Germaine Richier

Wer war Germaine Richier?

Germaine Richier (Grans 16.9.1902–31.7.1959 Montpellier) war eine französische Bildhauerin des Surrealismus. Germaine Richier gelang bereits kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der internationale Durchbruch. Während ihres Exils in der Schweiz und nach Kriegsende im Umfeld des philosophischen Existentialismus entwickelte die Bildhauerin unheimliche Mischwesen, für die sie heute berühmt ist. Mit Draht und Stäben betonte sie den Raum um die Figuren und verwies symbolisch auf das Verstrickt sein mit der Umwelt und dem Schicksal.

Kindheit

Germaine Etienette Charlotte Richier wurde am 16. September 1902 in Grans bei Arles geboren und wuchs als Tochter einer Weinbauernfamilie auf. Schon in jungen Jahren äusserte Germaine Richier den Wunsch, Bildhauerin zu werden.

Ausbildung

Trotz großen Widerstands ihrer Eltern schrieb sich Germaine Richier 1921 an der École des Beaux-Arts in Montpellier bei Louis Jacques Guigues, einem ehemaligen Assistenten Auguste Rodins, ein. Im Jahr 1926 übersiedelte sie nach Paris, wo sie an der  Académie de la Grande Chaumière Privatschülerin von Antoine Bourdelle wurde (bis zu dessen Tod 1929). Dort lernte sie Alberto Giacometti kennen.

Germaine Richier fand in Antoine Bourdelle einen Lehrer, der ihren Drang nach handwerklicher Perfektion förderte. In ihn erkannte sie ihren wichtigsten Lehrmeister. Richier erhielt bei Bourdelle eine hervorragende Grundlage der Formenanalyse und Konstruktion; mittels Triangulation wurden die Proportionen, der Umriss und der Raumbezug einer Figur bestimmt.

Frühe Werke

Ihr erstes eigenes Atelier richtete Richier in der Avenue du Maine ein. Im gleichen Jahr heiratete sie den Schweizer Bildhauer Otto Charles Bänninger (1897–1973). Nach Bourdelles Tod arbeitete Germaine Richier an subtilen, realistisch beobachteten Porträts, Ganzfiguren und Torsi, wobei sie die eigene Erfindungsgabe ganz bewusst zugunsten einer Arbeit mit klassischen Vorbildern zurückdrängte. Die energisch durchmodellierte Figuralplastik der Frühzeit Richiers orientiert sich an einer von ihrem Lehrer übernommenen, neoklassizistischen Auffassung, die auf Harmonie bedacht ist.

Im Jahr 1930 kam Germaine Richier jedoch mit dem Surrealismus und mit der Gruppe „Abstraction-Création“ in Berührung, blieb aber von diesen Tendenzen anfangs unbeeinflusst. Hingegen entwickelte sich Richiers Verbundenheit mit ihrer mediterranen Herkunft zu einem fortan wichtigen Faktor. Sie griff auf Symbole zurück, die von ihrer Heimat, der Provence, inspiriert sind. Ihre erste Ausstellung richtete die „Galerie Max Kaganovitch“ in Paris 1934 aus.

Auf einer Italienreise 1935 besuchte Germaine Richier die Ausgrabungsstätten von Pompeji. Die Abgüsse der in Lava erstarrten Menschen beeindruckten die Bildhauerin sehr, fanden aber erst Jahre später Eingang in ihr Schaffen. Im Folgejahr begann Richier international auszustellen und erhielt – als erste Frau – in New York den Prix Blumenthal de Sculpture. Aus dieser Zeit datiert auch Richiers Freundschaft mit Cuno Amiet.

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte Germaine Richier einige wichtige Ausstellungsbeteiligungen als Erfolge verbuchen: Im Jahr 1937 nahm sie an der Weltausstellung in Paris teil. Auch dort erhielt sie eine Auszeichnung. Die Frau des Bildhauers Peter Moillet, Maria Vanz, stand für sie Modell. Und im Jahr 1939 wurden ihre Werke im französischen Pavillon der Weltausstellung in New York zusammen mit der Kunst von Pierre Bonnard, Georges Braque, Marc Chagall, Robert Delaunay, André Derain, Jacques Lipchitz und anderen Künstlern gezeigt.

Emigration

Während des Zweiten Weltkrieges emigrierte Germaine Richier mit ihrem Mann nach Zürich. Im Atelier am Hirschengraben bildete sie, wie auch schon in Paris, zahlreiche Bildhauerinnen und Bildhauer aus, beispielsweise Robert Müller, Hildi Hess, Margrit Gsell-Heer, Lorenz Balmer, Hugo Imfeld, Katharina Sallenbach und Arnold D’Altri. Mit dem bescheidenen Unterrichtsgeld bestritt sie ihren Lebensunterhalt. Richier übte als Lehrmeisterin einer ganzen Bildhauergeneration wesentlichen Einfluss auf die Schweizer Plastik aus, denn von 1943 bis 1945 unterrichtete sie an der Gewerbeschule in Winterthur. Dort schloss sie enge Freundschaften mit den Bildhauern Marino Marini (aus Italien) und Fritz Wotruba (aus Österreich). Nach den Gemeinschaftsausstellungen mit diesen beiden Bildhauerkollegen 1944 im Kunstmuseum Basel und 1945 in der Kunsthalle Bern beschloss Richier, neue künstlerische Wege zu gehen.

In der Schweizer Emigration erteilte Richier ihrem ganzen bisherigen Schaffen eine Absage. Sie ging inhaltlich und formal zu einem fantastischen Realismus über. Immer deutlicher gelang es ihr, die Metamorphose als Thema und Methode für ihre Arbeiten nutzbar zu machen. Betroffen durch die Kriegsereignisse in Europa, entwickelte Richier einen expressiven, von innerer Dynamik geprägten Stil.

Ab dem Jahr 1940 beschäftigte sie sich in ihren Plastiken zunehmend mit der niederen Fauna: Spinnen, Ameisen, Fledermäusen und Kröten. Nun begann Richiers bedeutendste künstlerische Phase. Sie löste sich von der neoklassizistischen Formgebung und fand ihre eigene künstlerische Aussage, indem sie u.a. Frauen-Insekten erschuf: „La Femme Sauterelle“ (1945–47, Kunstmuseum Bern).

Reife Werke

Im Jahr 1945 kehrte Germaine Richier allein zurück nach Paris; die endgültige Trennung von Bänninger erfolgte 1952 und die Scheidung 1954. In Paris suchte sie bewusst den Kontakt mit der avantgardistischen Kunstszene. Durch die Freundschaft mit Avantgardeschriftstellern erfuhr ihr Werk eine literarische Interpretation. Richier erhielt verschiedene Illustrationsaufträge. Etwas später entstanden ihre Werke im Klima der Existenzphilosophie.

Ohne dass Germaine Richier die Fühlung mit der Naturform aufgab, werden ihre Gestalten immer deutlicher zum Ausdruck einer dämonisch bedrohten Welt. Nach und nach lösen sich die geschlossenen Formen auf; die Deformation wird zum plastischen Prinzip. Richier arbeitete mit Fundgegenständen aus Holz oder anderen Materialien, die sie direkt in das Lehmmodell einarbeitete: fantastische Wesen entstanden, Symbiosen von Mensch und Tier sowie Mineral und Pflanze.

Das Unheimliche ihrer Wesen nahm zu. Die zu Beginn unruhigen Oberflächen sind nun zerklüftet, rissig und porös. Sie beginnen sich zu zersetzen, bisweilen bis zu einem membranartigen Geäst. Trotz dieser Veränderungen der Oberflächen und Volumen der Figuren entsteht niemals ein amorpher Eindruck, da Germaine Richier ihr Konstruktionsgesetz konsequent zur Anwendung bringt. Sie geht bei aller Abstraktion ihrer Plastiken von real existierenden menschlichen Körpern oder Fundgegenständen aus.

Richier erhält immer wieder Bildnisaufträge. Ihre Suche nach äußerster Ausdruckskraft entfaltet sich auch in den Porträts, die sich durch eine charakteristische Spannung der plastischen Form zwischen Konstruktion und Deformation, zwischen Gesetz und Freiheit auszeichnen. Ihre Kompositionen wurden ab 1946 zunehmend komplexer. Sie verband die Extremitäten ihrer Figuren mit dünnen Eisendrähten und mit der Standplatte, um so den die Plastiken umgebenden Raum zu vergegenwärtigen und in die Komposition einzubeziehen. Diese Fadenplastiken sollen die Aussage um eine psychische Dimension erweitern: etwa eine Verstrickung in das eigene Schicksal wie bei „L’Araignée“ (1947).

1949 übernahm Germaine Richier den Auftrag, neben Braque, Bonnard, Chagall, Lipchitz, Matisse, Rouault und anderen Künstlern für die Ausstattung der neuerbauten Kirche auf dem Plateau d’Assy bei Passy, Département Haute-Savoie, ein Kunstwerk beizusteuern. Sie schuf einen Kruzifixus, der vom Papst als „Verunglimpfung Gottes“ bezeichnet wurde.

Richier nahm an der internationalen Surrealismusausstellung von 1947 in Paris teil. In den Jahren 1948 und 1952 folgten ihre Teilnahme an der „Biennale di Venezia“. 1948 präsentierte sie bei der „Biennale in Venedig“ ihre Skulptur „L'Orage“, entwickelt nach den Körpermaßen von Nardone, einem einstigen Modell von Rodin und nunmehr einem alten Mann. Ab 1950 experimentierte Germaine Richier mit neuen Materialien und Ausdrucksformen. 1951 erhielt sie den Preis für Plastik an der Biennale in São Paulo.

Südfrankreich

Anfang der 1950er Jahre musste sich Germaine Richier einer schweren Krebsoperation unterziehen. Die Krankheit veranlasste sie 1955 zum Umzug nach Südfrankreich. Dort heiratete sie den französischen Schriftsteller und Kunstkritiker René de Solier.

Die Verschlechterung ihrer Gesundheit schlug sich direkt in Richiers Arbeitsweise nieder. Während ihrer Erkrankung begann sie, bemalte Kleinplastiken im Os-de-Seiches-Verfahren, einer alten Goldschmiedetechnik, herzustellen. Sie entdeckte die Möglichkeiten farbiger Plastik, experimentierte mit verschiedenen Patinas und gestaltet Bleiplastiken mit eingeschmolzenem farbigem Glas. In Zusammenarbeit mit befreundeten Malerinnen und Malern schuf sie auch Gemeinschaftswerke wie „La Toupie“ (1953), zusammen mit Hans Hartung. Der Hintergrund für ihre Plastiken wurde von Maria Helena Vieira da Silva geschaffen.

Nach der großen Retrospektive im Musée national d’art moderne in Paris, 1956, erlitt die Künstlerin jedoch einen schweren gesundheitlichen Rückschlag, von dem sie sich nicht mehr erholte.

Tod

Germaine Richier starb am 31. Juli 1959 im Alter von 56 Jahren in Montpellier. Sie befand sich gerade inmitten von Vorbereitungen zu einer großen Retrospektive mit 116 Skulpturen im Château Grimaldi in Antibes.

Posthume Ausstellungen

Einige von Germaine Richiers Werken wurden auf der „documenta II“ in Kassel (1959), Richiers Todesjahr, in den Abteilungen Skulptur und Grafik präsentiert; postum waren ihre Arbeiten auch auf der „documenta III“ 1964 vertreten. Danach geriet ihr Werk für einen längeren Zeitraum in Vergessenheit.

Erst in den 1990er Jahren erinnerte man sich zunehmend an die Künstlerin als eine der bedeutendsten französischen Bildhauerinnen der Moderne. Im Jahr 1997 wurde in der Akademie der Künste in Berlin eine große Germaine-Richier-Retrospektive veranstaltet, gefolgt von Retrospektiven im Kunstmuseum Bern (2013/2014) sowie dem Centre Pompidou (2023).