Wien | Albertina: Gothic Modern Von Munch zu Kollwitz | 2025

Gothic Modern 2025 in Wien, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
„Gothic Modern. Von Munch zu Kollwitz“ zeigt Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, die von der europäischen Kunst des Mittelalters und der nordischen Renaissance inspiriert ist. Damit beleuchtet die Ausstellung in der Albertina, Wien, ein in der Kunstgeschichte bisher wenig beachtetes Phänomen – nämlich wieviel die Moderne Kunst den Alten Meistern verdankt – und untersucht, wie es sich in den Werken namhafter Künstler:innen manifestiert.
Gothic Modern. Munch – Beckmann – Kollwitz
Österreich | Wien: Albertina
19.9.2025 – 11.1.2026
- Edward Burne-Jones in Gothic Modern, Albertina 2025 Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Gothic Modern in Wien 2025
Ein rauchendes Skelett von Vincent van Gogh begrüßt die Albertina-Besucher:innen bereits in der Eingangshalle. Unter dem Titel „Gothic Modern. Munch - Beckmann - Kollwitz“ bietet die große Herbst-Ausstellung nicht weniger einen neuen Zugang zur Kunst der Moderne. Hatten sich die Kunstschaffenden nicht das Wort Avantgarde auf ihre Fahnen geschrieben? Waren sie nicht gegen die akademische Ausbildung, gegen traditionelle Themenfindungen und gegen konservative Künstlervereine (samt Auswahlprozessen) angetreten? Die erste kuratierte Ausstellung von Generaldirektor Ralph Gleis überrascht mit der Verbindung von Mittelalter resp. Frührenaissance mit der Kunst der Moderne: Die Schau konzentriert sich auf die bisher unerzählte Geschichte der Neuerfindung und Wiederbelebung der Kunst des Mittelalters durch bedeutende Künstler:innen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Vor allem sind hier die internationalen Anhänger:innen des Symbolismus aber auch des Expressionismus zu nennen.
Die Präsenz einer vormodernen Vergangenheit regte nordische wie mitteleuropäische Künstler:innen zu einer Revolution nach hinten an. Man könnte fast meinen, es wurde modern, was alt aussah - und bei manchen Exponaten kann man sich wirklich nicht sicher sein, ob sie in der Gotik bzw. der Frührenaissance oder im 20. Jahrhundert entstanden sind. Neben Tafelbildern holten sich Künstler:innen auch von Drucktechniken, Stein- und Holzschnitzereien, Glasgemälden, Möbeln und Kunstgegenständen Inspiration.
In der Albertina werden Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Frührenaissance modernen Werken auf sinnfällige Weise einander gegenübergestellt, um Vorbild und Nachbild, um Nähe und Distanz erfahrbar zu machen. Doch Generaldirektor Ralph Gleis begnügt sich nicht mit einem formalen Spiel vergleichbarer Lösungen, sondern zeigt, wie die Kunst der Gotik und der frühen Renaissance den Künstler:innen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Material und Möglichkeiten lieferte, sich mit grundlegenden menschlichen Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Ausstellung untersucht Vorstellungen von Individuum, Geschlecht und Natur, von Liebe, Schmerz und Tod, die mit dem Dunklen, Emotionalen und Unheimlichen verwoben sind. Diese Themen wurden vor 100 Jahren intensiv reflektiert und haben bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren.
Da die Ausstellung bereits in Finnland und Schweden Station hatte (und ursprünglich für Berlin konzipiert war), war es nötig, sie in weiten Teilen neu zu konzipieren. Co-Kuratorin Julia Zaunbauer, assistiert durch Nina Eisterer und Lydia Eder, gelang eine Schau, die ausgewählte Blätter des Spätmittelalters aus der eigenen Sammlung mit kostbaren Exponanten aus Wien verbindet, darunter beispielsweise ein Fassadenriss aus dem Kupferstichkabinett der Akademie der Bildenden Künste.
Künstler und Künstlerinnen entdeckten in den Museen und Kirchen besonders Kunstwerke des späten Mittelalters. Zeitgleich wandte sich auch die Kunstwissenschaft dem vermeintlich „dunklen Epoche“ zu und machte durch Artikel und Reproduktionen in Kunstzeitschriften und -journalen wie „PAN“ die sogenannten „Primitiven“ populär. Bei einigen Kunstschaffenden lässt sich eine Kunstpilgerschaft zu Orten mit legendären, oft sakralen Kunstschätzen nachweisen. Albertina-Direktor Ralph Gleis macht auf Arnold Böcklin und Max Beckmann aufmerksam, die Matthias Grünewalds Isenheimer Altar in Colmar aufsuchten, bzw. auf Fernand Khnopff, Ernst Ludwig Kirchner oder Edvard Munch, die sich von ehemals florierenden Hansestädten mit ihrem mittelalterlichen Gepräge wie Lübeck, Köln oder Brügge fasziniert zeigten.1
- Marianne Stokes, Melisande, Detail, um 1895 Tempera auf Leinwand, 87 × 52 cm (Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv. WRM 3623)
In zehn Kapiteln von der Gotik zur Moderne
„Gothic Modern“ ist ins Dunkel gehüllt. Dies ist zweifellos den wertvollen Arbeiten auf Papier geschuldet, die bei maximal 50 Lux ausgestellt werden dürfen. Dennoch erinnert die Dunkelheit an das Diktum vom vermeintlich „dunklen“ Mittelalter, auf das die „Erleuchtung“ der Renaissance folgte.
Edward Burne-Jones' „Anbetung der Könige“ von 1888/1900 führt als erstes, monumentales Werk in die Ausstellung ein. Der Entwurf für diese Tapisserie entstand bereits 1888; die Umsetzung erfolgte allerdings erst 1900. Der Brite war ein Hauptvertreter der Arts and Craft-Bewegung, entwickelte er doch ab den 1860ern eine neue, an gotische Exponate erinnernde Ästhetik, mit der er Kunst, Poesie und Kunsthandwerk zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen wollte. Brune-Jones träumte sich in mittelalterliche Epen voller Ritter, Helden und Jungfrauen; viele seiner Bildfindungen basieren auf Mythen, Legenden und der Bibel. Tausende kamen, um seine Kunst, die unter dem Schlagwort "gothic revival" diskutiert wurde, zu erleben. Da sich Burne-Jones nicht nur mit Ölfarben ausdrückte, sondern in einer Vielzahl an Medien (darunter Tapisserien, Glasfenster), kann man in ihm einen radikalen Multimedia-Künstler sehen. Über allem stand der feste Glaube an die Erlöserkraft der Kunst! 1889 feierte er auf der Pariser Weltausstellung großen Erfolg, der ihn zu einem Pionier des Symbolismus werden ließ.
Edward Burne-Jones, das "gothic revival" und die Arts and Crafts-Bewegung wurden in den 1890er Jahren europaweit rezipiert. So steht neben der Tapisserie ein geschnitzter Notenschrank (1896) von Akseli Gallen-Kallela und seiner Ehefrau Mary Gallén. Gemeinsam planten und realisierten sie ihr gemeinsames Haus, das die Idee des Gesamtkunstwerks aufnahm.
Künstler:innen verwenden heute noch eine Vielzahl von Drucktechniken, von denen viele ihren Ursprung in der Kunst des Mittelalters und der Frührenaissance haben. Im späten 19. Jahrhundert wurden diese Druckgrafiken von Künstler:innen des späten 15. und 16. Jahrhunderts, darunter Albrecht Dürer und Lucas Cranach der Ältere, wiederentdeckt und im Europa der Jahrhundertwende als Kopien und Illustrationen in Zeitschriften und Büchern weit verbreitet. Diese Bilder durchdrangen auch die mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungen von Kunst und Kultur. Moderne Künstler:innen erlernten die Techniken des Holz- und Metallschnitts und schufen ihre eigenen Interpretationen dieser dramatischen Bildsprache, die trotz ihres Alters von mehreren Jahrhunderten erfrischend neu wirkte.
Wege zur Gotik
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verstärkten künstlerische Pilgerreisen in die Vergangenheit die Vorstellung, dass das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin heilig sei - und Künstler im Sinne von Nietzsches Übermensch überhöhte Persönlichkeiten mit visionärer Gabe. Diese Reisen durch Zeit und Raum waren auch Reisen der spirituellen Erneuerung und Transformation, die zu einer Neuinterpretation der Rolle des Künstlers führten. Diese neue Identität spiegelt sich in vereinfachten und ernsthaften Selbstporträts und Porträts von Menschen in der Rolle eines Mönchs oder Priesters wider. Künstler:innen sehnten sich nach einer neu interpretierten Kreativität, die auf neuen religiösen Praktiken basierte, und suchten nach einer langsameren und tieferen Auffassung von Kunst, die eine authentische und einfache Lebensweise einschloss.
- Otto Dix, Selbstporträt, 1913, Öl auf Papier auf Pappe, 36 × 30 cm (The Ömer Koç Collection) & Augsburger Meister, Bildnis eines jungen Mannes mit roter Kappe, um 1510/1520, Schwarze, braune, rote und gelbe Kreide, partiell Pinsel mit schwarzer Tinte, weiß gehöht, auf beige präpariertem Papier, 22,3 × 15,7 cm (Albertina, Wien, Inv. 6660) in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Suche nach dem Ursprünglichen
Zurück zu einem „einfachen“ Leben schien vielen Künstler:innen um 1900 ein gutes Mittel, um auf Industrialisierung, Verstädterung und Dekadenz zu reagieren. Der Flame Gustave Van de Woestyne zog sich nach Sint-Martens-Latem zurück, und Paula Modersohn-Becker fand zwischen Paris und Worpswede ihren Stil. Dass sie sich beide mit dem bäuerlichen Leben beschäftigten, verbindet sie mit Albrecht Dürer, der bereits in den 1510er Jahren mit „Der Marktbauer und sein Weib“ (1519) und „Das tanzende Bauernpaar“ (1514) diesen Weg beschritten hatte.
Vor allem Paula Modersohn-Becker überzeugt mit ihrem harschen Realismus und einfühlsamen Schilderungen der bäuerlichen Gesellschaft. Kinder und alte Menschen dienten ihr als Modelle, da die Erwachsenen sich ihrer Erwerbsarbeit widmen mussten. Dennoch vermitteln die Bilder den Ehrfurcht der Künstlerin vor dem naturnahen Leben und den „einfachen“ Lebensbedingungen. Als Städterin wird sie die Schattenseiten der Arbeitswelt gekannt haben – so wie auch ihre Kollegin Helene Schjerfbeck in „Die Näherin (Die Arbeiterin)“ (1927) zeigt. Industrialisierung und Technisierung setzen die Künstlerinnen der Moderne das Schafehüten entgegen.
Hatte der Impressionismus noch die Transformation der Städte in urbane Zentren gefeiert und die Menschenmassen mit ihren alltäglichen Handlungen in den Blick genommen, so wendet sich diese Generation bewusst davon ab und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf das Landleben. Dass sie dabei eine rosa Brille trägt und von außen auf die Verhältnisse schaut, stört nicht. So tauchen Edvard Munch und Wilhelm Morgner ihre am Feld arbeitenden Bauern in leuchtende Farben. Den Gegensatz dazu macht die Berliner Sozialistin Käthe Kollwitz auf: In ihrem „Bauernkrieg“ thematisiert sie einen revolutionären Aufstand und kaschiert die soziale Sprengkraft ihrer künstlerischen Arbeit mit dem Verweis auf ein historisches Ereignis. An die Stelle der heroischen Historienmalerei tritt mit Kollwitz die sozial engagierte Kunst im Dienste des Arbeiterproletariats. Hatte Dürer seine Bauern noch tanzen lassen und damit Wohlbefinden und Freizeitgestaltung freier Menschen intendiert, so waren die Bauern des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Mühlen der Massenproduktion geraten.
- Munch, Morgner in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Kräfte der Natur
Im Mittelalter waren Missernten, Naturkatastrophen und Krankheiten eine ständige Bedrohung für das Überleben der Menschen.2 An der Wende zur Renaissance wurde die Natur aber auch Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Erforschung. Erst in dieser Zeit konnte Landschaft als eigenständiges Bildmotiv etabliert werden. Zu den ersten Künstlern nördlich der Alpen, die diesen Wandel einleiteten, gehört Albrecht Altdorfer. In der Sammlung der Albertina liegen seine wunderbar aquarellierten Zeichnungen, in denen er sich intensiv mit seiner natürlichen Umgebung auseinandersetzte. In „Gothic Modern“ sind drei berühmte Blätter zu sehen: „Landschaft mit Doppelfichte“, „Landschaft mit dunkler Felswand“ und „Die große Fichte“, die alle um 1520 datiert werden. Mit diesen und ähnlichen Werken beschäftigte sich der deutsche Landschaftsmaler Edmund Steppes, der knapp 400 Jahre später seinen Zeitgenoss:innen die Kunst von Grünewald und Altdorfer ans Herz legte. „In den Gatterwänden“ (1911) zeigt eine idyllische Kletterwand in den Osttiroler Karnischen Alpen. Die vom Wind zerfurchten Bäume ähneln frappant den Renaissance-Schöpfungen. Hohe, dunkle Bäume zählen im Symbolismus zu den Chiffren für Romantik, Geheimnis aber auch unheimliche Bedrohung. Seit der „Toteninsel“ von Arnold Böcklin können Bäume zum wichtigsten Bildgegenstand werden, darunter in „Tannen“ (vor 1909) von Friedrich von Khaynach, Edvard Munchs „Der Wald“ (1927) oder Otto Rudolf Schatz‘ „Wettertannen“ (um 1923).
Die Natur kann aber auch auf subtile Art zum Symbol für die menschliche Seele und vor allem das Unbewusste herangezogen werden. Theodor Kittelsen „Soria Moria“ (1900) zeigt einen mystischen Berg, eine Illustration eines bekannten norwegischen Kunstmärchens. Darin wird die Natur, in diesem Fall der unzugängliche Gebirgszug, zum Ziel einer Entwicklungserzählung, auf dem Weg müssen allerdings grauenvolle Monster besiegt werden.
Diese Geschichte leitet über zu den Darstellungen des heiligen Antonius, der in der Wildnis von allerlei Getier und Teufeln angefallen wird (Bayerischer oder fränkischer Meister, Lucas Cranach d. Ä., Otto Rudolf Schatz). Martin Schongauers legendäres Blatt verbindet Naturstudium mit gekonntem Einsatz der Phantasie, wenn es um die Darstellung von Dämonen geht (frühe 1470er Jahre). Die Natur birgt Heilung aber auch Gefahr. Als Gegenwelt zum städtischen, kulturellen Leben wird die Natur zum Ort geheimnisvoller Kreaturen (Nøkken und Waldtrolle), längst vergessener Mythen und der Begegnung mit dem Verdrängten. Sascha Schneider versuchte mit dem „Gefühl der Abhängigkeit“ (um 1893) Gefangenschaft und Scham gleichermaßen abzuhandeln. Hier deutet sich an, dass der „Neue Mensch“ in der Nachfolge von Nietzsche sich über die Konventionen der Zeit hinwegheben solle – selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin.
- Vincent van Gogh, Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette, 1886, Öl auf Leinwand, 32,3 × 24,8 cm (Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation), Inv. s0083V1962), Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
- Emanuel Vigeland, Jean Falcon (Glasmalerei für die Kathedrale von Reims), um 1920, Glasmalerei, 76,3 × 54 cm (Emanuel Vigeland Museum, Oslo, Inv. NMK.LAAN.2025.0172), Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Leben mit dem Tod
„Rauchen tötet“, könnte Vincent van Gogh gedacht haben, als er „Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette“ (1886) malte. Doch der Blick auf Arnold Böcklins „Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“ (1872) zeigt, dass es in der Tradition des memento mori und einer karikaturhaften Begegnung mit einem wichtigen Atelieraccessoire steht. Klimt besaß ein menschliches Skelett, wie aus Atelierfotos bekannt ist. Sein „Kniestück eines Skeletts mit langem Gewand“ um 1902 ist eine Studie zum Gemälde „Die Hoffnung I“. Auch wenn sich der Wiener Jugendstilkünstler intensiv mit dem Themenkomplex Liebe, Leben, Hoffnung und Tod auseinandersetzte, so vermied er doch sein eigenes Konterfei in diesen Bildern zu verarbeiten (im Gegensatz zum Abbild seiner hochbetagten Mutter). Diese Scham zeigt Edvard Munch „Selbstporträt (mit Knochenarm)“ (1895) nicht, stattdessen nutzte der Norweger das Potenzial des Selbstbildnisses zur Selbstanalyse – den Tod inbegriffen.
Nordische Künstler:innen des Symbolismus, darunter Magnus Enckell, Hugo Simberg, Akseli Gallen-Kallela, lassen den Tod auftreten und Teil des Lebens werden. „Das junge Mädchen und der Tod“ (1908) von Marianne Stokes zeigt einen schwarzen Todesengel am Bett sitzen; seine Geste dürfte als ein Zurückhalten bedeuten, während sich das Mädchen interessiert nach vorne beugt. Hier tritt der Tod als Beschützer der Menschheit auf, was wohl auch auf Hugo Simbergs „Der verwundete Engel“ (1903) zutrifft.
Diesem Ernst stehen ironische Bildschöpfungen gegenüber, allen voran Max Klingers „Auf den Schienen (Opus XI)“ (1897), das ein Skelett auf Bahngleisen liegend zeigt. Oder auch Otto Dix‘ „Schädel (Der Krieg)“ (1924), das formal und inhaltlich an spätmittelalterliche Druckgrafiken anschließt und einen von Maden befallenen Totenschädel zeigt. Der Kriegspropaganda weicht der Blick auf die Toten, den Verfall.
- Marianne Stokes, Laermans, Hans Baldung Grien in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Der Tod tanzt
Der Totentanz, auf Französisch Danse Macabre, ist seit dem 14. Jh. ein zentrales Bildmotiv, das moderne Künstler:innen aus der Tradition des Mittelalters und der Frührenaissance übernommen haben. Das Thema ist ein allegorischer „Tanz“ der Lebenden mit dem Tod, der als Skelett dargestellt wird. In der gotischen Bildsprache führen die Skelette die Lebenden zu einem Tanz an, der mal kraftvoll, mal sanft ist – aber alle Stände einbezieht.
Menschliche Skelette, wie die mutmaßlichen Totentanzfiguren eines anonymen Meisters aus dem 15. Jh. oder aus Hartmann Schedels „Liber Chronicarum“ (Nürnberg 1493, Werkstatt von Michael Wolgemut), erinnern tanzend an das Ende des Lebens. Die „Bilder des Todes (Totentanz)“ (um 1523–1525) von Hans Holbein dem Jüngeren gehörten zu den populärsten Schöpfungen in diesem Genre und beeindruckten von Peter Paul Rubens bis Robert Budzinski und Otto Rudolf Schatz. Inhaltlich ändern sich die modernen Interpretationen durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Im Mittelalter und der Frührenaissance dominiert das memento mori – des Gedenkens der Vergänglichkeit alles Irdischen – in einer moralischen Funktion. Demut vor dem nahenden und unvermuteten Sterben aber auch ein Erlösungsgedanke werden vor allem durch das Bildmotiv des Mädchens mit dem Tod symbolisiert, wie es Hans Baldung Grien vorstellt.
- Totentanz in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
- Kollwitz, Bopparder Pieta, Corinth in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Schmerz und Leid
Die sog. „Bopparder Pietà“, ein mittelrheinisches Vesperbild der 1380er Jahre, zeigt Maria mit ihrem toten Sohn Jesus Christus im Schoß. Ursprünglich benannt nach der Vesper (Abendandacht), erinnert das volkstümliche Andachtsbild sowohl an Mutterschaft als auch Totenklage. Wenig später feierte das Vesperbild als „Pietà [Mitleid]“ in der italienischen Kunst große Erfolge. Die „Bopparder Pietà“ verstärkt den Todes- und Erlösergedanken deutlich, indem Christus als geschundener, hagerer Leib gezeigt wird, und Maria auf einem Berg Knochen sitzt. In diesem Sinne soll wohl auch der aus der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. stammende „Schmerzensmann“ (um 1540) verstanden werden: Der ganze Körper ist mit Wunden und Blutstropfen übersät. Christus hält sogar noch die Marterwerkzeuge in der Hand bzw. trägt die Dornenkrone. Der Blick aus den Bild heraus spricht die Betrachter:innen direkt an, die sich der gläubigen Meditation über das Leid Christi hingeben sollen.
In der Moderne nutzen Kunstschaffende wie Käthe Kollwitz diese seit dem Mittelalter entwickelten Bildformeln, um Kommentare über und Haltungen zum Leben in ihrer direkten Umgebung zu formulieren. Kollwitz‘ „Frau mit totem Kind“ (1903) kauert sich auf herzbrechende Weise über dem verstorbenen Säugling zusammen. Ihr „Liebespaar II“ (1913, Guss 1976) lässt sich sowohl als Verschmelzung zweier Liebender als auch Vesperbild interpretieren – Ambivalenz als Zeichen der Moderne.
Die wichtigsten Stationen der Passion Christi umfasst Kreuzigung, Kreuzabnahme und Beweinung. Dürer setzt in der „Beweinung Christi (Große Passion)“ (um 1498/99) sein markantes Monogramm direkt neben den Leichnam. Lovis Corinth versuchte in „Kreuzabnahme“ (1895) und „Kreuzigung“ (1897) das dramatische Geschehen in ein naturalistisches, modernes Gewand zu hüllen. Deutlich expressiver behandelte George Minne den leidenden „Christus am Kreuz“ (1908) in einer subtilen Bleistiftzeichnung, während sich Edvard Munch in „Golgotha“ (1900) mit der Zuschauermasse beschäftigte. Im Vergleich dazu wirkt Karl Schmidt-Rottluffs Holzschnitt „Gekreuzigter“ (1918) bereits expressionistisch und reduziert. Allen ist gemein, dass sie Angst, Unbestimmtheit und Unsicherheit, Nervosität und Ohnmacht mit christlichen Themen zum Ausdruck bringen wollten.
Zu den eindrucksvollsten Werken der Renaissance zählt „Der tote Christus im Grab“ von Hans Holbein dem Jüngeren. Da das bedeutende Gemälde aus Basel nicht reisen darf, wird es von einer Kopie aus dem 17. Jh. vertreten. Unübertroffen ist Holbeins realistische Schilderung des Leichnams in seiner Grabkammer, die über Jahrhunderte als vorbildhaft galt. So ergänzte Käthe Kollwitz in „Zertretene“ (vor Mai 1900) den toten Körper mit zeitgenössischen Trauernden, so wie bereits während der 1860er und 1890er Jahre Arnold Böcklin für „Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi“ (1867) und Franz von Stuck in „Pietà“ (1891) um Assistenzfiguren, die durch ihre intensiv zur Schau gestellte Trauer auch als Handlungsanweisungen für die Gläubigen verstanden werden können. Einzig Akseli Gallen-Kallelas „Lemminkäinens Mutter“ (1897) scheint einen anklagenden Blick zu den Göttern der nordischen Sage zu werfen und sich nicht ihrem Gefühl hingeben zu wollen.
Waren bisher Schmerz und Leid durch Affekte und Gefühlsregungen deutlich an den Körpern ablesbar, so verschwinden diese unter den weiten Kutten der sog. Pleurants, der Trauerfiguren des spätmittelalterlichen Grabmals. In Frankreich ist jenes von Jean de Berry (1340–1416) besonders berühmt, wenn auch nicht im Original erhalten. Zwei um 1450 entstandene Pleurants aus Alabaster von Etienne Bobillet (tätig um 1450) und Paul Mosselmann (tätig um 1450) – der ursprünglich 40 Trauernden – sind in Wien zu sehen. Dies ist umso spektakulärer, da das Grabmal mehreren Vandalenakten, Naturkatastrophen und Zerstörungskampagnen ausgesetzt war. Doch all das konnte Künstler:innen um 1900 nicht davon abhalten, sich mit den erhaltenen Skulpturen produktiv auseinanderzusetzen. Paula Modersohn-Becker zeichnete sie in ihrem Skizzenbuch Nr. XXII (1903/1905). George Minne ließ sich zu trauenden Gewandfiguren inspirieren, und Constant Montald nutzte die Idee der Gleichförmigkeit, um einen rhythmischen Gleichklang der „Drei heiligen Frauen am Grab“ (um 1896) herzustellen.
- Leid und Schmerz in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Eskalation des Körpers
Albrecht Dürer und seine Schüler Hans Springinklee sowie Hans Baldung Grien revolutionierten in Nürnberg die Darstellung des nackten Körpers: Dürer, indem er „Das Männerbad“ (um 1496/97) und „Das Frauenbad“ darstellte, das einige Jahre später von Hans Springinklee aufgegriffen wurde. Hans Baldung Grien hingegen erarbeitete sich einen gewissen Ruf als Schilderer von Hexen bei unterschiedlichsten Aktivitäten. Nacktheit wird hier einerseits mit Schönheitskult und andererseits mit sexueller Ausschweifung in Verbindung gebracht.
Max Beckmann hatte sich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von seiner impressionistischen Bildsprache gelöst und bis 1918 zu einer „transzendenten Sachlichkeit“ gefunden, wie der Maler es selbst erinnerte.3 „Frauenbad“ von 1919 gilt neben dem Mappenwerk „Hölle“ als eines der ersten Gemälde dieser Phase, die der Künstler bewusst ohne seine Familie in Frankfurt a.M. begann. Nun begeisterte er sich für die Menschenmassen in den Städten und wählte ein an Dürer erinnerndes Sujet (man denke auch an Ingres‘ türkische Bäder). Doch zeigen sich die Körper der Frauen als geschundene Leiber, vom Großen Krieg und Entbehrungen gezeichnet, als mütterliche, schwangere Körper, als akrobatisch trainierte Subjekte. Dass sich die Damen in einem Badehaus aufhalten, muss man dem Bildtitel entnehmen, da das Wasser kaum als solches zu erkennen ist. Der Fokus des Künstlers liegt eindeutig auf der Schilderung von allen Lebensaltern in einem auffallend schmalen und hohen Bildformat.
Eines der erotischsten Sujets der mittelalterlichen und vor allem Renaissance-Kunst ist der von Pfeilen getroffene heilige Sebastian. Bereits Martin Schongauer lässt den nur mit einem Lendenschurz bekleideten Heiligen lasziv vor einem Baum posieren (vor 1491), während Hans Baldung Griens Blatt „Der große hl. Sebastian“ (1514) den Ohnmächtigen wie einen erschlafften Sack zeigt. In Wien reagierte vor allem Egon Schiele auf das ikonografische Vorbild des hl. Sebastian, indem er unter anderem sich selbst als von Pfeilen durchbohrt darstellte. In der Albertina ist der „Entwurf zum Plakat der Egon Schiele-Ausstellung in der Galerie Arnot“ von 1915 zu sehen, ergänzt um ein „Selbstbildnis“ (1914) und „Männlicher Akt“ (1912). Damit wollte sich der Künstler in die Tradition des Sehers und Künstler-Propheten stellen, wie sie bereits die Generation von Karl Wilhelm Diefenbach und Gustav Klimt etabliert hatte. Als Verkörperung des Sehers steht der Künstler, so die Überzeugung der Avantgardisten, außerhalb der Gesellschaft, kritisiert diese und wird von ihr mit Hohn und Spott überzogen. Die öffentliche Kritik vergleicht der junge Schiele mit einer Tortur. Das standhafte Festhalten an der eigenen Idee, dem eigenen Kunstwollen hingegen wird dereinst belohnt.
Mit „Die Umarmung“ (1914) scheint Schiele auf George Minnes in Wien berühmten „Knienden Jüngling“ (1898) reagiert zu haben, galt doch der Belgier Minne gleichsam als Verkörperung der Gotik. Ausdrucksstarke Gesten und expressive Körperhaltungen werden zu Bezugspunkten über Jahrhunderte und geografische Räume hinweg. Schieles ausgezehrte, sich verrenkende Gestalten folgen keiner anatomischen Logik und scheinen daher stärker mit der mittelalterlichen Körpervorstellung verwandt als mit den seiner Umwelt. „Der menschliche Leib wird dabei zum drastischen Ausdrucksträger existenzieller Gefühlszustände“, so Ralph Gleis und Lydia Eder im Katalog.4
Liebe und Sinnlichkeit
Zwei „Adam und Eva“-Darstellungen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach dem Älteren leiten das Kapitel zu zwischenmenschlichen Beziehungen ein. Dürers berühmter Kupferstich von 1504 oder auch das Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren aus dem Jahr 1533 illustrierten das Männer-Frauen-Verhältnis der christlichen Kirche(n) – und blieben auch noch für die Künstler der Moderne ein wichtiger Bezugspunkt.
Interessanterweise sind es vor allem die Expressionisten, die die alten biblische Motive wiederentdeckten. Im Gegensatz zu den gezeigten Vorbildern zeigen sie jedoch ein gebrochenes Verhältnis zu Körperlichkeit und Sexualität. Definierte Dürer noch an Adam und Eva die harmonische Perfektion des menschlichen Körpers, so wirkt Emanuel Vigelands „Adam und Eva“ (um 1897) wie ein Abgesang an Stärke und Selbstbestimmtheit. Vielleicht wollte der Norweger das Menschenpaar nach dem Sündenfall wiedergeben (es sind weder Baum noch Schlange zu entdecken); die Erkenntnis scheint vor allem Adam in die Glieder gefahren zu sein, während sich Eva schutzsuchend an ihn kuschelt.
Max Beckmann schildert seine „Adam und Eva“-Szene 1917 wie ein erstes Zusammentreffen von Freier und Sexarbeiterin in einem Park. Wären die beiden Ureltern nicht nackt, und würde sich nicht eine Schlange mit Hundskopf den Baumstamm hochwinden, würde man wohl nicht an Genesis 3,7 denken: Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, „da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.“ Beckmann interessierte vor allem die körperliche Komponente, so scheint es, das Begehren aber auch die Unsicherheit.
Einmal mehr zeigt die Ausstellung Kompositionen von Edvard Munch als außergewöhnliche Bildlösungen. Mit „Asche“ (1895), einer Fassung von „Vampir“ (1916–1918) sowie „Auge in Auge“ (1899/1900) schuf er geheimnisvolle wie innige Beziehungsbilder. Die „Entwurfsskizze für Lebensfries mit Asche, Metabolismus und Vampir“ (1917–1920) verbindet alles zu einem Lebensentwurf, der zwischen Schmerz und Innigkeit hin- und herpendelt. Das menschliche Sein in all seinen Stationen verdichtet, mit christlichen Vorbildern in Szene gesetzt. Munch kam aus einem strenggläubigen Elternhaus, in dem durch den frühen Tod seiner Mutter und seiner Schwester Liebe und Schmerz aufs Engste miteinander verbunden waren. Auch als Erwachsener führte Munch schwierige Beziehungen (u.a. mit Tulla Larsen). Umso erfreulicher ist es, dass er um 1900 sein symbolistisches Werk entwickelt und nun durch fröhliche, gesellige Szenen ergänzen konnte.
- Minne, Munch in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Madonnen-Bilder zwischen sakralem Bild und Mutterschaft
Zwei Madonnen-Bilder des Renaissance-Malers Hans Baldung, genannt Grien, – „Die Geburt Christi“ (1525–1530) sowie „Maria mit Kind und Papageien“ (1533) – leiten in das Kapitel „Devotion und Hingabe“ ein. An ihnen fällt auf, dass sie das für Christ:innen heilige Geschehen höchst illustrativ wiedergeben. Die Anbetung des Christuskindes im dunklen Stall zeigt ein schlafendes Kind, das von einem Engel gestützt wird. Die Erlösung der Menschheit von der Erbsünde wird rechts oben in der kleinen Figur von Gottvater mit den Kreuz angedeutet. In „Maria mit Kind und Papageien“ betont Grien die menschliche Seite des Gottessohnes, indem er ihn an der Brust seiner Mutter zeigt.
In der Albertina werden diese Darstellungen der Madonna mit dem Kind von drei Werken begleitet: Paula Modersohn-Beckers „Stillende Mutter“ (1902), Marianne Stokes‘ „Jungfrau und Kind“ (um 1909) und Edvard Munchs berühmte Druckgrafik „Madonna“ (1895/1902). Die Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker überträgt die Idee der stillenden Madonna [Madonna lactans] auf die bäuerliche Bevölkerung ihrer Umgebung. Sie zeigt eine realistische Szene des Stillens in Nahsicht. Im Gegensatz dazu zeigt die in Graz geborene und nach Großbritannien ausgewanderte Marianne Stokes ihre „Jungfrau und Kind“ in alten Würdeformeln – Maria als Blume im Dornenhag enthüllt das Christuskind – und in idealisierter, nahezu entrückter Schönheit. Der direkte Blick aus den Bild war bereits in der Renaissance bekannt und wurde auch von Grien genutzt.
Am radikalsten zeigt sich Edvard Munch, wenn er einen lasziv sich räkelnden Frauenakt als „Madonna“ bezeichnet. Er setzte der säkularen Umdeutung des Madonnen-Bildes noch eines drauf, indem er den Bilderrahmen mit Spermien und einen von Syphilis gezeichneten Embryo ziert. Das Bild der nährenden Mutter wird hier durch eine gesellschaftskritische Position abgelöst. Indem er sowohl Erotik, Sexualität, Mutterschaft und Krankheit (Geschlechtskrankheit) miteinander verband, führte er zeitgenössische Debatten zur Kindersterblichkeit und einem neuen, durchaus ambivalent empfundenen Frauenbild in ein eindringliches Bild zusammen.
- Peter Parler, Munch in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
- Jacoba van Heemskerck, Kirchner, Feininger in Gothic Modern, Albertina 2025, Foto: Alexandra Matzner (c) ARTinWORDS
Der Sonne und Kathedrale entgegen
In den 1890er Jahren verbanden Künstler:innen mit der Rückbesinnung auf die Kunst der Gotik auch die Suche nach einer neuen Spiritualität. In einer säkularisierten Welt, deren berühmtester Verfechter der Philosoph Friedrich Nietzsche („Gott ist tot.“) war, sprach man zunehmend von einer Kunstreligion. Künstler:innen galten als Priester:innen dieses ästhetisierten Kultes. Die Wiener Secession baute sich einen „Kunsttempel“ und nannte sein Kunstmagazin „Ver sacrum [Heiliger Frühling]“. Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, verfasste mehrere Versionen des Lichtgebets, in der der Sonne eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Dies beeinflusste mehrere Generationen von Kunstschaffenden, beginnen mit den Künstler:innen des Expressionismus. Diese haben sich auf unterschiedlichste Weise mit der Lichtsymbolik beschäftigt. Sie spielte eine zentrale Rolle in der Wiederaufnahme gotischer Kunst; Künstler:innen orientierten sich insbesondere an leuchtenden Buntglasfenstern und filigranes Strebewerk.
Die „Aufrisszeichnung eines Teils der Fassade des Südturms des Prager Veitsdoms“ (um 1360), Peter Parler zugeschrieben, leitet das letzte Kapitel der Albertina-Ausstellung ein. Dass gotische Architektur für die bildende Kunst großen Einfluss hatte, belegen Architekturentwürfe von Edvard Munch, die der Norweger für seinen „Lebensfries“ geschaffen hat. Sein Entwurf für die Gestaltung der Aula der Osloer Universität – „Die Sonne“ (1910–1913) – zeigt die aufgehende Sonne in expressiven Pinselstrichen. Mit der Betonung der Sonnenstrahlen nimmt er Bezug auf seine Studien gotischer Kathedralen und ihrer Fensterrosen. Die Fensterrose sollte nicht nur für Munch zur Metapher des abstrakten, göttlichen Lichts werden, das symbolisch aufgeladen Bezüge zum Jenseits hervorruft.
Akseli Gallen-Kallela nutzt in „Ad Astra (2. Version)“ (1907) die Form eines gotischen Flügelaltars mit Predella. Der Finne überführte die christliche Weiheform in eine profane Auferstehungssymbolik, um seiner esoterischen Vision eines Heilsversprechens eine expressive Form zu geben. Allerdings ist er auch willens, christliche Formlösungen für die nordische Mythologie einzusetzen: „Der tote Lemminkäinen“ von 1896 liegt auf die selben Weise am Boden, wie einige Jahrhunderte zuvor Hans Holbein den toten Christus im Grab den Gläubigen vor Augen führte.
Die jüngsten Künstler:innen der Schau beenden die intensive Ausstellung: Ernst Barlach zeigt in Holzschnitten und Reliefs von seine Hinwendung zu Gott, und die beiden „Sturm“-Künstler:innen Lyonel Feininger und Jacoba van Heemskerck wie sie mit gotischen Vorbildern umgingen. Lyonel Feiningers „Kirche von Niedergrunstedt“ (1919) verbindet ein gotisches Gotteshaus mit kubistischer, kristalliner Formzertrümmerung. Die Niederländerin Heemskerck, eine praktizierende Theo- und Anthroposophin, eroberte sich das Glasfenster und in ihrer Malerei eine geometrische Formensprache. Mit expressionistischer Dynamik setzt Ernst Ludwig Kirchner seine Ansicht der „Rheinbrücke in Köln“ (1914) um. Die moderne Eisenkonstruktion führt auf die Doppelturmfassade zu, die in Deutschland das Revival der Gotik einleitete: 1842 bis 1880 wurde der gotische Dom, der im 14. Jahrhundert unvollendet zurückgelassen worden war, zu Ende gebaut. Damit verbindet das berühmte Bauwerk die Hochgotik des 13. Jahrhunderts mit der beginnenden Moderne und leitet die Wiederentdeckung der gotischen Kathedralbaukunst ein. Die Albertina wirft mit Kirchner gleichsam einen Blick in den historischen Rückspiegel, verbindet doch der Begründer der Künstlergruppe „Die Brücke“ Alt und Neu auf kongeniale Weise!
Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler
Joseph Alanen, Hans Baldung "Grien", Ernst Barlach, Max Beckmann, Karl Bennewitz von Löfen, Fritz Boehle, Dirk Bouts, Arnold Böcklin, Gustav Carus, Lovis Corinth, Lucas Cranach der Ältere, Otto Dix, Albrecht Dürer, James Ensor, Lyonel Feininger, Akseli Gallen-Kallela, Matthias Grünewald, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Theodor Kittelsen, Max Klinger, Käthe Kollwitz, Georges Lacombe, Eugène Laermans, Théophile Lybaert, Karel Masek, Constantin Meunier, Georges Minne, Paula Modersohn-Becker, Edvard Munch, Ejnar Nielsen, Emil Nolde, Karl Nordström, Prinz Eugen, Arthur Roessler, Tyko Sallinen, Otto Rudolf Schatz, Helene Schjerfbeck, Sascha Schneider, Hugo Simberg, Max Slevogt, Agnes Slott-Møller, Harald Slott-Møller, Gustav Adolph Spangenberg, Carl Spitzweg, Marianne Stokes, Henrik Sørensen, Hans Thoma, Gustave van de Woestyne, Vincent van Gogh, Emanuel Vigeland, Gustav Vigeland.
Kuratiert von Ralph Gleis (Direktor der Albertina), Co-kuratiert von Julia Zaunbauer mit Assistenzen von Nina Eisterer und Lydia Eder.
Die Ausstellung basiert auf einem internationalen Forschungsprojekt, das das Ateneum Art Museum 2018 gemeinsam mit Professorin Juliet Simpson (Coventry University) ins Leben gerufen hat. Nach dem Ateneum wird die Ausstellung im Nasjonalmuseet in Oslo und in der Albertina in Wien zu sehen sein. Professorin Juliet Simpson hat als Gastkuratorin das Forschungskonzept geleitet. Das kuratorische Team der Ausstellung besteht aus Anna-Maria von Bonsdorff (Direktorin, Ateneum Art Museum), Vibeke Waallann Hansen und Cynthia Osiecki (Kuratorinnen, Nationalmuseum, Norwegen) sowie Ralph Gleis (Direktor, Albertina).
Ausstellungskatalog
Anna-Maria von Bonsdorff und Juliet Simpson (Hg. englischer und norwegischer Katalog)
Katja Ikäläinen (Hg. englischer Katalog)
Hanne Selkokari (Hg. finnischer Katalog)
Mit Beiträgen von Anna-Maria von Bonsdorff, Ralph Gleis, Vibeke Waallann Hansen, Kjartan Hauglid, Timo Huusko, Stephan Kuhn, Marja Lahelma, Jeanne Nuechterlein, Riitta Ojanperä, Cynthia Osiecki, Juliet Simpson und J. de Smet
ISBN 978-3-7774-4392-8 (Englisch/Norwegisch)
Hirmer Publishers, der University of Chicago Press (USA und Kanada) und Thames & Hudson (Rest der Welt)
Bilder
- Edvard Munch, Auge an Auge, Detail, 1899–1900 (Munch Museum, Oslo)
- Ralph Gleis, Lydia Eder, Wege zur Gotik, in: Gothic Modern. Munch – Beckmann – Kollwitz, hg. v. Ralph Gleis (Ausst.-Kat. Albertina, Wien, 19.9.2025–11.1.2026), München 2025, S. 67.
- Heute versucht der Mensch, die Natur zu bändigen, und treibt sie gleichzeitig an den Rand der Zerstörung. Pandemien, Artensterben und extreme Wetterereignisse zeigen, dass wir die Naturgewalten noch immer nicht besiegt haben.
- Max Beckmann, Ein Bekenntnis, zit. nach: Max Beckmann und Berlin, hg. v. Thomas Köhler und Stefanie Heckmann (Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin, 20.11.2015–15.2.2016), Bielefeld 2015, S. 141.
- Ralph Gleis, Lydia Eder, Eskalation des Körpers, in: Gothic Modern. Munch – Beckmann – Kollwitz, hg. v. Ralph Gleis (Ausst.-Kat. Albertina, Wien, 19.9.2025–11.1.2026), München 2025, S. 223.













