Pierre Bonnard (geb. 1867) und Henri Matisse (geb. 1869) lernten einander 1906 anlässlich einer Ausstellung von Bonnard in der Galerie Ambroise Vollard kennen. Auch Matisse, der reflektierende Theoretiker, hatte von diesem Kunsthändler zwei Jahre zuvor seine erste Einzelausstellung erhalten. 1910 besuchte der bereits seit Jahren erfolgreich, immer aber an sich zweifelnde Bonnard den „Professor“ Matisse in dessen Atelier in Issy-les Moulineaux, wo dieser an einem großen Gemälde, „La Danse“, für den russischen Sammler Schtschukin arbeitete. 1911 wiederum kaufte Henri Matisse für 1.200 Francs ein großes Ölgemälde von Pierre Bonnard, „La Soirée au salon [Abend im Wohnzimmer]“ (1907, Privatbesitz), von dem er sich zeitlebens nicht trennte. Mit „Le fenêtre ouverte [Das offene Fenster]“ (1911, Privatbesitz) besaß auch Bonnard ein Gemälde von Matisse. Wenn auch in diesen Jahren die Bilder von Bonnard und Matisse gänzlich anderen Gestaltungskonzepten folgen, so verband sie doch die Überzeugung, dass Kunst nicht das Gesehene einfach wiedergibt, sondern ein Gefühl spiegelt, das sich beim Betrachten einstellte. Daraus folgt, dass sich ein Maler nicht der Natur, sondern dem Bild unterzuordnen hätte. Beide gehen jedoch von der Natur aus, das Sehen spielt für sie eine bedeutende Rolle. „Man muss immer ein Thema haben, so geringfügig es auch sei, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren“, war sich Pierre Bonnard 1945 sicher.
Deutschland / Frankfurt: Städel, Ausstellungshaus
13.9.2017 – 14.1.2018
Die Ausstellung Matisse – Bonnard. „Es lebe die Malerei!“ im Städel, Frankfurt, geht vom „hauseigenen“ Bonnard-Gemälde aus: „Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund“ (um 1909, Städel Museum) war vom Künstler nie verkauft worden. 1988 erworben, kann er erstmals neben Henri Matisse‘ „Großer liegender Akt“ (1935, Baltimore Museum of Art, New York) studiert werden. Vermutlich hatte Bonnard mit dieser Komposition das Gemälde seines Freundes angeregt. Die Ergebnisse könnten aber nicht unterschiedlicher ausfallen. Felix Krämer geht im Ausstellungskatalog von Prestel der spannenden Frage nach, wie zwei Künstler, deren Prinzipien offensichtlich deutlich voneinander abweichen, eine lebenslange Freundschaft entwickeln konnten. Erstmals bringt das Städel auch die Gemälde an einen Ort, die beide Maler voneinander besaßen.
„Es lebe die Malerei! Grüße“ (Matisse an Bonnard, 13.8.1925)
Diese stumme Übereinkunft über das Wesen der Kunst war wohl die Grundlage für die Freundschaft zwischen Pierre Bonnard und Henri Matisse, die sich u.a. in 62 Briefen und gegenseitigen Besuchen bis 1946 ausdrückte. Wenn sie sich in ihrer Korrespondenz meist über Wetter und Befindlichkeiten austauschten, so versicherten sie einander auch immer wieder ihre gegenseitige Wertschätzung. Wenn Matisse und Bonnard auch die Bedeutung des Kubismus in der Kunst anerkannten1, so war für beide die Empfindung wichtiger als die Abhängigkeit von der Struktur, der sich in einer Form von Intellektualismus äußerte. Matisse wandte sich in einer Gegenreaktion dem Orient, den dekorativen Linien und dem Ornament zu; Flächigkeit und intensive Farben gehören in manchen Phasen zu den wichtigsten Elementen von Matisse’ Kunst. Pierre Bonnard hingegen bezeichnete sich zeitlebens als der „letzte Impressionist“ und machte den Spiegel zu einem wichtigen Komplizen seiner Kunst. Der Spiegel öffnet wie ein Fenster die Wand und lässt Räume entstehen, spiegelt sie, verzerrt sie. Dazu kommt noch ein fast teigiger Farbauftrag, der Formen im Licht verschwimmen lässt.
„Ich hatte Ihre Karte mit der Rückantwort aus Amerika erhalten und wusste, dass Ihre Dekoration [„La Danse“ für Dr. Barnes/Pennsylvania, Anm. AM] dort unten gut aufgehoben ist, so wie Sie es wollten. Ich bin darüber entzückt, weil ich an der Entstehung Ihres Werkes teilgenommen und es verstanden und bewundert habe, als ich es im Werden sah. Ehrlich, die Malerei ist schon etwas, vorausgesetzt, dass man sich ihr vollständig hingibt. Glaube, dass wir uns in diesem Punkt einig sind. Ich hoffe sehr, dass ich nächstes Jahr an die Küste von Nizza zurückkehren und Gemälde sehen werde, die der Dekoration folgen. Meine Frau und ich schicken Ihnen die besten Grüße“ (Bonnard an Matisse)
Gegenseitige Atelierbesuche stärkten die Freundschaft und den Austausch zwischen Pierre Bonnard und Henri Matisse. Beide sahen im Wort „Dekoration“ keine Abwertung ihrer Gemälde, sondern Ziel ihrer Kunst. Desgleichen sollten diese Bilder von der Natur inspiriert, aber nicht von ihr einfach abgemalt werden. Im Ringen um farbenprächtige Bilder, ausgewogene Kompositionen, intime Stimmungen setzten sie sich mit ihrer direkten Umgebung und immer wieder dem weiblichen Akt auseinander. In der Tradition der Odaliske, die in Frankreich seit den 1830er Jahren intensiv gepflegt und über Renoir weitergegeben wurde, fanden beide jenen Motivschatz, der sie ein Leben lang begleitete. Das südliche Licht, das Matisse kurz nach 1900 in der Nachfolge von Paul Signac entdeckt hatte, verlieh auch dem um zwei Jahre älteren Bonnard ab den 1920ern intensive Töne.
Auch die Wahl ihrer Vorbilder verband Matisse mit Bonnard, wie Felix Krämer hervorhebt: „Sie bewunderten Jean Siméon Chardin für seine geheimnisvollen Stillleben, pflegten Kontakt zu Claude Monet und Auguste Renoir, von dem beide Gemälde besaßen, und verehrten Paul Cézanne für seinen unkonventionellen Umgang mit der Farbe.“2
Die künstlerische Verbindung der beiden lässt sich, so Kurator Felix Krämer, auf deren intensive Auseinandersetzung mit ähnlichen Motiven und Themen nachvollziehen: Interieurs, Darstellungen von (meist nackten) Frauen bei Matisse als orientalisch ausstaffierte Odaliske und bei Bonnard als verzerrter Akt, Blumenstillleben bzw. Stillleben allgemein sowie Landschaften bei Bonnard oder Landschaftsausblicke bei Matisse.
„Mein lieber Freund, mit Vergnügen schreibe ich Ihnen, dass mein erster Gedanke heute Morgen Ihnen galt. Ich habe Ihre Arbeit genau in Erinnerung behalten. Nie zuvor habe ich sie als so geschlossen empfunden, und die Dekoration mit der Fläche aus Rosensträuchern sehe ich noch ganz deutlich vor mir, sie gefällt mir sehr.“ (Matisse an Bonnard)
Mit dieser Erinnerung bezog sich Henri Matisse auf das Gemälde „Die sonnige Terrasse“ (1946). Das aufgrund seines extremen Querformats ungewöhnliche Werk zeigt im Bildzentrum in leuchtender, fast pinker Farbigkeit. Hier – wie auch den weiblichen Akten – ging Pierre Bonnard mit einer gänzlich anderen Vorgehensweise an das Bild als Henri Matisse: Letzterer ist berühmt für seine Odalisken in exotischen Arrangements (→ Henri Matisse. Figur & Ornament), die er penibel herrichtete und in die er seine Modelle gezielt platzierte. Bonnard hingegen pflegte aus der Erinnerung zu arbeiten, deren Eindrücke ihn zu träumerischen Kompositionen anregten. Meist arbeitete Bonnard mit seiner Frau Marthe als altersloses Ideal – eine anderes weibliche Wesen hätte die überaus eifersüchtige Dame auch kaum in die Nähe ihres Mannes gelassen. In fast 400 Gemälden tritt Marthe über einen Zeitraum von nahezu 50 Jahren immer wieder auf, sogar nach ihrem Tod malte sie ihr Mann aus der Erinnerung.3 Marthe war das Zentrum von Bonnards Leben und ist es in seinem Werk. Spiegelungen weiten den Raum und zeigen das unsichtbare Gegenüber. Ungewohnte, auch voyeuristische Blickpunkte auf in sich versunkene Menschen führen zu außergewöhnlichen, häufig verzerrten Perspektiven, in denen etwas Unheimliches, Enge, Beobachtung mittransportiert wird.
Der Unterschied zwischen beiden Künstlern lässt sich bis in die Zeichnung nachspüren, wie Krämer treffend herausarbeitet. Bonnards Skizzen dienten ihm als Gedankenstützen, wenn er seine „Traumbilder“ in Öl formulierte. Sie zeigen einen suchenden Strich, ein tastendes sich Annähern. Im Gegenzug beeindrucken Henri Matisse‘ Grafiken durch dessen sichere Linienführung, ihr knappe Formulierung.
Das in der Ausstellung präsentierte Künstlerbuch „Jazz“ (1943/44) führt diese Liniensicherheit in gouaches découpées [Scherenschnitte] aus bemalten Papierbögen weiter. Vom Pariser Verleger Tériade in Auftrag gegeben, entwickelte Matisse dafür seine schon seit den 1930er Jahren eingesetzte Technik der Formfindung weiter. Bereits für „Großer liegender Akt“ (1935) hatte er ausgeschnittene Papiere verwendet; bis zu seinem Tod 1954 nutzte Matisse diese Technik neben der Malerei. Mit dem Künstlerbuch, das auf 146 Seiten insgesamt 20 Farbtafeln mit dazwischenliegenden, handgeschriebenen Seiten quasi als beruhigender Basso continuo vereint, ging Matisse im Nachdenken über Rhythmus, Farbe, Komposition noch einen Schritt weiter als in seiner Malerei. Der „Professor“ mit der goldenen Brille reflektiert sein assoziatives Tun und zog damit einmal mehr eine theoretische Ebene in seine Kunst ein. Pierre Bonnard hat sich nie so explizit über sein Kunstverständnis geäußert. Seiner Ansicht nach sollten die Bilder für sich sprechen. Eine Haltung, die ihn als theoriefeindlich und damit der Avantgarde suspekt erscheinen ließ.
Henri Matisse entschied sich bereits 1917 nach Südfrankreich zu übersiedeln und lebte ab 1921 in Nizza in einer repräsentativen Wohnung mit Blick über die Promenade aufs Meer. Pierre Bonnard folgte seinem Künstlerfreund erst 1926, als er das auf einem Hügel in Le Cannet gelegene Haus Le Bosquet mit Blick aufs Mittelmeer und geliebten Garten erwarb. Dort zog er mit seiner 1925 angetrauten Ehefrau Marthe ein. Beide Künstler besaßen Autos und besuchten einander regelmäßig.
„Da ich sowieso zu drei Viertel Vegetarier bin, komme ich nicht vor Hunger um, und ich glaube sogar, dass es einem deshalb nicht schlechter geht. Was die Übersiedlung in ein Palasthotel betrifft, um dort ein wenig materiellen Wohlstand zu finden, so würde ich dabei alles verlieren, was die Basis meiner Arbeit ausmacht. Übrigens übersteigt dieses etwas raue Leben meine Kräfte nicht. Geldprobleme habe ich keine. […] Ich habe heute den ersten Mandelbaum in Blüte gesehen, und die Mimosen beginnen, ihre gelben Flecken auszubreiten.“ (Pierre Bonnard an Henri Matisse)
Während des Zweiten Weltkriegs lebte Pierre Bonnard in Cannes. Die örtliche Nähe zwischen Nizza, , wo Matisse seine letzten Jahre im Rollstuhl verbrachte, und Cannes sowie die lebenslange gegenseitige Bewunderung führte zu einem fruchtbaren Gedankenaustausch unter Künstlern, der sich in Form eines Briefwechsels nachvollziehen lässt. Zunehmend geht es in ihrer Korrespondenz um menschliche Anteilnahme.
„Wenn ich an Sie denke, so denke ich an einen von aller überkommenen ästhetischen Konvention befreiten Geist; dies allein gestattet eine direkte Sicht auf die Natur, das größte Glück, das einem Maler widerfahren kann. Dank Ihnen habe ich ein wenig daran teil.“4 (Bonnard an Matisse, Januar 1940)
Um Pierre Bonnard und sein Werk blieb es jedoch stiller als um den seit der Zwischenkriegszeit erfolgreichen Kollegen. Erst nach seinem Tod 1947 erhielt Bonnard große Retrospektiven, wurde seine Kunst international gesammelt. Zum Maler eines friedlichen bürgerlichen Milieus gestempelt, zu einem „Nachimpressionist“, dessen Bilder mit blühenden Gartenlandschaften und spielenden Kindern, Fensterausblicken und sinnlichen Akten in der Nachfolge Renoirs zu betören versuchen, hatte der Maler wenig Freunde unter den Kritikern gefunden. Im Gegensatz dazu zählte Henri Matisse zu den Malerstars des 20. Jahrhunderts. Ein Erbrechtsstreit (von Galerien befeuert) tat ein Übriges, das Werk des Künstlers erst jetzt breit der Öffentlichkeit vorzustellen. Bonnard und Matisse als Kollegen, Freunde und einander bei allen Unterschieden ähnlich denkende Maler vorzustellen, hebt nicht nur die Reputation Bonnards, sondern lässt sein Werk als Beitrag zur Klassischen Moderne erscheinen. Farbe und Raum (Perspektive und deren Fehlen), Ornament und Dekor, Komposition (Flächenteilung) und Zeichnung gehören dabei zu den wichtigsten Elementen seiner Bildwelt.
„Wie sehr ich von ihrem Anfangsbeitrag über P. Bonnard enttäuscht bin. [...] Ja, ich bin davon überzeugt, dass P.B. ein großer Maler ist, trotz dem, was ihm die heutige Avant-Garde vorwerfen mag. Ich schätze Bonnard so ein, nachdem ich ihn über 50 Jahre auf seinem Weg beobachtet habe. [...] Wenn ich jemals an Bonnard gezweifelt habe, dann hat mich der Anblick eines seiner Werke an die Wahrheit erinnert, selbst in einer Schwarz-Weiß-Abbildung. Bonnard ist wesentlich tiefsinniger, als es den Anschein hat. Ich bin sicher, dass sein Werk überdauern wird.“5 (Henri Matisse in einem Leserbrief an Christian Zervos, 9.1.1948)
Das kritische Urteil, gegen das Henri Matisse hier so wortmächtig und wütend opponierte, stammt aus der Zeitschrift „Cahiers d’art“. In einem Artikel hatte der Autor und Picasso-Freund die Bedeutung von Pierre Bonnard in Zweifel gezogen und dessen Bilder als unausgewogen empfand. Zudem bemängelte er das angebliche Fehlen von Treffsicherheit, Klarheit, Konsistenz, Präzision, für die er hingegen Matisse‘ Werk bewunderte.
„Er duldete nicht im geringsten, dass die Philosophie (oder irgendetwas anderes) sich zwischen ihn und seine Malerei stellte, angesichts dieser Freude, auf die sich auch Matisse berief.“6 (Jacques Villon)
Kuratiert von Felix Krämer, Daniel Zamani.
Felix Krämer (Hg.)
Gebundenes Buch, Pappband
240 Seiten, 23,0 x 28,0 cm
174 farbige Abbildungen, 66 s/w Abbildungen
ISBN 978-3-7913-5631-0 (Deutsch)
ISBN 978-3-7913-5632-7 (Englisch)
Prestel