„Gothic Modern. Von Munch zu Kollwitz“ zeigt Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, die von der europäischen Kunst des Mittelalters und der nordischen Renaissance inspiriert ist. Damit beleuchtet die Ausstellung in der Albertina, Wien, ein in der Kunstgeschichte bisher wenig beachtetes Phänomen – nämlich wieviel die Moderne Kunst den Alten Meistern verdankt – und untersucht, wie es sich in den Werken namhafter Künstler:innen manifestiert.
Österreich | Wien:
Albertina
19.9.2025 – 11.1.2026
Die Kunst der Gotik und der Renaissance lieferte den Künstlern und Künstlerinnen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Material und Möglichkeiten, sich mit grundlegenden menschlichen Gefühlen wie Geburt, Tod, Leiden und Sexualität auseinanderzusetzen. In der Albertina finden sich daher im Herbst 2025 Bilder zu Tod und Ritualen bis hin zu Sexualität und Aufklärung.
„Gothic Modern. Vom Dunkel zum Licht“ bietet einen neuen Zugang zur modernen Kunst. Die Ausstellung konzentriert sich auf die bisher unerzählte Geschichte der Neuerfindung und Wiederbelebung der Gotik durch einige Künstler:innen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Präsenz einer mittelalterlichen und gotischen Vergangenheit regte u.a. die nordischen Künstler:innen zu einer künstlerischen Erneuerung an und diversifizierte die Art und Weise, wie Kunst geschaffen wurde. Neben der Malerei ließen sich die Künstler:innen auch von Drucktechniken, Stein- und Holzschnitzereien, Möbeln und Kunstgegenständen inspirieren. In der Ausstellung werden Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Frührenaissance modernen Werken gegenübergestellt, die von diesen inspiriert wurden.
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war - wie unsere Zeit - geprägt von raschem Wandel, technologischer Entwicklung, gesellschaftlichen Veränderungen, dem Zusammenbruch von Imperien und dem Ausbruch von Kriegen. Künstler:innen wandten sich der mittelalterlichen und frühen deutschen Kunst zu, um Wege zu finden, ihre modernen Erfahrungen auszudrücken. Die Ausstellung untersucht Vorstellungen von Individuum, Geschlecht und transnationaler Gemeinschaft, die mit dem Dunklen, Emotionalen und Unheimlichen verwoben sind. Diese Themen wurden vor 100 Jahren intensiv reflektiert und haben bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren.
Künstler:innen verwenden heute noch eine Vielzahl von Drucktechniken, von denen viele ihren Ursprung in der Kunst des Mittelalters und der Frührenaissance haben. Im späten 19. Jahrhundert wurden diese Druckgrafiken von Künstler:innen des späten 15. und 16. Jahrhunderts, darunter Albrecht Dürer und Lucas Cranach der Ältere, wiederentdeckt und im Europa der Jahrhundertwende als Kopien und Illustrationen in Zeitschriften und Büchern weit verbreitet. Diese Bilder durchdrangen auch die mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungen von Kunst und Kultur. Moderne Künstler:innen erlernten die Techniken des Holz- und Metallschnitts und schufen ihre eigenen Interpretationen dieser dramatischen Bildsprache, die trotz ihres Alters von mehreren Jahrhunderten erfrischend neu wirkte.
Künstlerische Pilgerreisen in die Vergangenheit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verstärkten die Vorstellung, dass das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin heilig sei. Diese Reisen durch Zeit und Raum waren auch Reisen der spirituellen Erneuerung und Transformation, die zu einer Neuinterpretation der Rolle des Künstlers führten. Diese neue Identität spiegelt sich in vereinfachten und ernsthaften Selbstporträts und Porträts von Menschen in der Rolle eines Mönchs oder Priesters wider. Künstler:innen sehnten sich nach einer neu interpretierten Kreativität, die auf neuen religiösen Praktiken basierte, und suchten nach einer langsameren und tieferen Auffassung von Kunst, die eine authentische und einfache Lebensweise einschloss.
Die Verbindung von Liebe und Leid ist ein immer wiederkehrendes Thema in Film, Musik, Literatur und Kunst. In der biblischen Geschichte werden Adam und Eva als die ersten vollkommenen Menschen beschrieben, die einander lieben, aber der Versuchung erliegen und aus dem Paradies vertrieben werden. In den Interpretationen moderner Künstler erhält diese etablierte Bildsprache neue Bedeutungen als kraftvolle Reflexionen über Sexualität, konfliktreiche menschliche Beziehungen und die Unmöglichkeit der Liebe in der modernen Welt.
Im Mittelalter waren Missernten, Naturkatastrophen und Krankheiten eine ständige Bedrohung für das Überleben der Menschen.1 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert führten Industrialisierung und technologische Entwicklungen zu einer Auseinandersetzung mit dem ungeklärten Verhältnis des Menschen zu einem sich wandelnden Naturbegriff. Moderne Reaktionen auf ein gotisches Naturverständnis interpretierten die Natur als Vehikel unheimlicher Kräfte, die zwar verborgen waren, aber auch in der modernen Welt ihre Macht behielten.
Im späten 19. Jahrhundert lösten die raschen Veränderungen und Traumata in der Gesellschaft sowie der Zerfall der miteinander verbundenen Werte von Ort und Gemeinschaft eine Sehnsucht nach einer gemeinschaftlicheren Lebensweise aus. Die Vergangenheit diente als Resonanzboden für utopische Visionen einer Neugestaltung der Gegenwart. Die Wiederbelebung der Themen, Haltungen und Praktiken der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst wurde als Möglichkeit gesehen, nicht nur die Kunst, sondern auch die Gesellschaft zu reformieren. Die Idee, dass Kunst und Leben miteinander verwoben sind, verband mittelalterliche Handwerkstraditionen mit einem frischen, modernen Ansatz für vernetzte Orte der Kreativität und Gemeinschaft.
Mittelalterliche Kunstwerke waren oft mit religiösen Praktiken verbunden, doch die Künstler der Moderne fanden in ihnen dauerhafte und universelle Themen. Sie transformierten die etablierte Bildsprache und verwendeten narrative und stilistische Elemente der gotischen Kunst auf subjektive und eigenwillige Weise, die die Werke in der Gegenwart verankerte. Die Kunst der anonymen Handwerker des Mittelalters und der Künstler der Frührenaissance wirkte vielschichtig und vergeistigt. Sie ermöglichte den Ausdruck starker Emotionen und die Reflexion existentieller Probleme, Fragen der Zugehörigkeit, des Andersseins und der Einsamkeit, der Melancholie und der Angst.
Der Totentanz, auch Danse Macabre oder Totentanz genannt, ist ein zentrales Bildmotiv, das moderne Künstler:innen aus der Tradition des Mittelalters und der Frührenaissance übernommen haben. Das Thema ist ein allegorischer „Tanz“ der Lebenden mit dem Tod, der als Skelett dargestellt wird. In der gotischen Bildsprache führen die Skelette die Lebenden zu einem Tanz an, der mal kraftvoll, mal sanft ist. In modernen Interpretationen sind Schrecken und Einsamkeit stärker ausgeprägt, aber oft spiegeln sie auch einen Sinn für schwarzen Humor wider und werden zu einem Brennglas für die Schattenseiten moderner sozialer Realitäten.
Prophezeiungen, apokalyptische Themen und Offenbarungen spielten in der gotischen Kunst eine zentrale Rolle. In der turbulenten und sich rasch modernisierenden Welt des frühen 20. Jahrhunderts boten diese Bilder der Vergangenheit eine Möglichkeit, mit dem schwindenden Glauben des modernen Menschen und den dunklen Mächten und unterdrückten Emotionen in seinem Inneren umzugehen. Der Erste Weltkrieg war eine globale Katastrophe, die zeigte, wie real die Bedrohungen waren. Aber in den zerstörerischen Kräften lag auch die Möglichkeit eines Neuanfangs, der Erleuchtung und des Erwachens.
Joseph Alanen, Hans Baldung "Grien", Ernst Barlach, Max Beckmann, Karl Bennewitz von Löfen, Fritz Boehle, Dirk Bouts, Arnold Böcklin, Gustav Carus, Lovis Corinth, Lucas Cranach der Ältere, Otto Dix, Albrecht Dürer, James Ensor, Lyonel Feininger, Akseli Gallen-Kallela, Matthias Grünewald, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Theodor Kittelsen, Max Klinger, Käthe Kollwitz, Georges Lacombe, Eugène Laermans, Théophile Lybaert, Karel Masek, Constantin Meunier, Georges Minne, Paula Modersohn-Becker, Edvard Munch, Ejnar Nielsen, Emil Nolde, Karl Nordström, Prinz Eugen, Arthur Roessler, Tyko Sallinen, Otto Rudolf Schatz, Helene Schjerfbeck, Sascha Schneider, Hugo Simberg, Max Slevogt, Agnes Slott-Möller, Harald Slott-Møller, Gustav Adolph Spangenberg, Carl Spitzweg, Marianne Stokes, Henrik Sørensen, Hans Thoma, Gustave van de Woestyne, Vincent van Gogh, Emanuel Vigeland, Gustav Vigeland.
„Gotische Moderne. Von der Dunkelheit zum Licht“ wurde von Anna-Maria von Bonsdorff, Ateneum Art Museum, Finnische Nationalgalerie, kuratiert. Die Ausstellungsarchitektur stammt von Osmo Leppälä. Die Ausstellung zeigt neben Gemälden und Grafiken auch Objekte, Skulpturen und Möbel.
Weitere Stationen der Ausstellung sind das Norwegische Nationalmuseum in Oslo und die Albertina in Wien, wo sie von Vibeke Waallann Hansen und Cynthia Osiecki (Kuratorinnen, Nationalmuseum, Norwegen) bzw. Ralph Gleis (Direktor der Albertina) kuratiert wird.
Die Ausstellung basiert auf einem internationalen Forschungsprojekt, das das Ateneum Art Museum 2018 gemeinsam mit Professorin Juliet Simpson (Coventry University) ins Leben gerufen hat. Nach dem Ateneum wird die Ausstellung im Nasjonalmuseet in Oslo und in der Albertina in Wien zu sehen sein. Professorin Juliet Simpson hat als Gastkuratorin das Forschungskonzept geleitet. Das kuratorische Team der Ausstellung besteht aus Anna-Maria von Bonsdorff (Direktorin, Ateneum Art Museum), Vibeke Waallann Hansen und Cynthia Osiecki (Kuratorinnen, Nationalmuseum, Norwegen) sowie Ralph Gleis (Direktor, Alte Nationalgalerie).
Anna-Maria von Bonsdorff und Juliet Simpson (Hg. englischer und norwegischer Katalog)
Katja Ikäläinen (Hg. englischer Katalog)
Hanne Selkokari (Hg. finnischer Katalog)
Mit Beiträgen von Anna-Maria von Bonsdorff, Ralph Gleis, Vibeke Waallann Hansen, Kjartan Hauglid, Timo Huusko, Stephan Kuhn, Marja Lahelma, Jeanne Nuechterlein, Riitta Ojanperä, Cynthia Osiecki, Juliet Simpson und J. de Smet
ISBN 978-3-7774-4392-8 (Englisch/Norwegisch)
Hirmer Publishers, der University of Chicago Press (USA und Kanada) und Thames & Hudson (Rest der Welt)