nancy gegangen sein, denn die frühen Werke La Tours sind in der manieristischen Malweise von Nancy ausgeführt. Die Hochzeit mit Diane Le Nerf, der Tochter eines Finanzverwalters des Herzogs von Lothringen, im Jahr 1617 ist nicht nur ein Zeichen dafür, dass Georges de La Tour seine Ausbildung abgeschlossen hatte, sondern markiert auch seinen sozialen Aufstieg vom Sohn eines Bäckermeisters ins Patriziat. Im Alter von 27 Jahren übersiedelte er nach Lunéville, in die Heimatstadt seiner Ehefrau. Die Bürger von Lunéville und die holländische Administration im nahen Nancy dürften in den folgenden Jahren auch seine wichtigsten Auftraggeber gewesen sein. Der Herzog von Lothringen war in den Jahren 1639 bis 1642 wichtig. Im Jahr 1639 erhielt La Tour auch den Titel peintre du roi von Ludwig XIII. und lebte kurzzeitig in Paris.
Wenn auch Georges de La Tour nach seinem Tod für 300 Jahre vergessen wurde, so provozierte sein Wohlstand den Neid von so manchem Zeitgenossen. Wegen Schlägereien wurde er mehrfach angezeigt. Einer seiner Söhne wurde 1670 in den Adelsstand erhoben. Ungeklärt ist, wieso dieser seinen Einfluss nicht nutzte, um seinem Vater ein Gedächtnis zu setzen. Es gibt kein Porträt des Malers, wenn man nicht glaubt, dass er sich in der Figur des Falschspielers im Gemälde „Der Falschspieler mit dem Karo-As“ porträtiert hat.
Im Jahr 1620 zog Georges de La Tour nach Lunéville. In diesen Jahren kam er mit den Gemälden von Caravaggio (1571–1610) in Kontakt. Vielleicht hatte er über Druckgrafiken und Gemälde holländischer Künstler wie Gerard van Honthorst (1592–1656), Dirck van Baburen (1595–1624) und Hendrick ter Brugghen (1588–1629) davon Kenntnis erhalten. Ob Georges de La Tour eine Italienreise3 bzw. eine oder zwei Hollandreisen4 unternommen hat oder nicht, ist noch strittig. Belegen lässt sich keine davon. Nicht zuletzt konnte er ein eigenhändiges Werk Caravaggios in Nancy selbst studieren: Die „Verkündigung“ (um 1608, Musée des Beaux Arts de Nancy, Nancy) von Caravaggio dürfte von einem Sohn des Herzogs von Lothringen aus Malta mitgebracht worden sein. Heinrich II., der Herzog von Lothringen, stiftete das Gemälde der Bischofskirche als Hochaltarbild, und es dürfte wohl schon 1609 aufgestellt worden sein.
Die Beschäftigung mit den Werken von Caravaggio und seinen Nachfolgern, den so gennannten Caravaggisten, ließen den lothringischen Barockmaler mit spärlich beleuchteten Interieurs und kontrastreicher Hell-Dunkel-Malerei arbeiten. Dazu kommen noch die ruhige Atmosphäre, der Verismus und die präzise Schilderung von Oberflächen und Stoffen (Stofflichkeit). Zunehmend wandte sich Georges de La Tour nächtlichen Szenen zu, die er mit jeweils einer Kerze spärlich erhellte. La Tours Nachtstücke erhalten dadurch ihre eigene, fast überirdische Stimmung. Dem entspricht auch die zunehmende Vereinfachung der Formen. Im Spätwerk der 1640er Jahre, beginnend mit der Serie zur reumütigen Mara Magdalena, reduzierte der Maler die Figuren auf nahezu geometrisch Formen ohne hervorstechende Details.
Georges de La Tour spezialisierte sich auf religiöse und genrehafte Szenen, die er entweder als realistische Tagstücke (Genremalerei mit komplexen Geschichten) oder ruhige Nachtbilder (meist biblische Themen) entwarf.
Besondere Bekanntheit erlangte er durch Szenen aus dem Schelmenleben. Das sind Tagstücke, die Gaunereien zeigen, wie zum Beispiel das Falschspielen mit Karten wie „Der Falschspieler mit dem Karo-Ass“ und betrügerische Wahrsagerei, darunter das herausragende Gemälde „Die Wahrsagerin“ aus dem Metropolitan Museum. Diese sorgfältig ausgeführten Werke werden derzeit zwischen 1630 und 1635 datiert, während „Die Prügelei unter Musikern“ (Los Angeles) zum Frühwerk des Malers aus Lothringen zählt. Das querformatige Gemälde überrascht durch die friesartige Aufreihung der Figuren, deren derber Naturalismus bereits an Caravaggio und dessen Nachfolger erinnert. Ein vermutlich blinder Drehleierspieler hat Messer und Leierschlüssel gezückt, sein Gegner wehr sich mit einem Blasinstrument und Zitronensaft, das er direkt aus der Frucht in das Auge des Leiermannes spritzt. Drehleierspieler sind häufige Protagonisten in La Tours Werk. Vielleicht ist es auch weniger ein Bild über einen Kampf als die Enttarnung des vorgeblich blinden Musikers als Betrüger. Diese Form der doppelten Enthüllung lässt sich in Georges de La Tours Werk häufig nachweisen, vor allem den beiden Kartenbetrügern. Dass der Künstler Obdachlose, Musiker und Betrüger dennoch mit einer guten Portion Würde ausstattet, ist in seinem Jahrhundert außergewöhnlich.
„Der Falschspieler mit dem Karo-Ass“5 und „Der Falschspieler mit dem Kreuz-Ass“6 gehören neben der „Wahrsagerin“7 zu den bekanntesten Gemälden von Georges de La Tour. In ihnen folgt er einer Tradition, die bis Caravaggios „Die Kartenbetrüger“8 (um 1595) und „Die Wahrsagerin“9 (um 1594) zurückverfolgen lässt. Reich gekleidete, eitle und allzu gutgläubige, junge Herren werden von einer Gruppe Betrügern ihrer Wertsachen erleichtert. Vermutlich hat die Dienerin dem jungen Herrn zuvor in die Karten gesehen, gibt ihre Beobachtung an die sitzende Frau mit Perlenkette weiter (vielleicht durch die Art, wie sie das Glas oder die Weinflasche hält), die wiederum ihren Komplizen anhält, das Ass aus dem Gürtel zu ziehen. Die Hände der drei Verschwörer sind in einer Linie übereinander angeordnet, die Blicke lassen vermuten, dass Hinterlist im Spiel ist.
„Die Wahrsagerin“ von Georges de La Tour gehört vermutlich zu den drei, vier bekanntesten Gemälden des französischen 17. Jahrhunderts. Als es 1960 vom Metropolitan Museum in New York erworben wurde, musste Kulturminister André Malraux sogar vor dem französischen Parlament erklären, warum er die Ausfuhr des Gemäldes erlaubt hatte. Wie schon bei den beiden Versionen der Falschspieler sind es auch hier Gesten und Blicke, die vermute lassen, dass mehr hinter der sonst ruhigen Szene steckt. Während der wohlhabende und bunt gekleidete Herr, sich die Zukunft vorhersagen lässt, wird er von den jungen Begleiterinnen der Alten schamlos beraubt.
Die nächtlichen Darstellungen der nachdenklichen Maria Magdalena mit Totenschädel, Kerze, Büchern und selten einem Spiegel gehören zu den Schlüsselwerken in George de La Tours Werk. Es gibt vier Hauptversionen dieses Sujets: Die beiden im Prado gezeigten Gemälde sind eng miteinander verwandt und wurden vom Los Angeles County Museum sowie der National Gallery of Art in Washington geliehen. Erweitert wird dieses Paar durch weitere Versionen im Metropolitan Museum of Art, New York, sowie dem Louvre. Sie dürften ab 1635 entstanden sein und belegen die Wertschätzung und Verbreitung der Bilder Georges de La Tours während dessen Lebzeiten.
Georges de La Tour erweitert die Ikonografie der Heiligen. Nicht ihre Nacktheit und ihr himmelnder Blick stehen im Zentrum, sondern ihre Nachdenklichkeit, Melancholie (aufgestütztes Kinn, vgl. Albrecht Dürers Kupferstich „Die Melancholie“ (1514)), unterstützt durch Kerzenschein, Spiegel, Bücher und Totenschädel. Die Maria Magdalena umgebenden Objekte sind Symbole der Vanitas (Vergänglichkeit). Die Stimmung ist wehmütig, was die zurückhaltende Farbigkeit, der dunkle Raum und die spärlich beleuchtete Wand noch unterstützen. Lothringens religiöses Klima wurde durch zwei Gegenreformatoren geprägt: Kardinal Pierre de Bérulle und der Eremit Pierre Séguin, die – wenn auch für Georges de La Tour schwer nachzuweisen – Künstler beeinflussten. So stand etwa Séguin mit Jacques Callot in Kontakt und dürfte den Druckgrafiker dazu bewogen haben, sich religiöser Themen zu widmen.
Zu den beeindruckenden „Nachtbildern“ von Georges de La Tour gehören auch zwei Szenen aus dem Leben des hl. Joseph: „Hl. Joseph als Tischler“ (Louvre) und „Der Traum des hl. Joseph“ (Nantes). Da Josephs Vaterrolle am Konzil von Trient zum Vorbild erklärt wurde, wurde der Kult des hl. Joseph im 17. Jh. populär. In beiden Bildern zeigt der lothringische Barockmaler, wie intensiv er sich mit Dunkelheit und Kerzenschein beschäftigt hat. Die Finger von Jesus sind nahezu durchsichtig bzw. der Arm des Angels verdeckt die Flamme gänzlich. Von einer Lichtquelle geht aber immer so viel Helligkeit aus, dass Gesichter und Oberkörper beleuchtet werden. Die Farben der Gewänder werden dadurch homogen und tonig. Georges de La Tours Technik wird von Adeline Collange-Perugi beschrieben als „nahezu „impressionistisch“ mit authentischen Tropfen Farbe und einer Virtuosität, die an Diego Velázquez oder sogar Jan Vermeer erinnert“10.
Dass sich Georges de La Tour häufig außerhalb der Bildtradition bewegte, zeigt auch das Gemälde „Das Neugeborene“ (Rennes). Ohne Heiligenscheine oder andere Attribute wirkt die Szene wie eine Zusammenkunft von zwei Frauen, die eine hält eine Kerze und die andere ein Neugeborenes, ein Wickelkind. Beide betrachten die von der Kerze angeschienene, schlafende Kind. Handelt es sich um eine Geburt Christi oder um eine reine Mutter und Kind-Szene? Seit 1801 ist das Bild in Rennes als „Das Neugeborene“ betitelt. Die aktuelle Forschung tendiert jedoch dazu, die Komposition als Darstellung aus der Kindheitsgeschichte Jesu zu deuten.
Viele der Bilder von La Tour wurden in den vergangenen Jahrhunderten spanischen Malern des 17. Jahrhunderts zugeschrieben. Die am häufigsten genannten Maler sind: Diego Velázquez in seiner Sevillaner Zeit, Francisco de Zurbarán (→ Francisco de Zurbarán und Juan de Zurbarán), Bartolomé Esteban Murillo (→ Murillo und Justino de Neve), Juan Bautista Maíno, Juan Rizzi, Francisco de Herrera der Ältere. Mit Murillo wurde der Lothringer am häufigsten verwechselt, so verglich etwa Jean Vergnet-Ruiz die Objekte am Tisch des „Lesenden hl. Hieronymus“ (Louvre) mit den Stillleben des spanischen Malers. Der „Reumütige hl. Petrus“ aus Grenoble wurde für ein Werk des Ribera gehalten. Auslöser für diese Identifikationen war die Vorstellung, dass ein rauer Naturalismus und katholische Sujets charakteristisch für die Spanische Schule wären (→ Malerei und Skulptur im barocken Spanien). Vor allem im Vergleich zur Französischen Schule, die während des 19. Jahrhunderts für Klassizismus stand, hoben sich die Gemälde von Georges de La Tour deutlich ab.
Nach seinem Tod geriet Georges de La Tour und dessen Werk für nahezu 300 Jahre in Vergessenheit. Erstmals im Jahr 1915 wurde sein Werk durch den deutschen Kunsthistoriker Hermann Voss rekonstruiert, nachdem dieser La Tours Stil in drei Gemälden wiedererkannt hat. Davor waren diese Gemälde verschiedenen Künstlern aus Spanien (Velázquez, Zurbarán u. a.), Holland (u. a. Jan Vermeer) und Frankreich zugeschrieben worden: Die Nachtstücke wurden gerne der nordeuropäischen, d. h. flämischen und holländischen Schule zugeschrieben, die hellen Kompositionen hingegen der spanischen. Hermann Voss publizierte einen Artikel zu Georges de La Tour im „Archiv für Kunstgeschichte“, in dem er „Das Neugeborene“ (Rennes), den „Engel erscheint dem heiligen. Joseph im Traum“ und die „Petrus verleugnet Christus“ (beide Nantes) als Kern des Werkes erkannte.
Seither sind mehr als 100 Publikationen zu dem lothringischen Barockmaler publiziert worden. Die erste La Tour-Ausstellung fand in Paris 1935 statt und weckte das Interesse der Kunsthistoriker. Die Präsentation 1972 in der Orangerie gilt als Meilenstein in der La Tour-Forschung, war das Gesamtwerk des Künstlers doch schon auf 33 Gemälde angewachsen. Wenn auch das Œuvre des Künstlers in den letzten 100 Jahren auf etwa 70 Werke beständig erweitert werden konnte, so bleibt die Person des Künstlers und die Bedeutung seiner Gemälde doch ein Mysterium.
Am 14. März 1593 wurde Georges de La Tour als zweites von sieben Kindern eines Bäckermeisters in Vic-sur-Seille (Lothringen) getauft. Weder ist etwas über seine frühen Jahre überliefert, noch wo er seine Ausbildung erhielt. Wenn er eine traditionelle Ausbildung erhalten hat, dürfte diese zwischen 1605/6 und 1610 erfolgt sein.
Am 20. Oktober 1616 ist er in Vic dokumentiert.
1617 Hochzeit (2.7.) mit Diane Le Nerf, der Tochter eines Finanzverwalters des Herzogs von Lothringen.
1618 Tod des Vaters (November)
1619 Geburt des ersten Sohnes Philippe (August)
1620 hatte er sich in der wohlhabenden Stadt Lunéville niedergelassen, wo er von der Steuerlast befreit wurde und aufgrund seiner Hochzeit einen gehobenen Status erreichte.
1621 Geburt des zweiten Sohnes Étienne (November), der als Einziger in die Fußstapfen des Vaters trat.
1623/24 Der Herzog erwarb in diesen Jahren zwei Gemälde von La Tour.
1630 Ausbruch der Pest (bis 1637) und folgende Hungersnot.
1631 Die Stadt Lunéville wurde in den Konflikt zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich hineingezogen. Ludwig XIII. ließ sie belagern und plündern. Der Kupferstecher und Radierer Jacques Callot hielt in seiner Serie „Die Schrecken des Krieges“ (1632) die Folgen für die Zivilbevölkerung fest.
1638 Belagerung und Zerstörung von Lunéville durch französische Truppen (September/Oktober). Georges de La Tour wurde wohl gewarnt und konnte rechtzeitig die Stadt verlassen.
1639 Das Ehepaar La Tour fand in Nancy Aufnahme. In einer Taufurkunde wird er mit dem Titel peintre ordinaire du roi (Maler des Königs) von Ludwig XIII. erwähnt. Weitere Dokumente bezeugen seine Anwesenheit in Paris.
1644 Als peintre fameux bezeichnet.
1646 Bürger aus Lunéville beschwerten sich (im einzigen überlieferten Dokument zum Leben des Malers) beim Herzog über La Tour, weil er „sich beim Volk verhasst macht durch die große Zahl von Hunden, die er sich hält, als wäre er der Herr des Ortes“ und „der die Hasen ins Korn treibt, es verdirbt und zertrampelt“.
Am 30. Jänner 1652 verstarb Georges de La Tour in Lunéville in Folge einer Epidemie.
Nicht mehr als zehn Gemälde bilden den Kern von George de La Tours Werk und dürfen als seine Hauptwerke gelten:
Dimitri Salmon, Andrés Úbeda de los Cobos (Hg.)
mit Beiträgen von Guillaume Kazerouni, Dimitri Salmon, Andrés Úbeda de los Cobos
Seiten 184
ISBN 978-84-8480-340-9
Brizzolis