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Frankfurt | Städel: Vincent van Gogh „Making Van Gogh“ beleuchtet Rezeption von Van Goghs Kunst in Deutschland

Vincent van Gogh, Selbstbildnis, Detail, 1887, Öl auf Malpappe, montiert auf parkettierter Holztafel, 44 x 32,5, cm (The Art Institute of Chicago, Joseph Winterbotham Collection)

Vincent van Gogh, Selbstbildnis, Detail, 1887, Öl auf Malpappe, montiert auf parkettierter Holztafel, 44 x 32,5, cm (The Art Institute of Chicago, Joseph Winterbotham Collection)

Vincent van Gogh (1853–1890) verkaufte während seines kurzen Künstlerlebens nur ein einziges Bild. Doch 15 Jahre nach seiner Selbsttötung hatten die Kunstwelt und erste Sammler den immensen Wert seines Schaffens erkannt. Wer hätte gedachte, dass vor 1914 bereits mehr als 150 Bilder von Vincent van Gogh in deutschen Museen und Privatsammlungen verwahrt wurden? Heute sind es nur noch knapp über zwei Duzend. Die Ausstellung „Making van Gogh. Eine deutsche Liebe“ im Städel Museum in Frankfurt stellt die Sammlungsgeschichte van Goghs und die Rezeptionsgeschichte seines Werks in einer umfassenden Ausstellung erstmals vor! In drei Kapiteln erzählt das Frankfurter Museum die Geschichte von van Goghs Entdeckung in Deutschland und seinen Einfluss auf die deutsche Malereigeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Indem es Vincent van Goghs Rolle als Schlüsselfigur für die Kunst der deutschen Avantgarde vom Impressionismus zum Expressionismus aufzeigt, liefert das Städel einen entscheidenden Beitrag für das Verständnis der Kunstentwicklung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind etwa 140 Gemälde und Arbeiten auf Papier, darunter über 45 zentrale Werke von van Gogh.

Der Stern Vincent van Goghs begann 1901 in Paris und in den Niederlanden aufzusteigen. Der 1890 in den Freitod gegangene Maler – aber auch sein Bruder Theo – erlebten den durchschlagenden Erfolg nicht mehr. Bereits die Generation der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“ sahen in van Gogh einen „Vater der Moderne“. Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dessen Werk aber auch des Protegierens seiner Kunst bildete die Kölner Sonderbundausstellung 1912, auf der die ersten fünf von 25 Sälen dem holländischen Maler gewidmet waren. So verkaufte Paul Cassirer aus der Schau „Der Liebhaber (Porträt von Lieutenant Milliet)“ (1888) an Helene Kröller-Müller. Schon im ersten Raum zeigt das Städel, wozu es im internationalen Leihverkehr in der Lage ist: Das Ausstellungs-„Sujet“ ist das „Selbstporträt“ von 1887 aus dem Art Institute of Chicago, ehemals aus Frankfurter Privatbesitz; „L’Arlésienne“ (1888, Musée d’Orsay) hatte Vorbesitzer in München und Berlin. Der „Blick auf Paris vom Montmartre“ (1886, Kunstmuseum Basel) stammt aus dem Besitz von Paul Cassirer, über den auch „Die Hafenarbeiter in Arles“ (1888, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza) an einen Privatsammler in Berlin ging. Die pointillistische Ansicht von „Montmartre: Windmühlen und Kleingärten“ (1887, Van Gogh Museum) wie auch die „Segelboote am Strand von Les Saintes-Maries-de-la-Mer“ (1888) haben beide eine lange Ausstellungsliste bei den führenden deutschen Kunsthändlern Cassirer, Thannhauser, Emil Richter sowie Arnold in Dresden und dem Frankfurter Kunstverein. Wie die Provenienz so manches Gemäldes belegt, handelten die Galeristen untereinander etwa „Häuser in Auvers“ (1890, Museum of Fine Arts, Boston).

Zur Verbreitung von van Goghs Werk dienten Galerie-Ausstellungen und Publikationen, wobei die Edition der Briefe des Malers an seinen Bruder Theo 1914 nach der prominenten Platzierung des Holländers in der Kölner Sonderbund-Ausstellung einen weiteren Höhepunkt markiert. Johanna van Gogh-Bonger, der Witwe Theos, oblag es, das Werk ihres Schwagers bekannt zu machen. Sie tat dies mit den Kunsthändler-Kontakten der van Gogh-Familie und hohem persönlichen Einsatz. Da nahezu das gesamte Werk van Goghs nach dessen Tod in ihren Besitz überging, konnte Johanna Leihgaben zu internationalen Ausstellungen schicken. Sie arbeitete in den späten 1890ern mit Ambroise Vollard und dessen Pariser Galerie zusammen. Nach 1900 entdeckten auch deutsche Galerien und Museumsleiter den „Vater der Moderne“, wobei die Texte von Julius Meier-Gräfe wichtige Impulsgeber waren (auch für die Mythisierung des Malers).

Van Gogh in deutschen Museen

Nur wenige öffentliche Institutionen hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Mut, ein Werk von Van Gogh zu erwerben. Als erstes, nämlich bereits 1902, kaufte Karl Ernst Osthaus „Kornfeld mit Schnitter“ für das private Folkwang-Museum in Hagen (→ Museum Folkwang). In den folgenden Jahren stiegen sowohl die Preise, die für herausragende Werke Vincent van Goghs bezahlt werden mussten und nationalistische Anfeindungen gleichermaßen.

Die Liste der deutschen Museen, die vor 1914 Werke von Vincent van Gogh erwarben, ist namhaft: Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin („Le Moulin de la Galette“, 1886), Kunsthalle Mannheim („Rosen und Sonnenblumen“, 1886), Albertinum Dresden („Quittenstillleben“, 1887/88), Neue Pinakothek München („Blick auf Arles“, 1889), Museum Folkwang („Porträt des Armand Roulin“, 1888, heute: Essen), Städtische Museum Stettin („Allee bei Arles (Rand einer Landstraße)“, 1888, heute: Pommersches Landesmuseum Greifswald), Wallraf-Richartz-Museum in Köln („Porträt des Armand Roulin“, 1888, heute: Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam). Den Anfang machte 1902 das von Karl Ernst Osthaus gegründete und privat finanzierte Folkwang Museum in Hagen. Ihm folgten die Museen in Bremen, Dresden, Frankfurt, Köln, Magdeburg, Mannheim, München und Stettin.

Diese Van-Gogh-Liebe soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Künstlerschaft auf das Werk höchst gespalten reagierte. In der Vitrine findet der Kampf gegen die „überteuerte französische Kunst“, angestrengt vom Worpsweder Maler Carl Vinnen, statt. Der Erwerb eines Van-Gogh-Gemäldes für die Kunsthalle Bremen erzürnte 1910/11 die konservativen Kreise um den Worpsweder Landschaftsmaler Carl Vinnen, der in den Ausgaben für ausländische – namentlich französische – Werke einen Angriff auf die deutsche Künstlerschaft sah. Als Antwort auf sein 1911 veröffentlichtes Pamphlet erschien sofort der Sammelband „Ein Protest deutscher Künstler“. „Ein Protest deutscher Künstler“ wurde von der Publikation von „Im Kampf um die Kunst – Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler““, unterfertigt von 75 Persönlichkeiten aus dem Kunstgeschehens (darunter auch Gustav Klimt) noch im gleichen Jahr beantwortet.

Van Gogh im Städel

Der für Frankfurt schmerzlichste Teil der Geschichte rankt sich um das berühmte Porträt von „Dr. Gachet“, denn auch das Städel und sein damaliger Direktor Georg Swarzenski spielten für die Anerkennung des Niederländers eine zentrale Rolle. Als erstes öffentliches Museum in Deutschland erwarb das Städel mit Unterstützung seines Museums-Vereins 1908 das frühe Gemälde „Bauernhaus in Nuenen“ und eine Zeichnung van Goghs. 1912 folgte das Gemälde „Bildnis des Dr. Gachet“ (1890), das dem Städel Museum im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ entzogen wurde. Der Städel Direktor Swarzenski befürwortete darüber hinaus aktiv den Ankauf von van Goghs Werken durch andere Museen wie die Kunsthalle Bremen.

1937 wurde es aus der Sammlung der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und zur Beschaffung von Devisen verkauft. Ein leerer Rahmen erinnert an das heute in Privatbesitz befindliche Meisterwerk. Mit dem „Bauernhaus in Nuenen“ (1885) besitzt das Städel heute noch ein Frühwerk des Malers aus dessen holländischer Anfangszeit.

Vincent van Gogh und die Galerien Cassirer und Thannhauser

Walter Leistikow und der Geschäftsführer [der Berliner Secession, Anm. AM], der junge Kunsthändler Paul Cassirer, aber gingen noch weiter. Sie brachten nun die teils verpönten, teils unbekannten modernen Künstler des Auslandes vor Augen: Manet und Monet, die beiden berühmten Pariser; der bis dahin unbekannte Cézanne, welcher in Paris plötzlich noch lebend zur größten Anerkennung ausgegraben worden war, und Gauguin, in dem man das Vorbild des früher umstrittenen Norwegers Munch erkannte; ferner einen Holländer, von dem noch nie irgendeiner ein Sterbenswörtchen gehört hatte: van Gogh. Selbst Cassirer hatte ihn noch nicht gekannt; Leistikow hatte von ihm Werke in Kopenhagen gesehen. Die van Gogh’schen Bilder verblüfften ganz Berlin zuerst in solcher Weise, dass überall ironisches Gelächter und Achselzucken war. Aber die Secession brachte alljährlich immer wieder neue Werke von diesem Holländer, und heute wird van Gogh zu den besten und teuersten gezählt.“1 (Lovis Corinth, 1910)

Die Kunsthändler Paul Cassirer (1871–1926), Arnold sowie Heinrich und Justin L. Thannhauser spielten in der Rezeption des holländischen Malers eine Vorreiterrolle (→ Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin 1880–1933). Zuvor hatten bereits der Kunsthändler Paul Cassirer und der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe die Bedeutung Vincent van Goghs für die Moderne in Deutschland erkannt. Van Goghs Schwägerin, Johanna van Gogh-Bonger (Witwe von Theo van Gogh), war es gelungen, das Interesse am Werk des Niederländers zu wecken. Sie lieh Cassirer ab 1901 regelmäßig Bilder für dessen Einzelausstellungen in Berlin.

Die erste große Retrospektive des Werks richtete Amsterdam aus, dicht gefolgt von einer großen Schau des Post-Impressionisten in der Galerie Arnold in Dresden. Für die sich gerade formierende Gruppe der Brücke stellte dieses Ausstellungserlebnis eine Initialzündung dar. Heinrich Nauen und Ernst Ludwig Kirchner kopierten Bilder von Van Gogh, aber auch Emil Nolde verdankte dem dynamisierten Pinselstrich des Verstorbenen viel. In den folgenden sieben Jahren hatten Kunstschaffende, Sammlerinnen und Sammler auf 68 Ausstellungen die Möglichkeit, sich mit dem Werk des umstrittenen Niederländers auseinanderzusetzen.

Im Jahr 1908 präsentierte die Münchner „Moderne Galerie“ Thannhausers ihre erste Van-Gogh Ausstellung. Darüber hinaus förderte der Galerist Max Liebermann und die Künstler der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM), aus der 1912 der Blaue Reiter hervorging, sowie die führenden Vertreter der französischen Moderne (Pablo Picasso). Gemeinsam mit Cassirer gaben die Tannhausers den Briefwechsel zwischen Vincent und Theo van Gogh heraus (→ Vincent van Gogh : Paul Gauguin in Arles).

Nach der Sonderbundausstellung in Köln im Frühjahr 1912 war der Stellenwert van Goghs in den deutschsprachigen Ländern gesichert, und die Preise stiegen sprunghaft an. Die Organisatoren hatten sich entschlossen, Vincent van Gogh in einem Umfang zu präsentieren, wie es bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch nie geschehen war: 120 Gemälde, 16 Zeichnungen und ein Aquarell. Ausgestellt waren beispielsweise das „Selbstbildnis“ vom Frühjahr 1887 (The Art Institute of Chicago), die „Sonnenblumen“, das berühmte „Schlafzimmer in Arles“, das „Gelbe Haus“, mehrere Versionen des „Olivenhains“, die „Fischerboote am Strand von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer“ (Van Gogh Museum, Amsterdam), die „Zugbrücke bei Arles“, die „Allee bei Arles“ (Pommersches Landesmuseum, Greifswald), aber auch frühe Werke wie „Kartoffelesser“ oder „Moulin de la Galette“ (Kröller-Müller Museum, Otterlo). Die Porträts des Postmeisters Roulin, die „Arlésienne“ (Musée d‘Orsay) und die „Berceuse“ waren ebenfalls in mehreren Varianten zu bestaunen.

Maria Slavona und van Gogh

Nicht unterschätzt werden dürfen die deutschen Privatsammlerinnen und Privatsammler wie die aus Lübeck stammende Maria Slavona, aus deren Besitz das „Bauernhaus in der Provence“ (1888, National Gallery of Art, Washington) kommt. Die Malerin zog mit ihrem Partner, dem Maler und Dichter Wilhelm Petersen, der sich fortan Willy Gretor nannte, zur Ausbildung nach Paris. Danach lebte sie mit ihrem Lebensgefährten, dem Schweizer Schriftsteller und Kunsthändler Otto Ackermann, in Paris, wo sie sich ein dichtes Netzwerk aufbauen konnte.2 Da Maria Slavona auch in Berlin Fuß fasste, bildete sie eine erste „Brücke“ für das Protegieren Vincent van Goghs Werk in Deutschland. In der Van-Gogh-Forschung ist Maria Slavona noch weitgehend unterrepräsentiert, wodurch die Ausstellungspublikation des Städel auch auf diesem Gebiet zu einer Fundgrube für die weitere Beschäftigung mit der Rezeption werden kann.

Bereits im Dezember 1891 erwarb Willy Gretor im Laden von Pere Tanguy sechs Gemälde von Vincent van Gogh, darunter „Bauernhaus in der Provence“, „Weiße Hütten bei Saintes-Maries“ und „Der Rundgang der Gefangenen. Damit wurde er einer der frühesten Van-Gogh-Sammler überhaupt. Maria Slavona erhielt einige Bilder aus dieser Sammlung als Unterhaltszahlung für ihre gemeinsame Tochter, darunter das in der Ausstellung besonders hervorstechende „Ernte in der Provence“ (1888, The Israel Museum, Jerusalem). Dass Maria Slavona bereits zwei Van-Gogh-Fälschungen ihr eigen nannte, mag als deutlicher Hinweis auf die Nachahmung des Malstils gewertet werden.

Van Gogh und der deutsche Expressionismus

„Van Gogh ist tot, aber die van Gogh-Leute leben. Und wie leben sie! Überall van Goghelt’s“, formulierte Ferdinand Avenarius 1910 in der Zeitschrift „Der Kunstwart“ und beschrieb damit die Faszination, die Vincent van Goghs Malerei Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem auf junge Künstler in Deutschland ausübte. Welche Bedeutung hatte das Werk von Vincent van Gogh für die Entwicklung der deutschen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, allen voran des deutschen Expressionismus?

Die Kuratoren der Städel-Ausstellung teilen die Rezpetionsgeschichte van Goghs in zwei Kapitel auf: Wirkung und Malweise. Unter Wirkung verstehen sie offenkundig die ersten Reaktionen auf das Werk des Niederländers, beginnend mit motivischen Übernahmen bis zu den Frühwerken der wichtigsten „Brücke“-Künstler.

Das einfache bäuerliche Leben steht am Beginn dieser Gegenüberstellung. Van Goghs Gemälde mit bäuerlichen Motiven wie Feldarbeit (nach Millet und der Haager Schule), Sämann, Kopf einer Bäuerin (Studie für die „Kartoffelesser“) hatten tiefe Wirkung auf die deutsche Avantgarde. Heinrich Nauen übersetzte etwa van Goghs Vorbild in eine farbenfrohe Variante. Porträts von Gabriele Münter, Paula Modersohn-Becker und Alexej von Jawlensky rahmen das Porträt der „Augustine Roulin (La Berceuse)“ (1889). Zu den motivisch stark von van Gogh beeinflussten Malern zählt Wilhelm Morgner, obschon dessen großflächige Gestaltung und dekorative Ornamentalisierung der Landschaft, die grobe Strichführung eine gänzlich andere Malweise und Haltung verraten.

Eine Reihe Selbstporträts, beginnend mit Vincent van Gogh, stellt die Bildnisse von Max Beckmann, Peter August Böckstiegel, Wilhelm Morgner, Ludwig Meidner und Heinrich Nauen einander gegenüber. Der Typus des Büstenabschnitts und der kritischen Selbstbeobachtung mögen im Werk des Niederländers eine Wurzel haben. Überzeugender ist der Raum der Zeichnungen, Eine Handvoll Zeichnungen Vincent van Goghs gibt Einblick in dessen künstlerische Entwicklung vom Naturalismus, den Kohlezeichnungen mit kantigen groß zusammengefassten Formen bis zu den postimpressionistischen Zeichnungen. In den letzten Zeichnungen vermochte Vincent van Gogh mit delikatem Federstrich zwischen Linien, Kringel und Punkt die Oberflächenwirkung des Gesehenen zu beschreiben.

Eine Kopie der „L’Arlesienne“ von Cuno Amiet (1908) führt in das Kapitel „Van Goghiana“ ein. Nicht nur der Schweizer Künstler sah in Vincent van Goghs Werk eine Wegmarke zur Moderne, sondern auch die etwas jüngeren Mitglieder der Dresdner „Die Brücke“. Die Diffamierung „Van Goghiana“ stammt von Emil Nolde, der kurz selbst der Künstlergruppe angehört hatte und sich mit dem Verdikt von seinen Kammeraden trennte. Emil Nolde, Ernst Ludwig Kichner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff sind mit farbenfrohen und wild gemalten Bildern der Jahre 1906 bis 1908 vertreten. In ihnen zeigen sie sich noch als Vertreter des Postimpressionismus. Die Formen lösen sich nahezu in der gestrichelten Maltechnik auf. Obschon der ländliche Motivkreis vorherrscht, scheint die Ausführung wichtiger zu sein als die Darstellung. Zwei Gemälde aus den Jahren 1910 (Schmidt-Rottluff) und 1913 (Heckel) zeigen, wohin die Reise führte: Der Brücke-Stil sah den Einsatz von unmodellierten Farben in roher Malweise vor. Je nach Motiv und Persönlichkeit löste sich die Darstellung nahezu gänzlich auf.

Brennen für van Gogh

Der dritte Teil der Ausstellung ist der Malweise und formalen Kriterien gewidmet. Vincent van Gogh entwickelte während seiner knapp 10-jährigen Beschäftigung mit Malerei eine Vielzahl von Maltechniken, die von naturalistischer Beschreibung über den Pointillismus zu seinem charakteristischen rhythmisch-bewegten Pinselstrichen reichen. Die deutschen Malerinnen und Maler reagierten darauf mit der Problematisierung von Fläche sowie Rhythmus und Struktur. In diesem Teil der Städel-Ausstellung sind die Maler des „Blauen Reiter“ besonders bedacht. August Macke zeigt „Walterchens Spielsachen“ in eigentümlicher Perspektive des Erwachsenen, also von oben, während Gabriele Münter ihre Landschaften durch Komplementärkontrast zum Strahlen bringt. An das pastos hingesetzte „Mohnblumenfeld“ (1890) aus dem Kunstmuseum Den Haag schloss vor allem Christian Rohlfs bewegte „Bäume am Flussufer“ (1910, Kunsthalle zu Kiel) an. Die Nähe des Malers zu Karl Ernst Osthaus, der früh Werke von van Gogh erwarb, führte zu einer direkten Auseinandersetzung mit dem verehrten Vorbild. „Sonniges grünes Meer“ (1905), ein Frühwerk von Max Beckmann, erstaunt ob der bewegten Schilderung des Wassers in einer an van Gogh gemahnenden Struktur.

Den Ausklang der Ausstellung „Making Van Gogh. Eine deutsche Liebe“ bilden Landschaftsdarstellungen mit der strahlenden Sonnenscheibe und einem verregneten Tag. Für ihn stand die Sonne für das lebensspendende, hoffnungsvolles Element, das ihm in schweren Zeiten Zuversicht gab. Diese Metaphorik begeisterte nicht nur Edvard Munch, sondern auch die deutschen Expressionisten. Hier weitet sich der Blick von van Gogh auf Carl Lohse, Walter Ophey, Otto Dix, Josef Scharl und Max Pechstein. Pechsteins „Aufgehende Sonne“ (Saarlandmuseum) von 1933 bildet den zeitlichen Schlusspunkt der Schau. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im gleichen Jahr fand die Begeisterung für das Werk von Vincent van Gogh ein abruptes Ende. Dass die Van-Gogh-Liebe heute wieder so brennt, bringt uns eine Ausstellung, die zweifellos ein Höhepunkt des Ausstellungsherbstes 2019 ist!

Kuratiert von Dr. Alexander Eiling (Leiter Kunst der Moderne, Städel Museum) und Dr. Felix Krämer (Generaldirektor, Kunstpalast Düsseldorf)

Making Van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe: Ausstellungskatalog

Alexander Eiling, Felix Krämer (Hg.)
mit Beiträge von Alexander Eiling, Felix Krämer, Elena Schroll, Iris Schmeisser, Anna Huber, Stefan Koldehoff, Heike Biedermann, Joachim Kaak, Roland Dorn, Alina Happ und Philipp von Wehrden
ISBN 978-3-7774-3297-7 (Deutsch)
ISBN 978-3-7774-3298-4 (Englisch)
Hirmer Verlag, München

Der Beitrag wurde unterstützt von: Grandhotel Hessischer Hof – Hotel Frankfurt

Vincent van Gogh und Deutschland: Bilder

  • Vincent van Gogh, Bauernhaus in Nuenen, 1885, Öl/Ln, 60 x 85 cm (Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.)
  • Vincent van Gogh, Segelboote am Strand von Les Saintes-Maries-de-la-Mer, 1888, Öl/Ln, 65 x 81,5 cm (Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)
  • Vincent van Gogh, Der Weg nach Arles, 1888, Öl/Lw, 46,1 x 60,9 cm (National Gallery of Art, Washington D.C. © National Gallery of Art, Washington, Ailsa Mellon Bruce Collection)
  • Vincent van Gogh, Strohhaufen, 1888, Bleistift braune Tusche, Rohrfeder, 24,1 x 31,9 cm (© Szépművészeti Múzeum - Museum of Fine Arts Budapest, 2019)
  • Vincent van Gogh, Die Pappeln in Saint-Rémy, 1889, Öl auf Leinwand, 61,6 x 45,7 cm (The Cleveland Museum of Art, Vermächtnis von Leonard C. Hanna, Jr.)
  • Wilhelm Morgner, Der Baum, 1911, Öl auf Leinwand, 60 x 86 cm (© Museum Wilhelm Morgner, Soest, Foto Thomas Drebusch)
  • Paula Modersohn-Becker, Alte Armenhäuslerin mit Glaskugel und Mohnblumen, 1907, Öl auf Leinwand, 96,3 x 80,2 cm (Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen)
  • Peter August Böckstiegel, Selbstbildnis, 1913, Öl auf Leinwand, 48 x 38,5 cm (© Peter-August-Böckstiegel-Stiftung, Werther)

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  1. Lovis Corinth, Das Leben Walter Leistikows. Ein Stück Berliner Kulturgeschichte, Berlin 1910, S. 55., Zit. n. Stefan Koldehoff, „Eben doch nur ein Künstler kleineren Stils“. Vincent van Gogh und der Kampf um die Moderne in Deutschland, in: Barbara Schaffer (Hg.), 1912. Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes (Ausst.-Kat. Wallraff-Richartz-Museum & Foundation Corboud, 31.8.–30.12.201), Köln 2012, S. 70–87, hier S. 70.
  2. In ihrer Wohnung am Montmartre empfingen sie Persönlichkeiten wie Edvard Munch, Käthe Kollwitz, Rainer Maria Rilke, Pablo Picasso, Max Liebermann, Bertha von Suttner und Julius Meier-Graefe als Gäste. Siehe. Ausst.-Kat. S. 77.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.