Edgar Degas' Kunst-Pantheon bestand hauptsächlich aus Alten Meistern: Mantegna und Veronese, Rembrandt und Daumier, Ingres und Delacroix gehörten zu seinen persönlichen Heroen. Alexander Eiling, Kurator für Malerei und Skulptur der Moderne in der Kunsthalle Karlsruhe, legt daher in der aufschlussreichen Publikation den Schwerpunkt auf den kopierenden und experimentierenden Künstler, dessen multimediales Gesamtwerk über 1.500 Gemälde und Pastelle, mehrere Tausend Zeichnungen und Graphiken sowie Hunderte von plastischen Arbeiten umfasst. Für seine Ausstellung in Karlsruhe konnte er die hauseigene Sammlung um einige kapitale Werke von Edgar Degas ergänzen. Doch machen nicht die erfolgreichen Bemühungen um Leihgaben diese Schau wertvoll, sondern kleine, oftmals unscheinbar wirkende Zeichnungen und düstere Monotypien. In den Zeichnungen zeigt sich die Auseinandersetzung des Künstlers mit der in Frankreich hoch gehaltenen Tradition (Ingres, Delacroix), der Antike (Parthenon Skulpturen: Parthenon-Fries) und der italienischen Renaissance (Kopien nach Uccello, Gozzoli, Mantegna, Botticelli, Michelangelo). Wieviel Degas diesem akkuraten Studium verdankt, darauf macht Eiling in diesem Katalog vorbildhaft aufmerksam.
Deutschland / Karlsruhe: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
8.11.2014 – 1.2.2015
Da Edgar Degas nichts weniger schätzte als eine spontane Bildfindung, eignete er sich eine komplizierte Praxis an, für die er traditionelle künstlerische Mittel und Methoden neu interpretierte und daraus für sich ungeahnte Schlüsse zog. Eiling bezeichnet Degas daher treffend als „gegenwartsbewussten Traditionalisten und als kunsthistorisch versierten Erneuerer“ (S. 12). Degas wurde – so der Autor in Anschluss an jüngste Studien1 – fälschlich als Impressionist etikettiert, da sein Werk frei von jeglicher Spontaneitat sei und aus dem mühsamen Wiederholen der immer gleichen Motive bestehe. Der Eindruck einer scheinbaren Momenthaftigkeit wäre das Ergebnis einer strengen kompositorischen Berechnung und Teil seiner planvollen und hochgradig konstruierten Art des Bildermachens. Das wiederum verband Degas mit Edouard Manet (1832–1883), mit dem der Misanthrop Degas auch eine komplexe Freundschaft pflegte. Darüber hinaus waren Fotografien, wie die Chronofotografien von Eadweard Muybridge (1830–1904 → Degas & Rodin), oder der japanische Farbholzschnitt von größter Bedeutung für die extravaganten Kompositionslösungen.2
„Ah! Giotto! Lass mich Paris sehen, und Du, Paris, lass mich Giotto sehen.“
So schrieb Degas in sein Skizzenbuch 1868. Die umfangreiche Kopiertätigkeit von Degas orientierte sich durchaus an der gängigen Praxis einer Künstleraus- und Künstlerweiterbildung in Paris während des 19. Jahrhunderts. Wenn er auch aufgrund der finanziellen Lage seiner Familie nicht darauf angewiesen war, den Rom-Preis der Akademie zu gewinnen, so verbrachte Degas doch Jahre damit sich in Italien fortzubilden. Er schuf Skizzen, Druckgraphiken, Zeichnungen bis hin zur großformatigen Leinwand nach Gozzoli, Mantegna, Uccello, Raffael, Leonardo da Vinci, Bronzino, Poussin und Ingres, aber auch Botticelli, Tizian (→ Der späte Tizian), Rembrandt van Rijn, Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck und vor allem Théodore Géricault, Delacroix und Meissonier. Wenn man Degas‘ Frühwerk auf den ersten Blick doch stark in die Tradition des Klassizismus nach David, und bis 1867 vertreten durch Ingres, stellen darf, so wandelte er sich nach 1870 zu einem Koloristen in der Nachfolge Delacroix‘ (→ Delacroix und die Malerei der Moderne).
Degas fand Inspirationen für die Haltungen der Frauen in seinen späten Badenden-Pastellen in Michelangelos Fresko des „Jüngsten Gerichts“. Zwei wenig spektakuläre, gesichtslose Figuren interessierten ihn wohl aufgrund ihrer besonders ausgeprägten Verkürzung und ihrer Abwendung vom Betrachter. Wenn man diese beiden Gestalten spiegelt, stimmen sie ungefähr mit den Badenden überein. „Modernität“, und das ist die wichtige Erkenntnis von Eiling, „entsteht im Œuvre von Degas gerade nicht aus der Überwindung oder einer wetteifernden aemulatio des Vorbildes, sondern durch eine Form des epochenübergreifenden Dialogs, der den Kopiervorgang als aufmerksames Lesen und Verstehen der auf Augenhohe wahrgenommenen Alten Meister, als Nachspüren und Einfühlen in die Grundstruktur ihrer Werke auffasst“ (S. 18).
Ab Mitte der 1860er Jahre wandte sich Degas zunehmend von der Historienmalerei ab und dem Gruppenporträt, dem Einzelporträt, den Pferderennen, Ballettszenen und Darstellungen von einfachen Frauen in ihren Berufen zu (→ Edgar Degas: Werke & Biografie). Einerseits konnte sich Degas für die affektkontrollierte, kühle Eleganz der Porträtkunst seit der Renaissance und bei Ingres begeistern, andererseits geht es in seinen Bildnissen doch mehr um die psychologische Durchdringung der von ihm Dargestellten. Die Spannungen hinter den kontrollierten Fassaden sind in Bildern wie dem „Gruppenportrat der Familie Bellelli“ (1858–1867) fast körperlich zu spüren. Zwar stehen van Dycks dynastische Herrscherporträts hinter dieser Schöpfung, doch interessierte sich Degas nicht nur für die repräsentativen Qualitäten einer barocken Inszenierung, sondern auch die emotionalen Möglichkeiten einer räumlichen Ordnung der Familie. Dezentrale Kompositionen, Kleidung und sprechende Interieurs dienen nur dazu Milieu, soziale Stellung und Charaktere zu versinnbildlichen. So auch im eigenartig geschäftig-entspannten „Baumwollkontor in New Orleans. Porträts in einem Büro“ (1873).
Da er eine matte, freskenartige Beschaffenheit seiner Werke angestrebte, beschäftigte sich Degas ab den 1870er Jahren zunehmend mit dem Pastell. Dieses verbindet hohe Beständigkeit mit einem geringen Leuchtkraftverlust. Außerdem ermöglichte das Pastell – wie auch die Druckgrafik im Allgemeinen und die Monotypie im Speziellen – eine große Bandbreite an materialtechnischen Experimenten. Diese korrelieren mit Versuchen, althergebrachte Themen wie die Landschaftsmalerei zu subjektivieren. Als „Zeichnungen, hergestellt mit Fetttusche und gedruckt“, beschrieb Degas selbst die Technik der Monotypie. Mit ihr stellte er bevorzugt Szenen aus der Halbwelt, des Café-Concert oder des Bordells dar.
Die „bildgeschichtliche Betrachtung“ in der Kunsthalle Karlsruhe präsentiert 120 Degas-Werke aus nationalen und internationalen Sammlungen, ergänzt durch Bilder von älteren Künstlern und Zeitgenossen wie Rembrandt, Ingres, Théodore Géricault, Chasseriau, Daumier, Edouard Manet, Paul Gauguin[/note]Siehe auch → Paul Gauguin. Gemälde aus der Südsee[/note] und Paul Cézanne. Die Ausstellung versteht sich als Offspring zu den Forschungen Eilings zu Original und Kopie im Kontext der Ausstellung „Deja-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis Youtube“: Kopieren und Paraphrasieren in der Kunst (2013).3
Die Sammlung des Kunsthalle Karlsruhe umfasst sieben Werke von Edgar Degas. Noch in den Jahren zwischen 1961 und 1981 konnten diese Arbeiten in relativ schneller Folge erworben werden:
Gemeinsam geben sie in der Kunsthalle Karlsruhe einen beachtlichen Überblick über Degas‘ Schaffen, von der Frühzeit bis zum Spätwerk, das bereits von seiner Erblindung geprägt war. Die Blätter und das Gemälde zeigen seine frühe Hinwendung zum Porträt aber auch seinen Versuch, das Genrebild zu modernisieren, indem er sich „modernen Themen“ wie den Tänzerinnen und Sängerinnen zuwandte.
Für die Ausstellung konnte Eiling die Sammlung um kapitale Werke ergänzen:
von Alexander Eiling (Hg.)
mit Beiträgen von S. Allard, A. Göthe, B. Kaufmann, S. M. Krämer, P. Müller-Tamm, A. Reuter, D. Schäfer, M. Stevens, M. Stuffmann
300 Seiten, 339 Abbildungen in Farbe
24 × 30 cm, gebunden, Schutzumschlag
ISBN 978-3-7774-2287-9
HIRMER
Pia Müller-Tamm, Degas in Karlsruhe, S. 11–14.
Alexander Eiling, Klassik und Experiment im Werk von Edgar Degas, S. 16–29.
Margret Stuffmann, Kopieren und erfahren. Kennen und sammeln, S. 30–41.
MaryAnne Stevens, Degas – Manet. Eine facettenreiche und vitale Beziehung, S. 42–53.
Anett Gothe, Degas und der Japonismus, S. 54–65.
Bettina Kaufmann, Degas und Deutschland, S. 66–73.
Katalog:
Selbstbildnisse und Familienporträts, S. 77
Porträts von Freunden und Bekannten, S. 105
Das moderne Individuum. Zwischen Porträt und Genre, S. 135
Von Sparta nach Paris. Historie und Bühne, S. 157
Vom Parthenon-Fries auf die Rennbahn, S. 201
Sehen und erinnern. Die Landschaften, S. 227
Aktdarstellungen, S. 245