Henri Matisse (1869– 1954) liebte es zu sammeln. Seine Objekte im Atelier um sich zu wissen, war ihm nicht nur ein ästhetisches und intellektuelles Vergnügen, sondern beeinflusste seine Art der Gestaltung in einer bislang unterschätzten Weise. Seine Vasen, Skulpturen, Stoffe waren ihm wichtig, auch wenn es sich nicht um besonders seltene oder besonders gut erhaltene Werke handelte. Zu den wichtigsten Stücken seines Haushalts dürfte eine kleine, silberne Schokoladekanne zählen, die ihm sein Malerfreund Albert Marquet 1898 zur Hochzeit geschenkt hatte. Diese Objekte versorgten Matisse mit ungewöhnlichen Ausdrucksmöglichkeiten, und er zog sie zur Befragung eigener kultureller Traditionen heran. Ob es afrikanische Masken und Skulpturen waren oder chinesisches Porzellan und Textilien aus der islamischen Welt – Henri Matisse arrangierte sie über Jahrzehnte hinweg in unzähligen Stillleben.
USA | Boston: Museum of Fine Arts Boston
9.4.2017– 9.7.2017
Großbritannien | London: Royal Academy of Arts
5.8. – 12.11.2017
Während seines ganzen Lebens war Henri Matisse ein leidenschaftlicher Lernender und Sammler außereuropäischer Kunst und Design. Er begeisterte sich vor allem für islamische, afrikanische und asiatische – hier allen voran chinesische – Kunstwerke. In seiner Auswahl bewegte sich Matisse im Rahmen bekannter Kunstregionen, die auch seine Sammler1 und befreundete Künstler interessierten. Als Matisse zu sammeln begann, standen afrikanische Skulpturen im Zentrum seines Interesses (→ Afrikanische Kunst). Der Import dieser Stücke hing ursächlich mit dem Errichten französischer Kolonien in Afrika südlich der Sahara zusammen. Um 1910 erweiterte der Maler seinen Horizont um islamische Textilien und 1920 chinesische Kunst.
Im Herbst 1906 erwarb Henri Matisse seine erste afrikanische Skulptur im Geschäft „Au Vieux Rouet“ von Émile Heymann (Spitzname „Père Sauvage [Wilder Vater]“, Rue de Rennes): eine Kraftfigur [Nkisi Nkondi] der Vili aus dem Kongo. Danach, so erinnerte er sich später, wäre er damit zu Gertrude Stein gegangen, um sie ihr zu zeigen. Pablo Picasso wäre auch dazugestoßen und hätte so die afrikanische Skulptur entdeckt (→ Picasso war ein Afrikaner!). Um 1908 soll, dem deutschen Kunsthändler Daniel-Henri Kahnweiler zufolge, die Afrika-Sammlung von Matisse bereits 20 Stücke umfasst haben. Über die afrikanische Kunst beschäftigte sich Matisse mit Qualitäten wie Derbheit, Vereinfachung und Anti-Idealisierung, was er vor allem für seine revolutionären Frauenakte der Jahre ab 1906/07 – sowohl in der Malerei wie auch der Plastik – einsetzte. In dieser Phase, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte, nutzte Matisse die Objekte als Inspirationsquellen ohne sie direkt in den Werken zu zeigen. So besaß er zwei Pende Initiationsmasken (Kongo), deren Konzeption ihn ermutigte, in seinen Porträts nicht Ähnlichkeit anzustreben, sondern einen „wahrhaftigeren, essentiellen Charakter“ und eine „dauerhaftere Interpretation“. Gleichzeitig erweiterte er sein Interessensgebiet auf kongolesische Textilien, die er im „Cahiers d’Art“ (1927) publizierte und in die Ausstellung „African Negro Art“ (1935) im Museum of Modern Art in New York entlieh.
Stillleben hatten immer schon einen wichtigen Stellenwert in Matisse’s Kunst, ab 1906 wurde es zum wichtigsten Thema der dekorativen Versuche des Malers. Hiermit erforschte er die Konzeption von Raum, fast eine Negation desselben, womit er seine Kunst deutlich von den Bildern der Kubisten unterschieden wissen wollte. Um 1908/09 nutzte er dazu ein Stück Stoff, auf dem er die Objekte drapierte und das nahezu die gesamte Bildfläche ausfüllt. Die bereits erwähnte Schokoladekanne gibt dem „Stillleben mit blauem Tischtuch“2 (1909) erst Tiefe, die gleichzeitig über das gemusterte Tuch ausgeblendet wird. Während der 1910er Jahre reduzierte Matisse die Details, sodass große, monochrome Flächen die Stillleben dominieren. Erst 1921 mit dem Einzug in das Atelier auf der Place Charles-Félix in Nizza im August 1921 konnte Henri Matisse sein Atelier wie einen „Harem“ einrichten. Mit Hilfe seiner Stoff-Sammlung, Möbeln und Kunstgewerbe ließ er einen dekorativen, reich gemusterten Innenraum entstehen, in dem er Frauen wie Odalisken positionierte und malte (→ Henri Matisse. Figur & Ornament). Auffallend an diesen Gemälden der 1920er Jahre ist, wie sehr die Räume Aufmerksamkeit für sich beanspruchen und damit von den Damen gleichsam „ablenken“. Im Kontrast zu orientalischen Stil-Räumen des 19. Jahrhunderts wollte sich Matisse damit an seine Erlebnisse in Spanien und Nordafrika erinnern, seine Gefühle „hervorkitzeln“, und zweifellos keine scheinbar authentischen Gemächer konstruieren.
1920 kaufte Henri Matisse das erste chinesische Kunstgewerbe. Chinesische Kunst war für Henri Matisse, wie er nicht müde wurde zu betonen, ein „Vorläufer“ für die Annäherung der Moderne an die Abstraktion. Er löste bei seinen Betrachtungen die Objekte aus ihren jeweiligen Entstehungskontexten und konzentrierte sich auf ihre formalen Lösungen.
Wenn Henri Matisse seine Objekte immer wieder zu verschiedenen Bildern arrangierte, dann hatten sie für ihn fast menschliche Qualitäten. Nicht ohne Grund verglich er sie mit guten Schauspielern, deren Wandelbarkeit ihn offenbar faszinierte und inspirierte. 1924/25 beispielsweise malte er zwei Stillleben als Pendants: „Blumenvase“ und „Safrano Rosen am Fenster“. Für beide Werke nutzte er eine Andalusische Vase aus grünem Glas, deren geschwungene Henkel an Arme erinnern. Der Künstler hatte sie in Granada während eines Aufenthalts im Winter 1910/11 erworben. Kurz zuvor hatte er sich mit der Ausstellung „Meisterwerke Muhammedanischer Kunst“ in München beschäftigt (Oktober). Form und Farben schildert der französische Maler in beiden Bildern höchst getreu, unterschiedlich sind jedoch die jeweiligen Zugänge, die Veränderungen der „Materialität“ durch das Licht. Matisse erklärte das Journalisten gerne mit dem Hinweis, dass er nicht die Dinge selbst malen (abmalen) würde, sondern die Gefühle, die sie in ihm erzeugten. Da alle Objekte eines Stilllebens einander beeinflussen, verändern sie sich von einer Komposition zur nächsten. Häufig nannte Matisse das eine „Sinfonie“ zwischen aufeinander bezogenen, miteinander kommunizierenden Objekten. Daraus resultiert auch Matisse’s Aussage, dass ein Objekt für sich selbst genommen uninteressant wäre. Erst die Umgebung, die es schafft, so der Künstler, zöge sein Interesse an.
Um 1917, als Henri Matisse nach Nizza übersiedelte, spürte er eine gewisse Frustration über seine Arbeitsmethode, die er als zu plastisch und theorielastig beschrieb. Ihm fehlten zunehmend der Sensualismus und die Lebendigkeit des Pinselstrichs, das Spiel der Farben auf Basis seiner Eindrücke und Beobachtungen. In Nizza wandte er sich daher den Sujets Fensterbild und Interieur zu. Im Hôtel Beau Rivage und später im Hôtel de la Méditerranée richtete er sich ein, dimmte das Licht mit dem marokkanischen Wandschirm und arrangierte Objekte und Textilien. Als er sich 1921 entschloss, permanent in Nizza niederzulassen, mietete er ein Appartement am Place Charles-Félix 1. Genauso wie ab 1938 das Hôtel Régina richtete sich Matisse mit seiner Sammlung so ein, als ob er sich immer im gleichen Atelier aufgehalten hätte. Außerdem war er dafür bekannt, die Objekte seiner Sammlung in den beiden Glasvitrinen immer wieder einmal umzuschlichten, um neue Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Mehrere Fotografien aus dem Atelier zeigen, die Sammlung und ihre Präsentation. Matisse in seinem späten Atelier voller Objekte, Pflanzen, gemusterten Stoffen gab seinen Besuchern das Gefühl, eines seiner Bilder zu betreten.
„Hier und da findet Matisse’s Werk eine Spiegelung in Marmor, vergoldetem Holz, Fayence, orientalischen Kleidern – ein ganzes Kuriositätenkabinett für gewissermaßen tägliche Magie: ein Apparat eines fantastischen Labors von visueller Alchemie.“3 (Georges Salles, 1952)
In den 1940ern dokumentierte Henri Matisse gemeinsam mit seiner Assistentin Lydia Delectorskaya und deren Cousine Hélène Adant seine Sammlung. Sie fotografierten die Artefakte paarweise oder zu Gruppen zusammengestellt. Häufig erinnern diese Bilder an Matisse’s eigene Kompositionen. Viele von Adants Fotografien wurden vom surrealistischen Dichter Louis Aragon für dessen Publikation „Henri Matisse: A Novel“ (1971) als Illustrationen verwendet. Eine Aufnahme trägt auf ihrer Rückseite das Bekenntnis:
„Objekte, die für mich fast mein ganzes Leben lang nützlich waren.“ (Henri Matisse)
„Ich habe mein gesamtes Leben vor den gleichen Objekten gearbeitet. […] Das Objekt ist ein Schauspieler. Ein guter Schauspieler kann eine Rolle in zehn verschiedenen Aufführungen spielen; ein Objekt kann eine Rolle in zehn verschiedenen Bildern haben.“4 (Henri Matisse, 1951)
Ausstellung und Buch, beides organisiert von Ellen McBreen und Helen Burnham, zielt darauf ab, die Bedeutung dieser Objekte für die künstlerische Entwicklung Matisse’s herauszuarbeiten. In den Gegenüberstellungen sieht man nicht nur den „Einfluss“ der Objekte auf den Maler oder auch die „Entdeckung primitiver Kulturen“, wie es für Künstler des frühen 20. Jahrhunderts besonders wichtig war, sondern stellt auch die Frage von Aneignung dieser Kulturgüter. Inwieweit Henri Matisse die Objekte und deren ursprüngliche Bedeutung auch missverstand, ist Thema einer anhaltenden Debatte. Sicher stellte er sich Fragen zu Farbe, Komposition, Abstraktion, gleichzeitig beschäftigten ihn aber auch – eher unbewusst – Komplexe wie Rasse, Geschlecht und kulturelle Differenz.
Mit Hilfe außereuropäischer Kulturgüter erforschte Henri Matisse die Grundlagen westlicher Bildproduktion und ließ sich von ihnen zu stilistischen und konzeptuellen Innovation inspirieren. Bereits zeitgenössische Kritiker erkannten, wie sehr er sich in der Folge von der „westlichen“ Kunstproduktion entfernte und stellten seine Zugehörigkeit zu „französischen“ Kunst in Frage. Interessanterweise ist es aber gerade dieser Bruch mit der Tradition, der Matisse zu jenem bedeutenden Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden ließ. „Was machen wir in Marokko?“, schrieb er seinem Freund Charles Camoin 1915. „Wir lehren sie, mit Kanonenfeuer zu leben! Und tragischerweise für ihre Künstler, zerstören wir ihre schönen Wände, antiken Türen und geben schönes Wellblech über die großen Marktplätze.“ Wenn Matisse seine Augen nicht vor den Auswirkungen des Kolonialismus verschloss, so blieb er in der Rezeption der von ihm gesammelten Objekte doch den Vorstellungen seiner Zeit verhaftet: Für ihn waren afrikanische Skulpturen Produkte einer „natürlicheren“ Zivilisation oder chinesische Landschaften zeitlose „Lösungen“ für aktuelle Fragen der Formgebung. Er interessierte sich durchaus für die Herkunft der von ihm gesammelten Stücke, doch waren sie nicht Werke von Künstlerpersönlichkeiten, sondern Ausdruck eines „Volkes“.
Der Katalog vereint sechs Beiträge zu Matisse’s Sammeltätigkeit und der Art, wie er von diesen Objekten lernte bzw. sie als „Zeichen“ in seine Kompositionen einsetzte. Claudine Grammont analysiert die Bildgeschichte der Schokoladekanne und zeigt über Jahrzehnte hinweg, wie das Objekt in den Stillleben der bildimmanenten Kunsttheorie angepasst wurde. Helen Burnham beschäftigt sich mit der Beobachtung, dass sich Matisse zwischen 1906 und 1914 mit afrikanischer Kunst auseinandersetzte, sie sammelte und als Inspirationsquelle für formale Lösungen aber auch Geschlechterdiskurs nutzte. Suzanne Preston Blier stellt die Frage nach afrikanischen Masken und der Porträtmalerei Matisse’s. Ellen McBreen beschreibt in ihrem zweiten Beitrag „Atelier als Bühne“ den in einen „Harem“ verwandelten Arbeitsplatz des Künstlers ab 1921. Die stilistische Veränderung von Matisse’s Werk während der 1930er Jahre analysiert Jack Flam. Er sieht in der neuartigen Verbindung von Fläche, Zeichnung, Farbe und Raum eine grundlegende Fragestellung, die Matisse als „ewigen Gegensatz zwischen Farbe und Zeichnung“ bezeichnete und sich damit als „Vollender“ einer französischen Diskussion offenbarte. Dass er um 1940 bereits an cut-outs [Scherenschnitten] arbeitete, macht diese Überlegung noch einmal spannender.
Ellen McBreen, Helen Burnham (Hg.)
mit Beiträgen von Suzanne Preston Blier, Ann Dumas, Jack Flam, Claudine Grammont, Hélène Ivanoff, und Marie-Thérèse Pulvenis de Seligny