Jenny Saville vor ihrem Gemälde, Foto: Alexandra Matzner
Als Jenny Saville vor knapp einem Jahr Wien besuchte, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass ihre monumentalen Gemälde und Zeichnungen bereits 2014 in Dialog mit den expressiven Werken von Egon Schiele treten würden.1 Oliver Wick konzipierte für das Kunsthaus Zürich eine spannende Gegenüberstellung, die hauptsächlich von der ästhetischen Wirkung der Gemälde lebt, die Bedeutung der Figurenbilder für Schieles Modernität bestätigt aber dennoch nicht auf Landschaften und Städtebilder des Wieners verzichtet.
Schweiz | Zürich: Kunsthaus Zürich
10.10.2014 – 25.1.2015
Dass sich das Kunsthaus Zürich mit Egon Schiele (1890–1918 → Egon Schiele. Gezeichnete Bilder) beschäftigt, hat historische Gründe. Vom 12. Mai bis zum 16. Juni 1918 fand unter dem Titel „Ein Jahrhundert Wiener Malerei“ eine Leistungsschau in Zürich statt, bei der Schiele mit vier Gemälden und 21 Zeichnungen vertreten war. Bereits 1915 bemühte sich Direktor Wilhelm Wartmann vergeblich, über die Galerie Arnot eine große Schiele-Schau ausrichten. Nun, 100 Jahre später, konnte das Kunsthaus Zürich mit Kurator Oliver Wick das Leopold Museum als Kooperationspartner gewinnen. Während in Wien die reichen Bestände an Alberto Giacometti zu sehen sind, konfrontiert das Schweizer Haus Egon Schiele mit der britischen Künstlerin Jenny Saville.
Die Schau beginnt mit einer kleinen Ölstudie des 18-jährigen Egon Schiele vor anthrazitfarbener Wand. Ein nackter Junge aus Froschperspektive gesehen, gemalt im Jahr 1908, führt in das Werk des österreichischen Expressionisten ein. Der nahezu antiakademische Akt steht bereits am Beginn der künstlerischen Karriere Schieles und für dessen Faszination am menschlichen Körper, dessen Formen das Innerste widerspiegeln sollen. Mitnichten geht es Schiele, und hier schießt Jenny Savilles Körperbild nahtlos an, um eine repräsentative Qualität von Malerei. Dem irdischen Paradies des Wiener Jugendstils hielt er Ausgesetztheit, Verzweiflung, „Agonie“, Gevatter Tod entgegen. Alles sei lebend tot, so war sich der Künstler 1910 sicher. In seiner Kunst konzentrierte er sich auf die menschliche Figur in ihrer existentialistischen Verlorenheit. Darüber hinaus wird in der Zürcher Schau deutlich, wie viel Schiele dem Jugendstil verdankt, wenn er in „Waldandacht“ (1915, Kunsthaus Zug, Stiftung Sammlung Kamm) eine ornamentale Flächengestaltung oder seinen Zeichnungen die Linie als Ausdrucksträgerin einsetzt.
Oliver Wick wählte Weiß als Hintergrundfarbe für Jenny Savilles Arbeiten und setzte sie selten neben Werken von Schiele an die Wand. Daran hat er gut getan, würden die großformatigen Gemälde der Britin die in ihrer Größe deutlich geringer ausfallenden Zimelien von Schiele problemlos erdrücken. Zu heftig der malerische Zugriff Savilles! Wo die Werke der Malerin und des Malers aufeinandertreffen, wirkt der Wiener deutlich fragilere, eleganter, dem Stilidiom des Jugendstils verpflichteter als in der Einzelpräsentation des Leopold Museum. Hierfür ist auch Oliver Wicks Entscheidung verantwortlich, die Wiener Sammlung mit „Agonie“ (1912) aus München, „Tod und Mädchen“ (1915) aus dem Belvedere, „Waldandacht“ (1915) und „Kahle Bäume“ (1912) aus Zug sowie eine große Anzahl an Zeichnungen zu ergänzen.
Jenny Saville, 1970 in Birmingham geboren, gehört zur Generation der Young British Artists. In ihren monumentalen Gemälden reagiert sie seit den späten 1980er Jahren auf Schönheitswahn, Magerkult und Geschlechterdiskurs. Sie zeigt geschundene Gesichter im Close-Up, massige Körper formatsprengend und die Proportionen wie aus den Fugen geraten. Verquollene Augen, blutunterlaufene Hautpartien, grünlich schimmernde Cellulitis sind in beängstigender Weise auf die Leinwände gebannt. Virtuos beherrscht Saville Farbe und Pinsel. Allein die Größe der Gemälde überwältigt. Oft nutzte sie in den letzten Jahren ihren eigenen Körper, veränderte beispielsweise seine Form, indem sie sich gegen Glasscheiben drückte, oder schuf sich einen „Fettanzug“. Schonungslos stellt Saville ihre Protagonist_innen zur Schau. „The Mothers“ (2011), benannt nach dem „Reich der Mütter“ in Goethes Faust II, zeigt die Künstlerin hochschwanger mit ihrem gerade zu laufen beginnenden Sohn. Ihre Überforderung wird durch die Vervielfältigung des zappelnden Buben deutlich. Permanente Bewegung wie Beweglichkeit und die Schwerfälligkeit der schwangeren Mutter als Gegensätze darzustellen, war die Intention der Künstlerin. Diesem Werk schräg gegenüber Schieles „Mutter mit zwei Kindern“ zu hängen, zeigt die Grenzen des direkten Vergleichs in der Ausstellung auf, geht es Schiele doch symbolisch um Tod und Leben, Werden und Vergehen.
Auf die Überwältigung mittels Bildformaten und malerischem Esprit folgt Irritation durch die anklingenden Themen: Übergewicht, Krankheit, Plastische Chirurgie, Geschlechtsumwandlung, Sexualität, Überforderung einer Mutter – tabuisiert und aus dem Alltag verdrängt – stehen unübersehbar im Zentrum der Reflexionen Savilles. Auf der Ebene dieses Grenzgänger_innentums funktioniert der Dialog zwischen Schiele und Saville am besten. Beide dekonstruieren von ihren jeweiligen Standpunkten aus Akte als Verkörperungen des Verlangens, als Spiegelungen eigener Wunschträume, indem sie sich den gängigen Schönheitsidealen aktiv entziehen. Der Argumentation des Kurators, dass diese Körperbilder wie Landschaften seien und deshalb zu Schieles Herbstbäumen und Städtebildern passen, lässt sich nur schwer folgen, zu präsent sind Savilles Körperbilder und Schieles Landschaften zu delikat, nahezu elegant (zumindest neben den Werken von Saville), aber erneut vom Verwesungshauch durchzogen.
Von „Fulcrum“ (1998/99), „Hyphen“ (1999) über „Rubens Flap“ (1998/99) den großen Köpfen (seit 2002), „Transvestite Paint Study“ (um 2003/04) und ihrer Beschäftigung mit der Odaliske in „Compass“ (2013) zeigt Saville Körper als Spiegel der Gesellschaft. Diese als Resultate gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen, funktioniert bei Saville aufgrund ihrer Zeitgenossenschaft spontaner als bei Schiele. Während letzterer das Geheimnis des Lebens auf eine mystische Ebene hebt, ist es bei Saville im OP-Saal des Schönheitschirurgen oder in der schonungslosen Präsentation fülliger, miteinander verknüpfter Körper gebannt. Beide durchbrechen die Vierte Wand, um im Blickkontakt mit den Betrachter_innen zu treten.
Interessant scheint mir zudem die Beobachtung, dass beide – Schiele wie Saville – mit tabubrechenden Werken ihre Karrieren begannen und sich nach einigen Jahren stärker an tradierten Formen orientierten. Bei Schiele trat dieser Moment mit seiner Hochzeit und Einberufung zur österreichisch-ungarischen Armee ein, bei Saville kann man in den Werken der letzten fünf Jahre ein Wandel beobachten. Schlanke Figuren in der traditionellen Pose als liegende Akte bevölkern die Bilder. Wenn die Britin sie auch als Liebende bezeichnet, so überraschen die Figuren durch ihre Beziehungslosigkeit. Die Damen ähneln den als Odalisken vorgeführten Akten des 19. Jahrhunderts und sind erneut Spiegel für die Wunschträume der inner- wie außerbildlichen Betrachter_innen. Aktives Schauen trifft auf betrachtet werden und blinde Blicke. In der Bedeutung, die die 44jährige Künstlerin dem Akt des Sehens beimisst, ist sie dem Expressionisten vielleicht sogar am ähnlichsten.
1970 Jenny Saville wird in Cambridge (GB) geboren. Ein begehbarer Schrank wird zu ihrem ersten künstlerischen Rückzugsort.
1987/88 Im Sommer Reisen durch Europa, die Türkei und Syrien.
1988–1992 Besuch der Glasgow School of Art.
1989 Erste Ausstellungsbeteiligungen bei „Self Portraits“ in der Burrell Collection, Glasgow, und „British Portrait Competition“ in der National Portrait Gallery in London. Erhält von der Royal Academy den British Institute Award for Painting.
1990 Ausstellungsbeteiligung „Contemporary ’90“ im Royal Collage of Art, an der unter anderem Peter Doig und Cecily Brown teilnehmen. Auszeichnung mit dem Lord Provost Prize for Contemporary Art, Glasgow. Saville lernt David Sylvester kennen, mit dem sich ein reger Diskurs über Kunst entfaltet, der zu gemeinsamen Ausstellungsbesuchen führt. Das Sammlerpaar Susan Kasen Summer und Robert D. Summer lädt sie als Artist in Residence für zunächst sechs, dann neun Monate ins ländliche Connecticut ein. Während dieses Aufenthalts beginnt sie sich mit plastischer Chirurgie zu beschäftigen und kann bei Schönheitsoperationen, durchgeführt von Barry Martin Weintraub, zusehen. Sie experimentiert mit ihrem Körper, den sie gegen Plexiglas gepresst fotografiert. Während eines Fotoshootings für die „British Vogue“ begegnet sie dem berühmten englischen Modefotografen Glen Luchford. Die beiden beschließen, zusammen an diesen fotografischen Experimenten weiterzuarbeiten. Ende 1995 bezieht sie ein Atelier in der Wharf Road, London, und arbeitet dort und in New York. Der Dokumentarfilm „Flesh & Blood“ von Nicola Black kommt heraus.
1991 Saville erhält ein Stipendium an der Cincinnati University in Ohio, wo sie in Vorlesungen zu Women’s Studies ihr Interesse an diesen Themen vertieft. Gleichzeitig nimmt sie an einem Diskussionsforum zur aktuellen Stellung der Malerei in der Kunst teil und zieht zeitweilig in Betracht, nicht mehr zu malen, um sich vermehrt mit Fotografie und Installation zu beschäftigen.
1992 Es folgen die Auszeichnungen mit der Newberry Medal und dem Elizabeth Greenshields Foundation Award. Clare Henry integriert Werke von ihr in der Ausstellung „Critic’s Choice“ in der Cooling Gallery in London, wo Charles Saatchi das Gemälde „Branded“ sieht. Das Werk „Propped“ wird auf dem Cover von „The Times Saturday Review“ abgebildet. Saatchi beginnt, die bereits verkauften Werke aus ihrer Ausstellung zum Diplomabschluss im großen Stil rückzukaufen und bietet ihr einen Vertrag über anderthalb Jahre an. Zudem wird eine Werkgruppe in Auftrag gegeben, die später in seiner Galerie gezeigt wird.
1993 Der Elizabeth Greenshields Foundation Award wird ihr zum zweiten Mal verliehen.
1994/95 Die Ausstellung „Young British Artists III“ wird in der Saatchi Gallery in London eröffnet. Es ist die erste Gruppenausstellung, in der Jenny Saville mit einem Werk vertreten ist. Ihr Vertrag mit Saatchi wird um drei Jahre verlängert. Sie wird von der Kult-Band „Manic Street Preachers“ kontaktiert, die das Gemälde „Strategy“, 1993/94, auf dem Cover ihres neuen Albums „The Holy Bible“ abbilden. Sie beginnt an den Gemälden „Shift“ und „Hybrid“ für die Ausstellung „Sensation“ zu arbeiten, sowie an „Hyphen“, „Fulcrum“ und „Ruben’s Flap“, die drei Jahre später in der „Territories“-Ausstellung in der Gagosian Gallery, New York, gezeigt werden.
1996 Das gemeinsame Projekt wird unter dem Titel „Jenny Saville and Glen Luchford: A Collaboration“ in der Pace MacGill Gallery in New York präsentiert. Rückkehr nach London, wo sie sich am Hunterian Museum weiter mit Anatomie beschäftigt und am Royal College of Surgeons operativen Eingriffen beiwohnt. Das Archiv eines pensionierten plastischen Chirurgen wird ihr geschenkweise überlassen.
1997 In der Royal Academy in London findet unter dem Titel „Sensation“ eine legendäre und kontroverse Ausstellung der Sammlung von Charles Saatchi statt, die Werke von Jenny Saville zusammen mit Arbeiten von Damien Hirst, Chris Ofili, Tracey Emin und anderen „Young British Artists“ zeigt. Auf der Eröffnung lernt Saville Larry Gagosian kennen, der sie einlädt, ihre Werke in New York zu zeigen. Die Gagosian Gallery übernimmt ihre exklusive Vertretung. Die Ausstellung „Sensation“ reist weiter in den Hamburger Bahnhof, Berlin.
1998 Savilles fotografische „Closed Contact“-Serie wird im Dokumentarfilm „Vile Bodies“ /1997 gezeigt, in dem weitere zeitgenössische Fotografen wie Sally Mann, Andres Serrano, John Coplans und Joel-Peter Witkin vorgestellt werden. Die Serie regt zur Ausstellung „The Ugly Show“ im Bracknell Arts Center in Leeds an, in der auch Fotografien von Saville zu sehen sind.
1999 Die Ausstellung „Sensation“ wird im Brooklyn Museum in New York gezeigt. Die erste Einzelausstellung Savilles in den USA, „Jenny Saville: Territories“, wird in derselben Woche in der Gagosian Gallery in New York eröffnet, wo unter anderem die Gemälde „Fulcrum“, „Ruben’s Flap“ und „Hyphen“ ausgestellt sind. Saville erhält den U.S. Art Critic’s Prize for the Best Show in a Commercial Gallery.
2000 Die Gagosian Gallery, Los Angeles, zeigt die komplette Serie der „Closed Contact Photographs“. Die Gemälde „Fulcrum“, „Hyphen“ und „Host“ sind in der Ausstellung „Ant Noises“ in der Saatchi Gallery, London, zu sehen.
2003 Im Frühjahr eröffnet die Ausstellung „Migrants“ in der Gagosian Gallery in Chelsea, New York. Im Juni beteiligt sie sich an der Ausstellung „Pittura 1964–2003. Da Rauschenberg a Murakami“ im Museo Correr anlässlich der 50. Biennale in Venedig. Saville lebt alternierend in London und Palermo, wo Werke wie „Stare“, „Red Stare Head IV“, „Red Stare Collage“ und „Rosetta II“ entstehen.
2005 Erste Einzelausstellung Savilles in einem Museum im MACRO – Museo d’Arte Contemporanea in Rom.
2006 Die Ausstellung „Damien Hirst, David Salle, Jenny Saville. The Bilotti Chapel“ wird im Museo Carlo Bilotti, Aranciera di Villa Borghese in Rom gezeigt.
2007 Geburt ihres Sohnes. Saville wird als jüngstes Mitglied in die Royal Academy aufgenommen. Das Kunstmuseum Luzern präsentiert eine Ausstellung zum Thema Körper mit Werken von Berlinde De Bruyckere, Jenny Saville und Dan Flavin.
2008 Geburt ihrer Tochter.
2009 Rückkehr nach England. Wählt Oxford als Lebens und Arbeitsort. Beginn der „Reproduction Drawings“, die Bezug auf den Karton Leonardo da Vincis „Madonna mit Kind, hl. Anna und Johannes der Täufer“ in der National Gallery, London, nehmen.
2010 Erste Einzelausstellung in London in der Gagosian Gallery mit den 2009 entstandenen großformatigen Papierarbeiten zum Thema Mutterschaft.
2011/12 Die Einzelausstellung „Continuum“ wird in der Gagosian Gallery, New York, eröffnet. Das Norton Museum of Art in West Palm Beach, Florida, richtet Jenny Savilles erste amerikanische Museumsausstellung aus, die anschliessend im Modern Art Oxford zu sehen ist. Parallel dazu werden zwei Werke im Ashmolean Museum of Art and Archaeology in der Renaissance-Sammlung ausgestellt.
2014 „Jenny Saville Oxyrhynchus“ wird mit neuesten Werken in der Gagosian Gallery London eröffnet. Das Kunsthaus Zürich stellt Egon Schiele und Jenny Saville in einen visuellen Dialog.
Jenny Saville lebt und arbeitet in Italien.
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