Wifredo Lam

Wer war Wifredo Lam?

Wifredo Lam (Sagua la Grande 2.12.1902–11.9.1982 Paris) war ein kubanisch-französischer Maler und Grafiker des Surrealismus. Obwohl er in erster Linie Maler war, beschäftigte er sich in seinem späteren Leben auch mit Bildhauerei, Keramik und Druckgrafik. Wifredo Lams Malerei diente ihm als Ausdrucksmittel seiner antikolonialistischen Haltung. Die Kompositionen werden in enge Verbindung mit dem Santería-Kult gebracht, da sie auf wild-tänzerische Art karibisch-afrikanische Geister und Formen zu beschwören scheinen. Wifredo Lam prägte die moderne Kunst maßgeblich und diente nachfolgenden Künstlergenerationen in der Karibik, Afrika und im Westen als Vorbild.

„Meine Malerei ist ein Akt der Dekolonisierung – nicht im physischen, sondern im geistigen Sinne.“ (Wifredo Lam)

Kindheit

Wifredo Lam wurde als jüngstes von acht Kindern am 2. Dezember 1902 in Sagua la Grande, Kuba, geboren und auf den Namen Wilfredo Óscar de la Concepción Lam y Castilla getauft. Sein Vater, Enrique Lam-Yam (1820–), war Chinese (Kanton) und seine Mutter, Ana Serafina Castilla (1862–), kongolesischer und kubanischer Abstammung. Lams chinesischer Name lautet 林飛龍, Lín Fēilóng. Der Vater Lam-Yam hatte eine Tischlerei. Da er mehrere chinesische Dialekte sprach, gut ausgebildet war und sich mit Kalligraphie auskannte, diente er der örtlichen chinesischen Gemeinde auch als öffentlicher Schreiber. Drei seiner Schwestern hießen Eloísa, Teresa und Augustina.

Lam wuchs in einer bescheidenen, aber relativ aufgeschlossenen Familie auf, zu einer Zeit, als Schwarze und Mulatten noch diskriminiert wurden. Er verbrachte seine Kindheit inmitten eines „Meeres aus Zuckerrohr“ und fruchtbaren, von Königspalmen gesäumten Feldern. Kuba hatte einige der üppigsten Wälder der Welt:

„Als ich noch ganz klein war, war ich von meinem eigenen kleinen Dschungel umgeben.“

Wifredo Lam besuchte eine öffentliche Schule im Viertel Cocosolo und wurde dort vor allem mit einem Schmelztiegel der Zivilisationen konfrontiert: der katholischen Religion der Insel und dem Glauben, den seine Mutter angenommen hatte; dem Kult seiner chinesischen Vorfahren, den sein Vater in Form von Opfergaben praktizierte; den afrikanischen Traditionen Kubas, insbesondere der schwarzen Magie, die seine Patentante Antonica Wilson praktizierte. Seine Patentante, „Ma'Antonica“, wie ihr Patensohn sie nannte, war eine angesehene Priesterin der Santería. Sie führte den jungen Wifredo in die Grundlagen der Religion und ihrer Symbolik ein und erzählte ihm oft fesselnde Geschichten von den Abenteuern ihrer anthropomorphen Gottheiten. Sie hoffte, dass ihr Patensohn in ihre Fußstapfen treten und ihre Geheimnisse erben würde, um ein „Babalao“ zu werden, das „Vater des Geheimnisses [göttlicher Deuter von Orakeln und Zeichen]“ (Yoruba) bedeutet. Doch der junge Wifredo lehnte die Initiationszeremonie ab. Dennoch stellte sie ihn unter den Schutz der Götter, in die Obhut von Chango, dem Gott des Donners, und Yemeya, der Göttin des Meeres.

Bereits mit sieben Jahren zeigte sich bei Lam künstlerisches Talent. Er beobachtete die Kalligrafie seines Vaters und die zahlreichen afrikanischer Skulpturen im Haus seiner Patentante – Artefakte, die während der Sklaverei verboten waren. So entdeckte er gleichzeitig ganz unterschiedliche ikonografische Welten. Er zeichnete gern (Landschaften und Porträts) und interessierte sich sehr für Kunstbücher mit ihren Schwarz-Weiß-Illustrationen. Er vertiefte sich in die Meisterwerke von Leonardo da Vinci, Diego Velázquez und Francisco de Goya, aber auch von Paul Gauguin und Eugéne Delacroix. Sie brachten ihn dazu, sich zu schwören, eines Tages die Originale im Louvre und im Prado mit eigenen Augen zu sehen.

Ausbildung

Wifredo Lam übersiedelte im Jahr 1916 nach Havanna, wo er das 1913 gegründete Museum der Schönen Künste besuchte und die eher provinziellen spanischen und hispanisch-kubanischen Künstler sowie die griechischen, ägyptischen und römischen Artefakte entdeckte. Er spazierte durch den Botanischen Garten, der ein Jahrhundert zuvor angelegt worden war, und skizzierte die tropischen Pflanzen. Lam war fasziniert von den üppigen Blättern, runden Früchten und den auffälligen Farben der Blüten. Außerdem durchstöberte er die Buchhandlungen der Stadt auf der Suche nach den neuesten Veröffentlichungen.

Lam studierte von 1918 bis 1923 an der Escuela Profesional de Pintura of San Alejandro [Kunsthochschule von Havanna]. Anfangs wollte er Bildhauer werden, entdeckte allerdings schnell die körperliche Anstrengung. Deshalb wechselte er zur Malerei und trainierte sich vor allem im Porträtfach.
Im Juni 1920 wurde Wifredo Lam Mitglied der Vereinigung der Maler und Bildhauer von Havanna. Drei Jahre später stellte er seine ersten Gemälde im Salon der Schönen Künste von Havanna aus. Daraufhin wurde er eingeladen, seine Werke in seiner Heimatstadt Sagua La Grande zu präsentieren. Die beiden Veranstaltungen brachten ihm einen gewissen Erfolg, sodass Sagua ihm ein Stipendium für sein Studium in Europa gewährte. Der Direktor des Museo Nacional de la Habana, Antonio Rodriquez Morey, stellte ihm ein Empfehlungsschreiben aus, das ihm Zugang zur High Society Madrids verschaffte.

Ende des Jahres 1923 zog Wifredo Lam nach Spanien, wo er die Kunsthochschule in Madrid [Real Academia de Bella Artes] besuchte. Er begann sein Studium bei Fernando Álvarez de Sotomayor y Zaragoza, dem Kurator des Museo del Prado und Lehrer von Salvador Dalí. Im Prado entdeckte er die Werke von Hieronymus Bosch (→ Hieronymus Bosch: Garten der Lüste & Versuchung) und Pieter Bruegel der Ältere (→ Pieter Bruegel der Ältere: Der Triumph des Todes) und war von ihnen tief beeindruckt.

Morgens besuchte Lam das Atelier seines konservativen Lehrers, während er abends mit jungen, nonkonformistischen Malern zusammenarbeitete. Jeden Tag, wenn er San Fernando verließ, machte er sich auf den Weg zur Alhambra, wo er gleichzeitig Kurse an der von Julio Moisés gegründeten „Escuela Libre de Paijase“ besuchte. Diese Kurse waren dank des Einflusses der nonkonformistischen Maler Benjamin Palencia, Francisco Bores, José Moreno Villa und Salvador Dalí deutlich experimenteller angelegt.

Familie

  1. ∞ Eva Piriz: 1929–1931.Das Paar lernte sich 1927 kennen. Wifredo Lams erste Ehefrau als auch ihr kleiner Sohn Wilfredo Victor starben 1931 an der Tuberkulose. Es ist wahrscheinlich, dass diese persönliche Tragödie zum düsteren Charakter von Lams frühem Werk der 1930er Jahre beitrug.
  2. ∞ Helena Holzer: 1944–Mai 1951. Das Paar lebte ab 1948 getrennt und ließ sich 1951 scheiden. Helena verfasste unter dem Namen Helena Benitez ein Buch über die Zeit mit Wifredo Lam.
  3. ∞ Lou Laurin (6.5.1934–29.7.2012): Die schwedisch-französische Malerin Lou Laurin kam im Alter von 20 Jahren nach Paris und lernte 1955 Wifredo Lam kennen. Das Paar heiratete, Lam erwarb 1961 ein Haus in Albissola Marina an der Nordwestküste Italiens. Dort ließ er sich mit Lou Laurin nieder.

Das Paar hat drei Söhne:

  • Eskil,
  • Timour (*1962) und
  • Stéphan Jonas

Werke

Frühe Gemälde

Wifredo Lams frühe Gemälde standen in der spanischen Tradition der Moderne. Bald jedoch wurde sein Werk einfacher und dekorativer. Obwohl Lams Abneigung gegen den akademischen Konservatismus anhielt, prägte die Zeit in Spanien seine technische Entwicklung entschieden. In Madrid begann er, eine primitive Ästhetik und die westlichen Traditionen des Komponierend miteinander zu verschmelzen.

„In Spanien lernte ich die Malerei wirklich zu schätzen. Als ich dort ankam, hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass mir alles gehörte […] Spanien gab mir die Kraft und die Struktur für meine Malerei.“1

Lams Gemälde der Landschaft und Wohnhäuser von Cuenca, die während des Sommers 1927 entstanden, zeigen bereits eine Suche nach Neuem. Kurz darauf wurde unter den Avantgarde-Künstlern Madrids erstmals über den Surrealismus diskutiert. Der Maler Benjamin Palencia war aus Paris zurückgekehrt, wo er Pablo Picasso, Georges Braque und Henri Matisse getroffen hatte, war der Erste, der surrealistisch inspirierte Werke vorstellte. Lam, stets neugierig auf die neuesten Tendenzen in der Kunst, versuchte sich erstmals im automatischen Schreiben. In dieser Zeit entdeckte er auch die Masken und Skulpturen aus Guinea und dem Kongo, die im Archäologischen Museum Madrids ausgestellt waren.

1929 fand im Botanischen Garten Madrids eine große Ausstellung spanischer Maler statt, die in Paris lebten. Darunter waren die Bildhauer Apeles Fenosa und Pablo Gargello sowie die Maler Juan Gris, Manuel Angel Ortiz, Pablo Picasso und Pedro Pruna. Was den jungen Maler vor allem beeindruckte, war die formale Energie, die von Picassos Werken ausging. Laut Lam war diese Offenbarung sowohl malerischer als auch politischer Natur. Sie weckte in ihm den Wunsch, in seinen eigenen Gemälden „ein allgemeines demokratisches Anliegen […] für alle Menschen“ zu vermitteln. Diese Aussage spiegelt zweifellos wider, wie der Maler die alarmierende soziale Situation in Kuba unter Machados Diktatur empfand. Im Kreise seiner Freunde Muñoz und Cordón, die ihn mit den Ideen des Marxismus bekannt machten, entwickelte Lam ein neues politisches Bewusstsein. Außerdem besuchte er regelmäßig die Sonntagstreffen einer Gruppe von Lateinamerikanern, die der Hispanic American University Federation angehörten.

Seine Freunde verschafften ihm Porträtaufträge, damit er Geld zum Essen hatte. Doch Lam arbeitete wenig und verbrachte seine Zeit lieber mit Lesen, insbesondere mit historischen und ethnografischen Büchern über Afrika und die Sklaverei. Um 1931 hatte der Künstler wieder Tritt gefasst. Zu den Entdeckungen dieser Zeit zählten der latente Kubismus Paul Cézannes, der exotische Primitivismus Gauguins und der Expressionismus Franz Marcs.

In Paris setzte Lam seine Experimente mit vereinfachten geometrischen Formen und einer nicht-illusionistischen Raumgestaltung fort. „Mutter und Kind“ (1939) ist ein markantes Beispiel für Lams Abkehr von seinem früheren akademischen Stil.

Lam im Spanischen Bürgerkrieg

„Die Revolution veränderte mein Schreiben und meine Malweise.“ (Wifredo Lam)

Als im Frühjahr 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, schlug sich Wifredo Lam auf die Seite der Republikaner und nutzte sein Talent, um Plakate für das Propagandaministerium zu entwerfen. Lam wurde 1937 zur Verteidigung Madrids eingezogen. Sein Freund, der Chemiker Faustino Cordón, vermittelte ihm eine Stelle in einer Waffenfabrik, wo er mit der Montage von Panzerabwehrbomben beauftragt wurde.

Nach sechs Monaten intensiver Arbeit mit Sprengstoffen erlitt Lam eine Vergiftung durch den Kontakt mit den chemischen Materialien. Im März 1937 wurde er zur Genesung in das Sanatorium von Caldes de Montbui, nördlich von Barcelona, geschickt. Dort lernte er den katalanischen Künstler Manuel Martínez Hugué kennen, genannt Manolo. Dieser schrieb Lam ein Empfehlungsschreiben für Pablo Picasso, das seine Freundschaft mit dem berühmten Spanier begründete. Lam hatte die Werke Picassos ein Jahr zuvor in einer Ausstellung in Madrid entdeckt; sie beeindruckten und inspirierten sein Werk. Lam gewann schnell die Unterstützung Picassos, der ihn ab September 1937 mit vielen führenden Künstlern von Barcelona  bekannt machte.

Hier vollzog Lam schließlich den endgültigen Bruch mit dem Akademismus:

„Ich glaube, ich habe etwa zwei- oder dreihundert Leinwände bemalt, die ich nie wiedergesehen habe, weil ich sie nach meiner Abreise einem inzwischen verstorbenen Freund geschenkt habe.“ (Wifredo Lam)

Freund und Vorbild: Pablo Picasso

Am 16. April 1938 beschloss Wifredo Lam Spanien zu verlassen. Kurz zuvor hatte er die Deutsche Helena Holzer (Holtzer), eine junge Chemikerin und Leiterin des Tuberkuloselabors im Krankenhaus Santa-Colomba kennengelernt. Er zog nach Paris, wo er Picasso in dessen Atelier besuchte:

„Meine Begegnung mit Picasso und Paris war wie ein elektrischer Schlag.“ (Wifredo Lam)

Lam war fasziniert von Picassos afrikanischer Kunstsammlung, insbesondere von einer Helmmaske des Stammes der Baule (Elfenbeinküste), einem runden Kopf mit Antilopenhörnern und Krokodilsmaul. Was ihn an Picassos Kunst faszinierte, war die „Präsenz der Ästhetik und des Geistes afrikanischer Kunst“ (→ Picasso war ein Afrikaner!). Die damals als „Negerkunst“ bezeichneten Expoante waren für Lam eine Offenbarung. Sofort erkannte er ihre Kraft und Energie sowie ihre verblüffende Unabhängigkeit vom Realen. Als Experte und Vermittler wurde ihm Michel Leiris zur Seite gestellt.

Picasso führte den Kubaner in seinen Freundeskreis ein, darunter Fernand Léger, Henri Matisse, Georges Braque, Nusch and Paul Eluard, Tristan Tzara und dem katalanischen Kunstkritiker Sebastien Gasch. Über Leiris traf Lam Joan Miró, André Masson, Oscar Domínguez und Victor Brauner, André Breton und Jacqueline Lamba (Herbst 1938). Auf einer Reise nach Mexiko im selben Jahr wohnte Lam bei Frida Kahlo und Diego Rivera. Anstatt von der geballten Künstlerschaft des Surrealismus eingeschüchtert und überwältigt zu sein, entzündeten die Gespräche und Begegnungen jedoch unglaubliche Energie und Kreativität:

„Ich habe Tag und Nacht gemalt, obwohl ich noch nicht bereit war, meine Werke auszustellen. In meinem kleinen Hotelzimmer stapelten sich die Bilder, und ich konnte mich sozusagen nicht mehr bewegen oder malen.“

Im Kreis der Surrealist:innen

In einem Café traf er Benjamin Péret, der in Spanien in der Division Poum gekämpft hatte, und seine Kollegin Remedios Varo sowie Yves Tanguy und Hans Bellmer, der aus Nazi-Deutschland geflohen waren. Er lernte Roberto Matta, Wolfgang Paalen, Esteban Franès, Kurt Seligmann kennen, die alle bei der von André Breton organisierten Ausstellung präkolumbianischer Kunst mit dem Titel „Mexique“ in Charles Rattons Galerie anwesend waren. Dieser Kreis von Künstler:innen und Intellektuellen kämpften ihr Leben lang gegen Rassismus, gegen jede Form von Diskriminierung, gegen alle Missstände des Kolonialsystems und alle Formen des Faschismus.

„Diese neue Welt begann in mir aufzutauchen … Ich hatte dies alles in meinem Unterbewusstsein getragen, und indem ich mir erlaubte, automatisch zu malen … begann diese seltsame Welt aus mir herauszufließen.“2

Während seiner Pariser Zeit erhielt Lams Werk eine „persönlichere“ Note. Die Themen seiner Bilder reichen von interagierenden Paaren bis zu verzweifelten Frauen und zeigen einen deutlich stärkeren afrikanischen Einfluss, der sich in den kantigen Umrissen der Figuren und der Synthese ihrer Körper zeigt. Lam malte frontale, hieratische Figuren, minimalistisch und monumental zugleich. Diese Gemälde sind totemistische Darstellungen des Verlusts und tragische Schilderungen der Mutterschaft. In ihrer formalen Schlichtheit, die bereits in Spanien ihren Anfang nahm, weisen sie unverkennbare Ähnlichkeiten mit dem Werk Picassos auf.

Picasso machte ihn auch mit dem Pariser Kunsthändler Pierre Loeb bekannt, der im Juni/Juli 1939 Lams erste Ausstellung in der Galerie Pierre Loeb organisierte. Die Schau wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Im selben Jahr stellten Picasso und Lam auch gemeinsam in den Perls Galleries in New York aus.

Wifredo Lam im Zweiten Weltkrieg: Flucht

Im Juni 1940 floh Wilfredo Lam vor der Deutschen Armee zuerst zu Fuß in den Süden. Der am 22. Juni von General Pétain unterzeichnete Waffenstillstand veranlasste ihn, nach Marseille weiterzureisen, wo über hundert dem Nazi-Regime feindlich gesinnte Intellektuelle versuchten, das Land zu verlassen, darunter viele seiner surrealistischen Freund:innen. Nach ihrer Freilassung aus dem Camp Gurs (in den Pyrenäen) schloss sich Helena ihm dort an. Diese Künstler:innen erhielten Unterstützung vom Emergency Rescue Committee unter der Leitung von Varian Fry und Daniel Benedite, das Lam eine kleine Rente zusprach.

Treffen mit Aimé Césaire auf Martinique (1941)

Am 25. März 1941 brach der kleine Dampfer „Capitain Paul-Lemerle“ in Richtung Westen auf. An Bord befanden sich Wifredo Lam und Helena, André Breton, Jacqueline Lamba und ihre Tochter Aube, Victor Serge, einst ein enger Weggefährte Lenins, seine Familie, Anna Seghers und 350 weitere Intellektuelle, die vom Vichy-Regime und der deutschen Polizei bedroht wurden. Am 24. April kamen sie auf Martinique an, wo ihnen ein eisiger Empfang bereitet wurde. Da sie vom Vichy-Regime als linksgerichtete „Deserteure“ betrachtet wurden, wurden sie sofort im Lazarett interniert.

Jacqueline, Aube und André Breton durften sich jedoch in Fort-de-France niederlassen, wo sie bald auf André Masson und seine Familie trafen, die mit einem späteren Schiff ankamen. Breton entdeckte die Zeitschrift „Tropiques“ und traf deren Gründer Suzanne und Aimé Césaire sowie René Menil; Aimé Césaire war Dichter und in der Nachkriegszeit Gründer der Négritude-Bewegung (→ Paris Noir 2: Eine Buchhandlung verändert die Welt – Présence Africaine und der Aufbruch der Négritude). Auf Martinique entdeckte Wifredo Lam die tropische Vegetation. Césaire taufte Lam „den großen Künstler der neoafrikanischen Malerei“. Suzanne und Aimé organisierten eine Lesung, die den kubanischen Maler erneut stark beeinflusste: Das „Cahier d'un retour au pays natal [Notizbuch einer Rückkehr in die Heimat]“, das Césaire 1938 geschrieben hatte, pries die Würde des Schwarzen, eine große Bestätigung seines Wesens und Genies, das „den bloßsten, direktesten Aufschrei aus den Eingeweiden des Menschen über das Elend des Schwarzen im tiefsten Herzen dieser floralen Pracht“ vereinte. Die Worte spendeten dem Künstler „großen moralischen Trost“3. Lam fand in der Karibik ein Echo für seinen Kampf gegen Ungerechtigkeit und koloniale Despotie.

Mitte Mai reiste die Gruppe weiter nach Guadeloupe, Haiti, Saint Thomas und Saint-Domingo. Da nur die Familien Breton und Masson die Erlaubnis erhielten, nach New York weiterzureisen, mussten sich die Freunde trennen. Lam und Serge, die kein Visum für Mexiko erhalten hatte, gingen weiter nach Kuba.

Kuba (1941–1946)

Im August 1941, nach fünf Monaten Reise und 17-jähriger Abwesenheit, erreichte Lam seiner Heimat. Den Herbst verbrachten Remedios Varo und Benjamin Péret in Kuba. Doch seine alte Heimat hatte sich unter amerikanischem Einfluss gänzlich verändert. Wifredo Lam fühlte sich entfremdet.

Breton lobte Lams Gemälde gegenüber dem New Yorker Galeristen Pierre Matisse, der ihn unter Vertrag nahm und ihm vorschlug, seine Werke im folgenden Jahr auszustellen. Deshalb musste der Künstler ans Werk gehen. Er fand Inspiration in der kubanischen „Natur, den Traditionen der Schwarzen und die Transkulturation seiner afrikanischen und katholischen Religionen. Und so begann ich, meine Bilder auf das Afrikanische auszurichten.“4

Dies brachte eine rasche Entwicklung von Lams Stil und Aussagen mit sich. Ausgehend von seinem Studium tropischer Pflanzen und seiner Vertrautheit mit der afrokubanischen Kultur bevölkert seine Gemälde nun eine hybride Figur, die teils menschlich, teils tierisch und teils pflanzlich ist. Er verband surrealistische und kubistische Stilmerkmale mit Motiven und Symbolen der Santería.

Lam erneuerte seine Verbindung zu den Mythen und Ritualen seiner Patin Antonica Wilson. Seine Schwester Eloísa, die sich bestens mit den Kulten der Santería auskannte, organisierte Initiationszeremonien und zeremonielle Tänze zum Klang der Trommeln. Lydia Cabrera, Anthropologin und Spezialistin für afrokubanische Kultur, durchkämmte damals die Insel, um die Lieder und Legenden der ersten Schwarzen auf Kuba zu sammeln und zu bewahren. Alejo und Lilian Carpentier wurden die engsten Freunde des Paares. Cabrera, Carpentier und Guillén waren davon überzeugt, dass die deportierte Religion afrikanischer Götter eines der Gründungselemente der kulturellen Identität Kubas und der Ursprung des „magischen Realismus“ (Carpentier, um 1940) war und der die kulturelle Besonderheit der hispanoamerikanischen Welt definiert. Sie sah die Wurzeln tief im Primitiven, in Folklore und Mythen. Das Wunderbare, das ihre Kultur durchdringt, stimmte überein mit dem Wunderbaren, das der Surrealismus übernahm. Lam, der seine eigene enge Beziehung zum Unbewussten gepflegt hatte, nahm seine Verbindung zu den Praktiken der Seher und Magier wieder auf. Und seine Figuren sind größtenteils von den Orishas (Naturgöttern der Yoruba-Religion) inspiriert.

Der Dschungel (1943)

1943 malte Wifredo Lam sein bekanntestes Werk, „Der Dschungel [La Jungla]“ (MoMA, New York). Das Bild zeigt vier Figuren mit maskenartigen Köpfen, die halb aus der dichten tropischen Vegetation hervortreten, gemalt in seinem reifen Stil. Ein Freund verglich die Bedeutung von „Dschungel“ mit Paolo Uccellos Entdeckung der Perspektive.

Noch im Entstehungsjahr wurde es in einer Ausstellung in der Pierre Matisse Gallery in New York gezeigt, wo es eine Kontroverse auslöste. Das Gemälde stellte die Spannung zwischen der Moderne und der Lebendigkeit und Energie der afrikanischen Kultur dar und wurde schließlich vom Museum of Modern Art in New York angekauft. Es wird oft mit Picassos Gemälde „Guernica“ (Museo Reina Sofía, Madrid → Picasso: Guernica) verglichen.

Ein weiteres Werk Picassos, das mit „Der Dschungel [La Jungla]“ verglichen wurde, ist „Les Demoiselles d’Avignon“. Obwohl diese beiden Gemälde 36 Jahre auseinanderliegen und unterschiedliche kulturelle Kontexte haben, stellen sie beide Frauen in einem sexualisierten Kontext dar und enthalten beide primitivistische und kubistische Elemente in ihren Formen.

1944 heirateten Helena Holzer und Wifredo Lam.5 Das Paar ließ sich 1951 scheiden.

Haiti

Im Jahr 1945 wurden Wifredo und Helena von Pierre Mabille, kurz zuvor zum Kulturattaché des Freien Frankreichs ernannt, nach Haiti eingeladen. Ende Oktober kamen sie an und hatten genug Gemälde im Gepäck, um eine Ausstellung aufzubauen. Bald gesellte sich André Breton zu ihnen, der in Begleitung seiner neuen Frau Elisa Claro zu einer Konferenzreihe kam. Nach den Feierlichkeiten vom 7. Dezember organisierten mehrere haitianische Künstler und Schriftsteller jeden Freitag ein Treffen im Café Savoy, an dem sie während ihres gesamten Aufenthalts teilnahmen.

Im Januar 1946 begann die Lam-Ausstellung in Port-au-Prince im Centre d'art. Dem Katalog vorangestellt ist Bretons „La nuit en Haïti“. Die Ausstellung wurde ein Triumph für Wifredo Lam und hatte großen Einfluss auf die haitianische Kunst.

1945/46 verbrachten Lam und André Breton vier Monate in Haiti. Gemeinsam mit  Mabille nahmen sie an acht Voodoo-Zeremonien teil, einer Religion, die seit 1935 per Dekret verboten war. Der Maler war von Bembé (die Feier der Loas-Religion mit Trommeln, Liedern und Tänzen zu Ehren von Yemaya) fasziniert. Er fand die „wilden“ und „wundersamen“ Besitztümer viel beeindruckender als in Kuba; Breton war hingegen weniger begeistert.

Anfang April 1946 kehrten alle nach Kuba zurück, um der Eröffnung von seiner erster Einzelausstellung im Lyceum in Havanna teilzunehmen, wo Mabille einen Vortrag hielt. Trotz seiner wachsenden Anerkennung konnte es Lam kaum erwarten, nach der Befreiung Europas zurückzukehren. Da er nur zwei Monate in Havanna verbrachte, malte er in diesem Jahr sehr wenig.

Paris

Im Jahr 1946 lernte Wifredo Lam in Paris Asger Jorn kennen, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Jorn hatte die Gruppe CoBrA gegründet, die sich für mehr Freiheit und Spontaneität in der Kunst mit internationalem und interdisziplinärem Fokus einsetzte. Die Kunst soll sozial engagiert, aber keine künstlerische Forschung mit politischem Engagement sein. Dieser Ansatz sprach Wifredo Lam an, da er keiner bestimmten Partei angehören wollte. Dies war in der Nachkriegszeit allzu oft mit der Frage verbunden, was in der Kunst erlaubt ist und was nicht.

Das Nachkriegs-Paris enttäuschte Wifredo Lam, da die ideologische Grenze nun u.a. zwischen Pablo Picasso (Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs) und André Breton verlief. Der Surrealismus war in alle Winde zerstreut und wurde als „konterrevolutionärer Idealismus“ bezeichnet.

In Kuba erweist sich das Jahr 1950 als besonders produktiv, und Lam versucht sich sogar in Keramik.6 Nach der Veröffentlichung der Monografie von Ortíz beschloss die kubanische Regierung, Lam ein Stipendium anzubieten, damit er die Entwicklung der modernen Kunst in den USA, Frankreich und Italien studieren und ins Ausland reisen konnte.

Nachdem Lam einige Jahre zwischen Kuba, New York und Frankreich verbracht hatte, ließ er sich 1952 wieder in Paris nieder. Lam wurde eingeladen, 1954 mehrere Gemälde in der Galerie „A l'étoile scellée“ zu präsentieren, zusammengestellt unter der künstlerischen Leitung von André Breton. Die dem Surrealismus gewidmete Gruppenausstellung vereinte Werke von Max Ernst, Tanguy, Man Ray, Toyen, Paalen und Lam. Kurz darauf traf Lam Picasso in Mougins, wo dieser ihn zu einem Stierkampf einlud. Nach seiner Rückkehr nach Paris nahm er an mehreren surrealistischen Treffen im Pariser Café am Place Blanche teil. Lam blieb jedoch sowohl in seinem künstlerischen als auch in seinem politischen Engagement unabhängig.

Im Juni 1954 traf Wifredo Lam anlässlich einer Ausstellung lateinamerikanischer Künstler:innen in der „Galerie du Dragon“ die junge schwedische Künstlerin Lou Laurin. Im September reiste er nach Schweden und nahm an der Kollektivausstellung „Imaginisterna“ in der „Galerie Colibri“ teil, an der auch andere mit der CoBrA-Bewegung verbundene Künstler zu sehen waren. Lam nahm sich die Zeit, das Land zu besuchen, insbesondere Falun, wo Lou Laurin ihn mit ihrer Familie bekannt machte.

Italien

Wifredo Lam kaufte 1961 ein Haus in Albissola Marina an der Nordwestküste Italiens und richtete sich ein Atelier ein. Dort ließ er sich mit Lou Laurin nieder und sie bekamen drei Söhne, Eskil, Timour und Jonas. Hier entstanden auch seine keramischen Arbeiten für die Ceramiche San Giorgio in Albissola Marina.

Auszeichungen

Wifredo Lam erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

  • April 1951: Lam gewann den ersten Preis im „Salon Nacional de pintura y escultura y Grabado [Nationalen Salon für Malerei, Skulptur und Gravur]“ in Havanna für sein Gemälde „Komposition“.
  • 1964: Guggenheim International Award

Tod

Wifredo Lam starb am 11. September 1982 in Paris. Er wurde auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise eingeäschert. Auf seinen Wunsch flog seine Familie die Asche nach Kuba, um sie in kubanischer Erde zu betten.

Am 8. Dezember 1982 fand in Havanna ein Staatsbegräbnis statt, bei dem seine Frau Lou Laurin-Lam in Anwesenheit von Fidel Castro die Asche von Wifredo Lam auf dem Friedhof Colón beisetzte.