Paul Gauguin (1853–1903) ist vor allem für seine farbenprächtigen Bilder von Frauen aus der Südsee berühmt. Aber Paul Gauguin, ein Alchemist? Leben und Werk sind auch noch multidimensional? Der außergewöhnliche Titel ist zugleich metaphorisch wie faktisch zu verstehen. Zum einen verweisen die Kuratorinnen und Kuratoren auf mannigfaltige Materialien und künstlerische Zugänge des französischen Autodidakten. Zum anderen verwandelt der Künstler-Kunsthandwerker diese metaphorisch in geheimnisvolle Objekte, die die Fantasie anregen.
Gauguins Werk setzt sich neben der Malerei aus Skulptur (anfangs Marmor, dann Holz), Keramiken, Kunstgewerbe (Möbel) und Druckgrafiken zusammen. Der Maler-Bildhauer und Maler-Dekorateur ist ein Hauptvertreter des Symbolismus und des experimentellen Kunsthandwerks. Den dreidimensionalen Objekten wird in dieser Präsentation eine Sonderrolle zugestanden, deren Verständnis das malerische Werk neu beleuchten hilft. Nicht mehr und nicht weniger als dem „zeitgenössischen Publikum eine neue Einführung in das Werk eines Künstlers zu geben, dessen globale Interessen und Materialrecherchen mit unserer multikulturellen, multimedialen Welt korrelieren”, wollen die Kuratoren des Art Institute of Chicago, des Musée d’Orsay und des Grand Palais bieten – und das gelingt ihnen!
USA | Chicago: The Art Institute of Chicago
25.6. – 10.9.2017
Frankreich | Paris: Réunion des musées nationaux–Grand Palais
11.10.2017 – 22.1.2018
Der kreative Prozess entlud sich bei Gauguin eruptiv und radikal experimentell. Immer, wenn man meint, der Künstler hätte „seinen Stil gefunden“, wandte er sich einem neuen Thema, einer neuen Ausdrucksweise zu, fasst Gloria Groom die von abrupten Wechseln durchzogene „Entwicklung“ Gauguins zusammen. Wenn auch Gauguin in der Malerei letztendlich das „Ziel“ seiner Kreativität sah, so nehmen die Experimente in anderen Materialien doch erstaunlich viel Platz in seinem Denken ein. Dieser Blick für das „Unverbrauchte“, sein Zusammenführen unterschiedlichster Quellen und Einflüsse. Gauguins „Kunst des Borgens und Zusammensetzens“ entzündete sich an zeitgenössischer Keramik, Tapisserien und bemalten Glasfenstern bis zur „primitiven Kunst“ der ländlichen Bretagne, an Épinal Drucken, peruanischer Keramik sowie ozeanischen Artefakten. Anstelle sich an Alten Meistern oder Skulpturen der Antike abzuarbeiten, wie es beispielsweise zur gleichen Zeit Lawrence Alma-Tadema höchst erfolgreich praktizierte, nutzte der ehemalige Matrose und Weltumsegler seine Wertschätzung außereuropäischer und anti-akademischer Kunst. Diese Bricollagen machten das Werk von Paul Gauguin für nachfolgende Generation hochinteressant: Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse und nicht zuletzt Pablo Picasso fanden in dem furchtlosen, antiakademischen aber auch sensiblen „Wilden“, wie sich Gauguin selbst bezeichnete, eine wichtige Referenzfigur, um ihren Horizont über die Grenzen Europas hinaus zu weiten (→ Picasso war ein Afrikaner!).
Eine der Konstanten ist Gauguins Ästhetik war sein Bedürfnis, sein Material physisch zu bearbeiten. Indem er schnitzte, ritzte, schnitt, aufhob und ergänzte, formte er aktiv neue Formen. Seine Vorliebe für das Raue und das Krude führte den Franzosen zum Einsatz von rauem Sackleinen und dünner Grundierung in seinen Gemälden – und damit bereits über die Grenzen des Impressionismus hinaus.
1873, als Paul Gauguin noch als Börsenhändler arbeitete, begann er in seiner Freizeit zu zeichnen und zu malen. Dass der später als Maler so berühmt gewordene Gauguin erste Gehversuche in der Kunst der Steinbildhauerei wagte, ist nur noch wenigen bewusst. Zwischen 1877 und 1880 führte ihn sein Vermieter und Nachbar, der akademische Bildhauer Jules-Ernest Bouillot, in das Modellieren und Bearbeiten und Polieren von Stein ein. Die Marmorbüste seiner Frau, Mette (1877, Courtauld Gallery, London), und seines Sohnes Émil (um 1877 /78, The Metropolitan Museum of Art, New York) zeigen, dass Paul Gauguin die Grundlagen der Technik gut erlernt hat. Wenig später wandte er sie für Holzskulpturen an.
Der Kontakt zu den Impressionisten erfolgte – wie üblich – über Camille Pissarro, den Gauguin wohl 1875 über seinen guardian, Gustave Arosa, der mehrere Gemälde von Pissarro besaß, kennenlernte. Wenig später (1878/79) begann Gauguin selbst zu sammeln und besaß Werke von Pissarro, ein Stillleben von Paul Cézanne, Edgar Degas. Seine Teilnahme an der Vierten Impressionisten-Ausstellung 1879 wurde durch die Einladung von Edgar Degas und Pissarro möglich. Er stellte dort die akademische Büste von Émil aus und lieh zwei Gemälde sowie einen Fächer von Pissarro.
Die Sechste Impressionisten-Ausstellung 1881 präsentierte sowohl Edgar Degas als auch Paul Gauguin als Plastiker und Bildhauer. Für ihre Skulpturen nutzten sie unübliche Materialien und Techniken: Paul Gauguins „Die Sängerin“ (1880, Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen) und „Lady Strolling“ (um 1880, The Kelton Foundation, Santa Monica, Kalifornien) standen in starkem Kontrast zu Degas „Kleiner Tänzerin im Alter von 14 Jahren“ (1878/81, National Gallery of Art, Washington, D.C.). Gauguin fügte, wenn auch kaum auffällig, zur Figur aus Mahagoni ein Gips-Bouquet. Der „Wettbewerb“ zwischen den beiden Künstlern endete mit einem Zerwürfnis, das erst 1886 wieder gekittet wurde. Dennoch ließ sich Gauguin von Degas‘ Einsatz von Wachs anregen, selbst um 1881/82 mit dem Material zu experimentierten: Er schuf drei farbige Wachs-Porträts seiner Kinder, wenig später übersetzte er Figuren aus Gemälden des Konkurrenten in Holzskulpturen.
Gleichzeitig wandte sich Paul Gauguin von der impressionistischen Doktrin ab, in der Natur zu arbeiten. Stattdessen malte er im Atelier nach seinen Erinnerungen. Sein Umzug nach Kopenhagen Ende 1884 führte zum Bruch mit den einstigen Mentoren. Werke aus seiner Sammlung – vor allem Paul Cézannes Stillleben – wurden wichtige Bezugspunkte. Dazu kam ab 1885 noch sein Wunsch, visionäre Erlebnisse in Bilder umzusetzen. Als ersten Schritt malte er mit „empfunden“ und nicht beobachteten Farbtönen und hielt seine Kunsttheorie mit den zentralen Begriffen Erinnerung und Vorstellungskraft im Text „Notes synthétiques“ (1885) fest.1
„Bracquemond sagte, dass unter den Dingen einige gut und andere nicht gut wären. Alles in allem schien er damit andeuten zu wollen, dass das die Kunst eines Matrosen wäre, der ein bisschen von überall genommen hätte. […] Ich bildete mir meine Meinung schon vor einer langen Zeit über ihn [Gauguin], und wenn ich nicht sagen würde, dass er sich nicht zum besseren entwickeln könnte, ist er im Grunde seines Herzen ein Anti-Künstler, er macht Krimskrams.“2 (Camille Pissarro in einem Brief an seinen Sohn Lucien, 23.1. 1887)
Den ersten Kontakt mit künstlerischer Keramik hatte Paul Gauguin 1882, als er in einem Pastell3 seinen Bildhauer-Vermieter Jean-Paul Aubé und dessen Sohn Émile festhielt. Aubé ist gerade damit beschäftigt, eine in weißem Ton geschnittene Szene auf eine Vase im Atelier der Haviland Company aufzusetzen. Diese von Ernest Chaplet (1835–1909) geführt Werkstätte befand sich in der Rue Blomet, in deren Nähe Paul Gauguin seit 1880 wohnte, als er in die Rue Carcel gezogen war.
Auf die Empfehlung von Félix Bracquemond lud Ernest Chaplet 1886 Paul Gauguin in sein Atelier ein. Von den zwischen 1886 und 1895 entstandenen mehr als 100 Keramiken im Werk von Paul Gauguin, sind heute noch 60 Stück erhalten. Er selbst bezeichnete die Stücke in einem Brief an Bracquemond als „Monstrositäten”. Die an japanischem Steingut4, Keramiken aus dem Mittelalter, der Renaissance und der Volkskunst (v.a. Bretagne und den Anden) orientierten Werke zeigen vielfach komische und groteske Figuren. Anfangs bemalte Gauguin die von Chaplet modellierten Vasen, später fand der Künstler selbst Gefallen am Modellieren. Materialgerechtigkeit stand für den Franzosen an erster Stelle: Daher forderte er, anstelle einer Töpferscheibe die „intelligenten“ Hände zu verwenden, um „einer Figur Leben einzuhauchen“. Indem er Töpferei mit der Erschaffung des Menschen durch Gott verglich,
Mit großer Begeisterung füllte er Skizzenbücher mit Entwürfen von Keramiken, deren Motive sich in den Gemälden wiederfinden. Gleichzeitig experimentierte Gauguin mit dem Cloysonismus, indem er starke, präzise Umrisslinien um Figuren und Formen setzte sowie flache, unmodellierte Farben auftrug. 1886/87 glasierte Paul Gauguin eine von Chaplet gestaltete Vase genau auf diese Weise. So verarbeitete er sowohl Motive aus der Phase in Pont-Avon wie er formal die von Glasmalerei inspirierte Technik einsetzte. Andere Vasen wiederum imitieren Baumstämme oder Äste, was Gauguins tiefe Verbundenheit mit dem Material zum Ausdruck bringt. Zudem
Wenn auch die Keramiken Gauguin nicht den erhofften finanziellen Erfolg brachten, so brachte ihn diese Arbeit auch in seiner Malerei weiter. Der Kunsthändler Theo van Gogh übernahm den Verkauf von Gauguins Keramiken, was dem „Wilden“ die Reise nach Arles ermöglichte. Dort verbrachte er ab dem 23. Oktober 1888 zwei sehr produktive aber schwierige Monate mit Vincent van Gogh. Immer mehr wandte sich Gauguin Bildern aus seinem Gedächtnis oder Vorstellung zu, vernachlässigte die Modellierung, nutzte intensive Farben, flächige Formen und begann, diese mit schwarzen Umrisslinien zusammenzufassen.
In den späten 1880er Jahren lässt sich beobachten, wie Paul Gauguin seine experimentellsten Ideen beim Schnitzen und Gestalten von Vasen umsetzte. Hier fühlte er sich offenbar freier als in der traditionsbeladenen Malerei. Während seiner Aufenthalte in der Bretagne sammelte er ein Motivrepertoire an bäuerlichen Figuren, Kleidung (wie den berühmten weißen Hauben und schwarzen Gewändern der Bäuerinnen), religiösen Sujets (Kruzifixen) und traditionellen Handlungen (Ringkampf), das über Jahre hinweg den Grundstock seiner Kunst bildete. Immer mehr vetraute er auf das Konzept des Symbolismus, suggestive, traumverlorene Motive in seiner Kunst umzusetzen. Gauguin malte aus der Erinnerung und versuchte vor allem die Gefühle, die ein Objekt, eine Gruppe von Menschen bei ihm auslöste, darzustellen oder zumindest anzudeuten.
Das Art Institute of Chicago besitzt einen Schrank5 aus dem Jahr 1888, den Paul Gauguin in Zusammenarbeit mit seinem damaligen Freund Émile Bernard im Sommer 1888 gestaltete. Für beide Künstler war eine künstlerische Kollaboration ein Novum, zeigt jedoch die wachsende Bedeutung, die Gauguin als „Anführer“ der Schule von Pont-Aven in diesem Jahr genoss. Der 40-jährige Gauguin und der 20-jährige Bernard schnitzen und polychromierten bretonischen Szenen und gaben dem Schrank den Titel „Irdisches Paradies“. Die Entstehungsumstände des Schrankes liegen bis heute im Dunkeln, da er während der Lebzeiten beider Künstler nie ausgestellt worden ist. Bernard schuf in diesem Sommer „Bretonische Frauen im Grünen” und Gauguin die berühmte „Vision bei der Predigt (Jakobs Kampf mit dem Engel)“, die als Durchbruch der synthetistischen-symbolistischen Prinzipien in ihren Werken gelten: Sie zeigen geisterhafte Sujets bzw. die Gedanken der Nonnen während der Predigt sowie den Einsatz von Farben und Linien, wie er in außereuropäischer Kunst (Japanischer Farbholzschnitt!) studiert werden konnte. Beide Künstler verglichen ihre Suche nach neuen Ausdrucksmitteln mit einem Kampf, weshalb (vielleicht) die ringenden Knaben auch in der Front des Schrankes gezeigt werden.6 Die Mischung aus Bretoninnen mit ihren charakteristischen Trachten und Frauen aus Martinique (unten) dürfte Gauguin zuzuschreiben sein. Obwohl Bernard heute aus stilistischen und ikonografischen Gründen nur ein Paneel zugeschrieben wird, wurde der jüngere Künstler in der Folge zu einigen wichtigen Möbelstücken beauftragt: 1891/92 bestellte Graf Antoine de La Rochefoucauld einen Eckschrank mit Bretonischen Szenen und 1891 bis 1893 arbeitete er an einem großen Schrank, der sich heute in der Norton Simon Art Foundation befindet.
Paul Gauguin widmete sich nie wieder einem so großen Möbelstück. Dennoch war sein Umfeld, besonders die 1897 entstandene Tahitianische Einrichtung „Te rerioa (Der Traum)“7 (Courtauld Gallery, London) – voller Objekte, die er mit Schnitzerei verzierte. Andere Holzobjekte, glasiertes und unglasiertes Steinzeug zeigen ähnliche Motive aus dem reichen Formenschatz Gauguins. Durch Wiederholung und Abstraktion befreite er sich von der Frage nach dem „richtigen“ Sujet, nach einer „Erzählung im Bild“ und konnte sich in Paris ganz seinen Stilversuchen widmen. Zu den skurrilsten Objekten zählt etwa ein geschnitztes Fass8, das die Albertina in Wien leiht. Den Abschluss von Werk und Katalog bildet „Père Paillard (Vater Lechery)“9 (1902), dem er Teufelshörner verpasste.
Und dann ist die Ausstellung in Chicago und Paris auch noch eine außergewöhnlich gute Zusammenstellung der Malerei von Paul Gauguin. Allein die Zusammenstellung von Bildern würde einer guten Gauguin Ausstellung gerecht werden. Während das Musée d’Orsay im Besitz von einigen der bedeutungsvollsten Gemälden, Skulpturen und Keramiken10 des Künstlers ist, verfügt das Art Institute of Chicago über eine der größten Sammlungen von Gauguins Arbeiten auf Papier. 1913 wurde der zehn Jahre zuvor Verstorbene erstmals in den USA ausgestellt: Seine Werke waren auf der International Exhibition of Modern Art, besser bekannt als Armory Show, zu sehen. Bereits 1922 erwarb das Art Institute of Chicago erste Arbeiten auf Papier und ein Jahr später das erste Gemälde.
Der Schwerpunkt der Bildauswahl in „Paul Gauguin. Der Künstler als Alchemist“ liegt auf den späten 1880er und frühen 1890er Jahren, Szenen aus der Bretagne und Pastoralen aus Tahiti überwiegen. Dazu gesellt sich noch eine veritable Reihe von Selbstbildnissen, in denen sich Paul Gauguin vor eigenen Werken oder Bildern von verehrten Künstlerkollegen wie Paul Cézanne abbildete.11 Der skeptische Blick heraus darf dabei durchaus als Infragstellung des Selbst und der eigenen Kunst gedeutet werden. Einige der Gemälde – vor allem die Leihgaben aus russischen Museen wie der Eremitage und dem Pushkin – sind nur in Paris zu sehen, was die Schau für Besucherinnen und Besucher der europäischen Station erfreuen dürfte.