Wer war Henri Rousseau?
Henri Rousseau (Laval 21.5.1844–2.9.1910 Paris) war ein Maler der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne) in Frankreich; sein Werk wird sowohl dem Postimpressionismus als auch der „Naiven“ Malerei (→ Art Brut | Outsider Art) zugerechnet. Die Künstler:innen des Surrealismus bewunderten ihn als einen Pionier der antiakademischen Malweise.
Der als „Zöllner Rousseau“ bekannt gewordene Autodidakt begann Anfang der 1870er Jahre zu malen; 1885 nahm er erstmals am „Salon des Refusés“ mit zwei Gemälden teil und im folgenden Jahr am „Salon des Indépendants“. Ab den 1890er Jahren begann die sich formierende Avantgarde, darunter Paul Cézanne, Paul Gauguin, Odilon Redon, Félix Vallotton, Pierre-Auguste Renoir, Pablo Picasso, dem Dichter Guillaume Apollinaire, Marie Laurencin, Jarry, Fernand Léger, Robert Delaunay, Wassily Kandinsky und Frida Kahlo hoch geschätzt und gesammelt, auf die öffentlicher Anerkennung im Pariser Salon musste er jedoch lange warten., die Gemälde des „naiven“ Malers zu bewundern. Heute ist Henri Rousseau für seine Urwaldbilder und Traumlandschaften berühmt.
Henri Julien Félix Rousseau wurde am 21. Mai 1844 in Laval geboren. Er war der Sohn des Klempnermeisters und Eisenwarenhändlers Julien Rousseau und seiner Frau Eleonore. Früh begann er sich für Dichtung und Musik zu interessieren. Nach der Schulzeit diente er als Klarinettist in einem Infanterieregiment. Nach dem Militärdienst wurde er beim Zoll angestellt.
Henri Rousseau arbeitete in der Zollverwaltung von Paris, weshalb sich der Spitzname „Le Douanier [der Zöllner]“ einbürgerte.
Er dürfte sich ab 1872 mit dem Malen beschäftigt haben. Im Jahr 1869 heiratete er die 18-jährige Schneiderin Clémence Boitard. Mit ihr hatte er fünf Kinder. Nur seine Tochter Julia überlebte ihn. Nach dem Tod seiner Frau 1888 ging Rousseau 1893 in den vorzeitigen Ruhestand. Ab diesem Zeitpunkt widmete er sich ausschließlich der Malerei, komponierte Walzer und schrieb skurrile Theatertexte.
Die Annahme, dass Henri Rousseau nur ein naiver, sprich ungelernter Maler gewesen sei, der aufgrund seiner mangelnden Ausbildung zu seiner radikalen Bildsprache gekommen sei, wird heute zurückgewiesen. Rousseau bewunderte die akademische Malerei, vertreten durch Jean-Léon Gérôme und war mit dem Rom-Preis-Gewinner Félix-Auguste Clément bekannt. Gérômes „Dafnis und Cloé“ (1852, Tarbes, Musée Massey) und Cléments Gemälde „Die Rückkehr des jungen Tobias“ (1856, Paris, École Nationale supérieure des Beaux-Arts de Paris), „In Kairo während des Festes Bairam“ (1866, Le Mans, Musée de Tessé) sowie Adolphe-William Bouguereaus „Gleichheit vor dem Tod“ (1848, Paris, Musée d’Orsay) stehen für die anerkannte Salonmalerei. Mehrfach hatte Henri Rousseau schriftlich betont, wie sehr ihn die Schönheit dieser monumentalen Bilder faszinierte und wie viel Mühe es ihn gekostet hätte, diese Art der Malerei nicht zu kopieren, sondern seinen eigenen Weg zu gehen.
Henri Rousseau stellte erstmals 1885 am jurylosen „Salon des Refusés“ zwei Gemälde aus und erntete dafür nur einen Lacherfolg. Zu außergewöhnlich erschien seinen Zeitgenoss:innen die Naivität seiner Gemälde, auch wenn sich so manche:r an Meister der italienischen Frührenaissance erinnert fühlte. Während Georges Seurat ein Jahr später mit seinem „Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ (1886) als Anführer der neuen Bewegung des Pointillismus diskutiert wurde (→ Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus), erschienen Rousseaus introvertierte Bemühungen wie Grotesken.
Nachdem sich Rousseau 1893 frühzeitig hatte pensionieren lassen, widmete er sich ausschließlich der Malerei, komponierte Walzer und schrieb skurrile Theatertexte. Obwohl er den Dschungel nie gesehen hatte, entstanden in seinem Atelier am Montparnasse die traumhaftesten Kompositionen voller exotischer Tiere, Pflanzen und Menschen. Die Vorbilder für diese Bildideen kopierte er mit Hilfe eines Pantografen, eines technischen Gerätes für die Übertragung von Zeichnungen in verschiedenen Maßstäben. Daher wirken viele Bildgegenstände und Motive wie collagiert oder „eingeklebt“, was die Avantgarde um 1900 und 1910 besonders an seinen naiv wirkenden Kompositionen faszinierte.
Ausgangspunkt für Rousseaus Gemälde ist die Zeichnung, die er mit leuchtenden Lokalfarben „ausmalte“ und so die Bildfläche in seinen Kompositionen zusätzlich betonte. Dieser Stil wurde von den Zeitgenossen als völlig neuartig empfunden, ließ sich der ab 1885 ausstellende Künstler doch weder zu den von ihn bewunderten Salonmalern, noch zu den Impressionisten, Symbolisten oder gar Post-Impressionisten zuordnen. Klare Farbflächen, ein spannungsvolles Verhältnis von Raum und Fläche, eine gewisse Monumentalität der Figuren, große Sorgfalt in der Wiedergabe von Details – all das sind formale Eigenheiten von Henri Rousseaus Kunst, die mit keiner Kunstrichtung des späten 19. Jahrhunderts korrelierten, dafür aber die Avantgardistinnen und Avantgardisten interessierten.
„Ich-Selbst, Porträt-Landschaft“ (1889–1890) gilt als Manifest seiner Malerei. Henri Rousseau stellt sich selbst mit Pinsel und Palette frontal, fast hieratisch vor die Betrachter:innen. Rousseau betonte die Fläche, arbeitete mit leuchtenden Farben. Das Licht ist kalt, kein Schatten und auch keine atmosphärischen Werte interessierten ihn. Alle Formen wurden von ihm konturiert und die Größe der Bildgegenstände nach ihrer Bedeutung in der Komposition verteilt. Diese Art des Malens behielt der Künstler zwischen 1885 und 1910, seinem Todesjahr, unverändert bei.
Weitere Porträts seiner Künstlerfreunde – Louis Anquetin, der Schauspieler Samary, Charles Filiger, Félix Vallotton – belegen die enge, wenn auch manchmal zwiespältige Verbindung mit der jüngeren Generation an Malern. Félix Vallotton zählte zu den ersten Verteidigern von Rousseaus Kunst und meinte 1891 anlässlich des 7. „Salon des Indépendans“: „C’est l’alpha et l’oméga de la peinture“. Dass damit auch die „Geburt“ der europäischen Ölmalerei in der Renaissance gemeint sein kann, zeigt der Vergleich mit Jan van Scorels „Bildnis eines Ehrenmannes“.
Eines der berühmtesten Gemälde von Henri Rousseau ist „Der Krieg“, das er am Salon des Indépendants des Jahres 1894 präsentierte. Ob sich Rousseau damit auf den Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 bezog oder allgemein jeden Krieg meinte, sei dahingestellt. Der Kommentar des Künstlers „Schreckenerregend rast er dahin du hinterlässt allerorts Verzweiflung, Tränen und Vernichtung“ lässt an eine allegorische Deutung, eine Vision des Krieges denken. Der Krieg ist eine Frau, die mit Schwert und rauchender Fackel bewaffnet, auf einem Rappen über tote Leiber hinwegrast. Schnell ist die Assoziation mit Dürers Apokalyptischen Reitern zur Hand oder Francisco de Goyas „Desastres de la guerra“ (um 1810–1823), den „Schrecken des Kriegs“, seinen schonungslosen Bildkommentare zur blutigen Napoleonischen Besatzung Spaniens 1808. Ein Vergleich mit dem Blatt „Die Verwüstungen des Kriegs“ zeigt Rousseaus Auseinandersetzung mit der klassischen Kunst. Goyas „Desastres“ gehören zu den modernsten Interpretationen von Krieg und Schuld, sie wurden erstmals 1863 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und um 1900 in vier Auflagen herausgegeben.
Entgegen Henri Rousseaus intensiv gepflegten Mythos, am Feldzug der Franzosen gegen Kaiser Maximilian in Mexiko beteiligte gewesen zu sein, hat er Frankreich nie verlassen, sondern saß in der fraglichen Zeit wegen Diebstahls im Gefängnis. Seine Urwaldbilder, für die der „Zöllner“ heute so berühmt ist, sind nicht nach Reisen, sondern allesamt nach Besuchen des botanischen Gartens von Paris (Jardin des Plantes), Fotovorlagen und in seiner Fantasie entstanden. „Die Schlangenbeschwörerin“ (1907) entstand auf Auftrag von Berthe Comtesse de Delaunay, der Mutter seines Bewunderers Robert Delaunay, die Rousseau 1906 kennengelernt hatte.
Auch wenn sich Rousseau nie selbst an jenen exotischen Orten aufhielt, die er in seinen Gemälden mit einer verträumten Atmosphäre beschrieb, so konnte er doch im Louvre zumindest acht Gemälde des holländischen Malers Frans Post bewundern, der sich zwischen 1637 und 1644 im Gefolge von Johan Maurits von Nassau in Brasilien aufgehalten hatte. Nicht nur die über die gesamte Bildfläche zu beobachtende gleichbleibende Präzision in der Ausführung, sondern auch das geheimnisvolle Licht, die rhythmisch gesetzten Pflanzen, ihre ornamentale Wirkung und die ruhige Stimmung der gesamten Komposition machen den Zauber von Rousseaus Urwaldbildern aus. Sogar wenn ein Jaguar ein Pferd reißt, geht die Dramatik des Ereignisses im grünen Pflanzenmeer fast unter.
Wenn sich auch Künstler wie Tullio Garberi, Carlo Carrà in der Nachfolge Rousseaus dem Urwald zuwandten, so sine es doch vor allem die Surrealisten, die die spannendsten Konsequenzen aus diesen Werken zogen: Max Ernst entdeckte in den 1930er Jahren das Thema für sich und versteckte zwischen den Bäumen seinen berühmten Lop-Lop-Vogel, Freundinnen und/oder insektenartige Ungeheuer. Noch einen Schritt weiter ging der aus Rumänien stammende Maler Victor Brauner (Piatra Neamț/Rumänien 1903–1966 Paris), als er 1946 „Das Treffen in der Rue Perrel Nr. 2 bis (Die Beschörerin des Conglomeros)“ (Paris, Musée d’Art moderne de la Ville de Paris) schuf. Hierür übernahm er die Komposition der „Schlangenbeschwörerin“ von Rousseau und fügte ein seltsames, zweigeschlechtliches Wesen (Conglomeros) hinzu, das durch die geheimnisvolle Frau angelockt wurde.
Wenn sich Rousseau der französischen Landschaft widmete, dann entstanden Bilder einer kleinbürgerlichen Welt: Herden mit ihren Hirtinnen und Hirten, Parkansichten mit Spaziergänger, Angler an Flussläufen, Rugbyspielern, Hochzeitsgesellschaften. Interessant wie er bei den „Anglern“ (1908–1909, Paris, Musée de l’Orangerie, Collection J. Walter - P. Guillaume) und „Landschaft mit Kran und dem Zeppelin „Patrie““ (1907, Tokyo, Bridgestone Museum of Art, Ishibashi Foundation) sich mit den modernsten Flugkörpern beschäftigte und sie immer in Bezug zu den kleinen Menschen setzte, die jedoch nicht nach oben blicken.
Im Vergleich dazu ambitioniert wirken die „staatstragenden“ Allegorien, wie beispielsweise „Die Vertreter der ausländischen Mächte begrüßen die Republik im Zeichen des Friedens“ (Paris, Musée du Louvre, Stiftung Picasso), das am Salon des Indépendants 1907 ausgestellt war. Henri Rousseau wünschte sich, dass das Werk vom Staat erworben worden wäre. Stattdessen kaufte Pablo Picasso das Bild im Jahr 1927 und stiftete es dem Louvre.
Rousseau betätigte sich auch als Stillleben-Maler und wird in dieser Gattung in den Kontext von Odilon Redon, Giorgio Morandi, Paul Cézanne und Paula Modersohn-Becker gesetzt. Deren Suche nach einer neuen, einfachen Bildsprache führte sie zu einer ähnlichen Auswahl an Gegenständen, der Ablehnung von Stofflichkeit und der Betonung des Linear-Flächigen.
Die Bedeutung des „Naiven“ Rousseau für seine Künstlerfreunde darf nicht unterschätzt werden. So bringen sie die Avantgarde von Cézanne, Gauguin, Redon, Seurat, Morandi, Carrà, Frida Kahlo, Rivera, Kandinsky und Picasso mit Werken des „Zöllners“ zusammen. Die Arbeiten treten in Dialoge und belegen die Position Rousseaus, der nur für 25 Jahre zwischen 1885 und 1910 künstlerisch tätig war.
Auf dem berühmten Bankett, das Pablo Picasso im Dezember 1908 anlässlich seines Kaufs eines „Frauenporträts“ zu Ehren des „Zöllners“ ausrichtete, präsentierte der Gastgeber die Neuerwerbung vor seiner eigenen „La bouteille de Bass“ (1912–1914, Mailand, Museo del Novecento). Zu den Gästen zählten Apollinaire, Marie Laurencin und Max Weber, die amerikanischen Sammler Leo und Gertrude Stein, Hélène Jastrebzoff, sowie Max Jacob, Georges Braque und Maurice Utrillo. Guillaume Apollinaire widmete Rousseau ein Gedicht, während dieser mit seinem Walzer „Clemence“ antwortete.
Doch nicht nur für die französische Kunst entwickelte Rousseaus Stil Strahlkraft, sondern auch für Deutschland. Vermittelt über erste monografische Darstellungen und Ausstellungen von Wilhelm Uhde, der auch das berühmte Bankett für Rousseau bei Picasso besucht hatte, wuchs der Ruhm des „Zöllners“ im französisch- wie deutschsprachigen Bereich. Neben Paula Modersohn-Becker, die zur Ausbildung in Paris war, gehörten vor allem die Mitglieder des Blauen Reiter, allen voran Wassily Kandinsky, zu den Unterstützern des „Zöllners“. Zu seinem Beitrag im Almanach „Der Blaue Reiter“ (1912) bildet er sechs Werke von Rousseau ab, womit dieser 1910 verstorbene Franzose am häufigsten vertreten ist (Delaunay und Cézanne je drei, Matisse zwei Abbildungen, Picasso und Gauguin mit je einer Abbildung). Mit folgenden Worten strich Wassily Kandinsky die Bedeutung Rousseaus für seine Überlegungen zur „Formfrage“ heraus.
„Henri Rousseau, der als Vater dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat mit einer einfachen und überzeugenden Geste den Weg gezeigt. Henri Rousseau hat den neuen Möglichkeiten der Einfachheit den Weg eröffnet. Dieser Wert seiner vielseitigen Begabung ist uns augenblicklich der wichtigste.“ (Wassily Kandinsky)
Einige der berühmtesten Ölgemälde von Henri Rousseau sind:
Auch im Bereich des Stilllebens und des Porträts war Henri Rousseau tätig. Die Bildnisse zeigen allesamt Familienmitglieder und Freunde, womit Rousseau auch zum Dokumentaristen des Kleinbürgertums wurde.
Henri Rousseau starb am 2. September 1910 an einer Blutvergiftung im Hospital Necker. Beerdigung in Bagneux.
1913 Grabinschrift von Guillaume Apollinaire, realisiert von Constantin Brancusi und Ortiz de Zarate.
1947 Der Leichnam Rousseaus wurde nach Laval überführt.