Wassily Kandinsky
Wer war Wassily Kandinsky?
Wassily Kandinsky (Moskau 16.12.1866–13.12.1944 Neuilly-sur-Seine) war ein russisch-deutscher Maler des Expressionismus und der Abstraktion, der ab 1933 in Frankreich lebte (→ Abstrakte Kunst). Er begründete kurz nach 1910 die abstrakte Malerei, indem er zunehmend die Bildgegenstände abstrahierte und gleichzeitig eine Kunsttheorie basierend auf der Korrelation von Formen, Empfindungen, Farben entwickelte. Kandinsky selbst sprach von „reiner Malerei“, einer Kunst, die der Künstler als intuitiver, spiritueller Schöpfer aus sich selbst hervorbringt. 1911 provozierte er einen Konflikt mit den Vertretern der NKVM und gründete den „Blauen Reiter“ (1911/12), gab gemeinsam mit Franz Marc den gleichnamigen Almanach heraus und organisierte zwei Gruppenausstellungen in München. Während des Ersten Weltkriegs musste Kandinsky nach Russland zurückkehren und verließ seine langjährige Lebensgefährtin Gabriele Münter. Während der Weimarer Republik lehrte Kandinsky am Bauhaus in Weimar und Dessau. Von den Nationalsozialisten wurden seine abstrakten Kompositionen als „entartet“ diffamiert, worauf der Maler nach Paris emigrierte.
Hier findest du die wichtigsten Ausstellungen zu Wassily Kandinsky 2024 → Kandinsky: Ausstellungen 2024
Kindheit
Wassily Kandinsky wurde am 16. Dezember 1866 als Sohn des wohlhabenden Teehändlers Wassily Silvestrowitsch Kandinsky und dessen Frau Lidija in Moskau geboren. Im Jahr 1871 zog die Familie mit Rücksicht auf die Gesundheit des Vaters in das wärmere Klima des Schwarzen Meeres, nach Odessa (heute: Ukraine). Dort nahm er den Posten eines Direktors einer Teehandelsfirma an. Bald danach erfolgte die Scheidung seiner Eltern. Kandinsky blieb beim Vater, jedoch besuchte ihn seine Mutter täglich. Seine Tante Elizaveta Ticheeva (Elisabeth Tichejeff) erzog ihn. Sie habe, so erzählte er später, seine Liebe zur Musik, zum Märchen, später zur russischen Literatur geweckt.1 Der Vater ermöglichte ihm privaten Zeichenunterricht, ab seinem achten Lebensjahr erhielt Kandinsky Klavier- und Cellostunden.
Die Großmutter mütterlicherseits war Baltin und sprach mit ihrem Enkelkind Deutsch. Seine Onkel waren begabte Maler, während Kandinskys Vater seit seiner Kindheit zeichnete, regelmäßig Ausstellungen besuchte und ein wenig sammelte. Wassily Silvestrowitsch Kandinsky förderte seinen Sohn, vertraute seinem Urteil und unterstützte ihn finanziell.
Kandinskys Mutter heiratete zum zweiten Mal und bekam noch vier Kinder (ein Mädchen und drei Jungen), zu denen er ein herzliches Verhältnis hatte.
Im Alter von zehn Jahren besuchte Kandinsky ein humanistisches Gymnasium. Drei, vier Jahre später kaufte er sich seine ersten Ölfarben und erinnert sich an das Farberlebnis:
„Für langsam zusammengespartes Geld habe ich mir als 13- bis 14-jähriger Junge einen Malkasten mit Ölfarben gekauft. Die damalige Empfindung - besser gesagt: das Erlebnis der aus der Tube kommenden Farbe habe ich heute noch. Ein Druck der Finger und jauchzend, feierlich, nachdenklich, träumerisch, in sich vertieft, mit tiefem Ernst, mit sprudelnder schalkhaftigkeit, mit dem Seufzer der Befreiung, [...] kamen eins nach dem andern diese sonderbaren Wesen, die man Farbe nennt. [...] Es schien mir manchmal dass der Pinsel, der mit unbeugsamem Willen Stücke von diesem lebenden Farbenwesen riss, bei diesem Reissen einen muskalischen Klang hervorrief. Ich hörte manchmal ein Zischer der sich mischenden Farben. Es war wie ein Erlebnis, das man in der geheimen Küche des geheimnisumhüllten Alchimisten hören könnte.“2
Vom Rechtsgelehrten zum Kunststudenten
Im Alter von 18 Jahren kehrte Wassily Kandinsky nach Moskau zurück. Wassily Kandinsky studierte in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre Rechtswissenschaft und Ökonomie. „Aus Gesundheitsgründen“ unterbrach er 1889 sein Studium für drei Jahre; allerdings reiste er in dieser Zeit kurz nach Paris, unternahm eine lange, ethnografische Forschungsreise (Strafen in den Urteilen der Bauerngerichte, Spuren der heidnischen Glaubensreste der Syrjänen in der heutigen autonomen Republik Komi) und bereitete sich auf das Examen vor. 1892 heiratete er seine Cousine zweiten Grades Anna Semjakina, die an der Moskauer Universität als Gasthörerin inskribiert war. Im November 1893 schloss Wassily Kandinsky sein Universitätsstudium mit dem Diplom ersten Grades ab.
„Bis zu meinem 30. Jahr habe ich mich gesehnt, Maler zu werden, da ich die Malerei mehr als alles andere liebte, und es war mir nicht leicht, diese Sehnsucht zu bekämpfen. Es schien mir damals, dass die Kunst für einen Russen heute ein unerlaubter Luxus ist. Deshalb wählte ich auf der Universität die Nationalökonomie zu meiner Speizalität.“3
Bereits vor seinem Schlüsselerlebnis – in einer Ausstellung französischer Kunst in Moskau hatte er 1896 ein Gemälde aus Claude Monets Serie der „Heuhaufen“ (besser: Getriedeschober → 2019: Auktions-Weltrekord für Monets „Getreideschober“) gesehen – hatte er der wissenschaftlichen Laufbahn den Rücken gekehrt und die künstlerische Leitung der Moskauer Druckerei Kušnerev übernommen.
„Vorher kannte ich nur die realistische Kunst, eigentlich ausschließlich die Russen […]. Und plötzlich, zum ersten Mal, sah ich ein ‚Bild‘. Dass das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Erkennen konnte ich ihn nicht. Dieses Nichterkennen war mir peinlich. Ich fand auch, dass der Maler kein Recht hatte, so undeutlich zu malen. Ich empfand dumpf, dass der Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, dass das Bild nicht nur packt, sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt und immer ganz unerwartet bis zur letzten Einzelheit vor den Augen schwebt. […] Die Malerei bekam eine märchenhafte Kraft und Pracht, unbewusst war aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert. [...] Das ‚Licht- und Luftproblem‘ der Impressionisten interessierte mich kaum. Ich fand immer, dass die klugen Gespräche über dieses Problem sehr wenig mit Malerei zu tun haben. Wichtiger erschien mir später die Theorie der Neoimpressionisten, die im letzten Grunde von der Farbmischung sprach und die Luft in Ruhe lies […]“4 (Wassily Kandinsky, 1913)
Obwohl Kandinsky nicht viel mit den Zielen des französischen Impressionismus anfangen konnte – war er der Erste, der Monet hinsichtlich der Farbe als Pionier der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts wahrnahm. Kandinsky beeindruckte, wie sich bei Monet Farbe und Malerei vom Gegenstand befreiten und verselbstständigten. Diese Haltung zeigt sich in Kandinskys Werk bis in die Jahre des „Blauen Reiter“: Der Maler war viel mehr an der Farbe interessiert als an der Linie. Unterstützt wurde seine Wahrnehmung durch Richard Wagners „Lohengrin“:
„Lohengrin schien mir aber eine vollkommene Verwirklichung dieses Moskau zu sein. Die Geigen, die tiefen Basstöne und ganz besonders die Blasinstrumente verkörperten damals für mich die ganze Kraft der Vorabendstunde. Ich sah alle meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir. Ich traute mich nicht, den Ausdruck zu gebrauchen, dass Wagner musikalisch 'meine Stunde' gemalt hatte. Ganz klar wurde mir aber, dass die Kunst im allgemeinen viel machtvoller ist, als sie mir vorkam, dass andererseits die Malerei ebensolche Kräfte wie die Musik besitzt, entwickeln könne. Und die Unmöglichkeit, selbst diese Kräfte zu entdecken, jedenfalls zu suchen, verbitterte noch mehr meine Entsagung.“5
Ausbildung
Im Dezember 1896 übersiedelte Wassily Kandinsky gemeinsam mit seiner ersten Ehefrau nach München, um Malerei zu studieren. Nach dem Besuch der privaten Kunstschule des slowenischen Kunstlehrers Anton Ažbe (1897–1899), setzte er seine Studien an der Münchner Kunstakademie in der Klasse von Franz von Stuck fort (1900–1903 → Franz von Stuck. Sünde und Secession). Kandinsky erinnerte sich 1913 in den „Rückblicken“ an sein Studium:
„Damals war Franz Stuck ‚der erste Zeichner Deutschlands‘ und ich ging zu ihm – leider nur mit meinen Schularbeiten. Er fand alles ziemlich verzeichnet und riet mir, in der Zeichenklasse der Akademie ein Jahr zu arbeiten. Ich fiel bei der Prüfung durch, was mich nur geärgert, aber gar nicht entmutigt hat: es wurden bei der Prüfung Zeichnungen gut geheißen, die ich mit vollem Recht dumm, talentlos und ganz ohne Kenntnis fand. Nach einem Jahr der Arbeit zu Hause ging ich zum zweiten Mal zu Franz Stuck – dieses Mal nur mit Entwürfen zu Bildern, die ich noch nicht fertig malen konnte und mit einigen Landschaftsstudien. Er nahm mich in seine Malklasse auf, und auf meine Frage wegen meiner Zeichnung, bekam ich zur Antwort, sie sei ausdrucksvoll.“6
In diesen Jahren traf er den um zwei Jahre älteren und malerisch sehr erfahrenen Alexej von Jawlensky, der ebenfalls bei Ažbe studierte, zum ersten Mal. Dessen Freundin, die Künstlerin Marianne von Werefkin, hatte ihre eigene Karrier aufgegeben, um Jawlensky zu fördern und Kunsttheorie zu betreiben. Beide wurden 1908 in Murnau wichtige Diskussionspartner für Kandinsky. Auch die aus der Ukraine stammende Malerin Elisabeth Epstein zählte ab 1896 zum Bekanntenkreis Kandinskys. Die später in Paris ansässige Künstlerin vermittelte die französische Avantgarde an Kandinsky.
Ab 1901 malte Wassily Kandinsky kleine Ölstudien vor der Natur sowie Temperabilder mit altrussischen Szenen, die er „farbige Zeichnungen“ nannte. Enttäuscht von den Lehrmethoden Stucks gründete er im Mai die Ausstellungsvereinigung „Phalanx“ (1901–1904), der er sehr bald als Präsident vorstand. Im Plakat zur ersten „Phalanx“-Ausstellung (1901), das noch formale Mittel des Jugendstil aufnimmt, arbeitete Kandinsky mit antikisierend aussehenden, geharnischten Rittern, die im zentralen Bildfeld energisch für eine neue Kunst eintreten. Auf der linken Seite deuten Zelten die Belagerung einer Felsenstadt an, womit erstmals russisch konnotierte Motive in seinem Werk auftauchen. Damit handelt es sich um ein durch und durch programmatisches Plakat.
Reisen: impressionistische Landschaften
Die im Winter 1901/02 gegründete private Malschule gleichen Namens akzeptierte auch Frauen. Im Rahmen dieser Lehrtätigkeit traf Kandinsky die 24-jährige Gabriele Münter (1877–1962). Um seiner Ehe zu entfliehen, brachen Wassily Kandinsky und Gabriele Münter im Mai 1904 gemeinsam zu einer mehrjährigen Reise auf: Holland, Tunesien, Dresden, Odessa, Rapallo und schlussendlich ein einjähriger Aufenthalt in Paris und Berlin.
Die Hauptwerke Kandinskys der frühen Münchner Jahre sind zweifellos die russischen Szenen, die um 1903 mit der „Die Braut / Russische Schöne in Landschaft“ (Tempera) als eigenständiges Sujet einsetzen und Höhepunkte in den Bildern „Ankunft der Kaufleute“ (1905), „Reitendes Paar“ (1906/07) und „Das bunte Leben“ (1907, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Leihgabe der Bayern LB) finden.
Gleichzeitig arbeitete Wassily Kandinsky an 108 kleinen „Landschaftsstudien“ (Spachtel auf Pappe), die er zwischen 1900 und etwa 1906 gleichsam beiläufig und zur Entspannung auf verschiedenen Reisen in Oberbayern, der Oberpfalz oder im teils noch recht ländlich geprägten München-Schwabing malte.7 Diese kleinen Bilder auf handelsüblichen Malkartons entstanden stets direkt vor der Natur (en plein-air). Die Landschaften sind mit Pinsel- oder Spachtel gestaltet, der Strich wird im Laufe der Jahre freier und die Farbgebung intensiver. Kandinsky signierte die Skizzen kaum, desgleichen stellte er sie nur wenig aus und publizierte sie selten. Doch arbeitete er einige von ihnen zu größeren, im Atelier gemalten Bildern aus. Im Rückblick erinnerte sich der Maler 1913 wäre er im Atelier allerdings immer vom Ergebnis enttäuscht worden:
„Meine Farben schienen mir schwach, flach, die ganze Studie — eine erfolglose Anstrengung, die Kraft der Natur zu fangen.“8
Offensichtlich befriedigte ihn die malerische Beschäftigung mit dem Naturabbild nicht mehr, da er sich schon längst mit anderen Fragestellungen beschäftigte. Wie lässt sich die Kraft der Natur einfangen? Wie funktioniert ein Bild? Und: Welche Strategien führen zu einer gelungenen Komposition? Welchen [geistigen] Gehalt vermag ein Bild zu transportieren? Wassily Kandinsky war zunehmend an kompositionellen Problemen interessiert und lehnte es ab, die Eindrücke sichtbarer „Realität“ abzubilden. Um 1906 beendete Kandinsky diese Versuche, landschaftliche Szenen festzuhalten. Gerade in diesen Landschaftsstudien hatte er allerdings, ohne dies vielleicht im Nachhinein selbst wahrnehmen zu können, schon längst unbewusst die Entfernung von der sichtbaren Welt vorangetrieben.
Ab 1907/08 führte Wassily Kandinsky beide Zugänge zusammen: die bereits angelegte malerische Tendenz weg vom naturalistischen Motiv hin zum Abstrakten [Landschaftsstudien] bei gleichzeitiger Beibehaltung eines höheren allgemeingültigen Gehalts [russische Szenen] unter dem großen Schlagwort des „Geistigen“.
Obwohl Kandinsky bis 1911 mit seiner ersten Ehefrau verheiratet bliebt, lebten er und Gabriele Münter offen als Paar zusammen. Im Frühjahr 1908 entdeckten sie den Ort Murnau, wo sie gemeinsam mit Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin einen produktiven Malaufenthalt verbrachten. Hier gelang den vier der Durchbruch zum expressiven Malstil.
Wassily Kandinskys zwischen 1908 und 1910 entstandenes Werk ist heterogen und trägt die Spuren der künstlerischen Stilfindung in sich. Zunehmend stellte die künstlerische Abbildung der Natur für Kandinsky eine Vorstufe zur Abstraktion dar. Es ging ihm nicht mehr allein darum, das Gesehene wiederzugeben bzw. zu interpretieren, sondern den Sinneseindruck mit seinen Erfahrungen und inneren Befindlichkeit in Deckung zu bringen. Stilistisch ist er in dieser Zeit noch vom Postimpressionismus, dem Fauvismus rund um Henri Matisse beeinflusst. Zunehmend überführte Kandinsky aber die Motive in leuchtende Farbflächen. Die zeichenhafte Reduktion der Formen befreite die Farben; Rhythmus, Farbe und Komposition wurden ihm zu Medien des Übergange zu einer abstrahierten Naturwiedergabe. Die gegenstandsfremden Farben verändern das Erscheinungsbild, sie bilden - dem Künstler zufolge - Töne und ergeben gemeinsam selbständige Akkorde. Damit trat Kandinsky die Reise ins Reich des „Geistigen in der Kunst“ an, die ihn 1911 zur Abstraktion führte. Vergleichbar der Musik soll Malerei nicht das Wahrnehmbare beschreiben, sondern auf einer abstrakten Ebene, als etwas „Geistiges“ heraufbeschwören.
Zu dieser Zeit begann Wassily Kandinsky, Prosagedichte zu verfassen (1908 bis 1912), die er 1913 im Piper Verlag unter dem Titel „Klänge“ herausgab. Kandinsky verwendete die Methode der Wortwiederholung sowie das Lallen der Laute. Dadurch entleerte er das Wort seines Sinns und gab den reinen Wortklang frei. Dieser Klang - ob als Laut oder als Farbton - versetzt "die Seele in Vibration und Erschütterung", war sich der Künstler bewusst.
Kandinsky und die Neue Künstlervereinigung München
Bevor Wassily Kandinsky gemeinsam mit Franz Marc den Almanach „Der Blaue Reiter“ herausgab, gründete er bereits die „Neue Künstlervereinigung München“, kurz NKVM, als Sammelbecken avantgardistischer Tendenzen (1909–1912). Der noch unbekannte Maler Franz Marc schrieb 1910 eine Entgegnung in der Presse, welche die zweite Ausstellung der NKVM. vernichtend kritisiert hatte. Am Neujahrsabend 1911 lernten die beiden einander persönlich kennen und intensiv zusammenzuarbeiten. Am 8. Oktober wurde ihm auch Paul Klee Kandinsky vorgestellt; die Freundschaft zwischen den beiden Nachbarn in München intensivierte sich allerdings erst während der Bauhaus-Zeit.
Ab etwa 1910 lassen sich zunehmend enger werdende Bezüge zwischen seinen Aquarellen und Zeichnungen, seinen Gemälden sowie den neu entstehenden Farbholzschnitten für das Buch „Klänge“ beobachten. Kandinsky abstrahiert die springenden Reiter oder Darstellungen des hl. Georg zu dynamisch sich kreuzenden Formen in leuchtenden Farben.
Im Herbst 1911 bereiteten Kandinsky und Marc – parallel zur Ausstellungsvorbereitung der NKVM – eine eigene Gruppenausstellung samt Almanach vor. Da Kandinskys abstraktes Werk - „Komposition V“ - aufgrund seiner Größe zurückgewiesen wurde, kam es zum Bruch und zum Austritt. Wenige Wochen später initiierte er gemeinsam mit Franz Marc die insgeheim bereits organisierte Gruppe „Der Blaue Reiter“. Für den Einband des Almanachs „Der Blaue Reiter“ schuf er elf Entwürfe, die beinahe alle einen nach oben springenden Reiter mit einem flatternden Tuch über seinen Kopf. Die Entscheidung fiel auf das blau, weiß, schwarze Aquarell eines bewaffneten Kriegers, der als hl. Georg und damit als Überwinder des Materialismus zugunsten einer Welt des Geistigen verstanden werden kann.
Der Blaue Reiter
So gelang es den Expressionisten die erste Ausstellung bereits im Dezember 1911 zu eröffnen und den Almanach „Der Blaue Reiter“ im Mai 1912 vorzulegen (→ Der Blaue Reiter). Gleichzeitig hatte Wassily Kandinsky auch sein erstes Buch, „Über das Geistige in der Kunst“, (Publikationsjahr 1912) fertiggestellt. Mit den Aufzeichnungen zu einer Farbenlehre hatte er bereits 1904 begonnen.
Der Titel der neuen Vereinigung bezog sich auf die „Blaue Blume“ im Roman „Heinrich von Ofterdingen“ des romantischen Schriftstellers Novalis (1772–1801). Damit wollten die Beteiligten auf die längst sehnsüchtig erwartete abenteuerliche Reise ins Reich „des Geistigen in der Kunst“ anspielen. Eine weitere Anspielung bezieht sich auf den Heiligen Georg zu Pferd, den „Der Blaue Reiter“ auf dem Buchtitel des Almanachs publizierte. Wassily Kandinsky verarbeitete die Idee des Soldatenheiligen sowohl in den frühen 1910er wie auch den abstrakten Werken der Bauhausjahre. Wassily Kandinskys „geistig“ beseelte, konstruierte Abstraktion lässt sich als Grundidee bis in dessen Märchen- und Sagenbilder des Frühwerks zurückverfolgen. In seinen frühesten abstrakten Bildern versuchte Kandinsky, der selbst Synästhet war, verschiedene Sinne gemeinsam anzusprechen. Daraus entwickelte er eine lyrische und poetische Abstraktion, die sich deutlich von den etwas später einsetzenden, auf rationalen Überlegungen basierenden Abstraktionen von Piet Mondrian unterscheiden.9
Kandinskys Abstraktion
Wichtig an Wassily Kandinskys Kunsttheorie ist, dass er von „einem überindividuellen, objektiven und universellen Begriff des Geistes“ (Annegret Hoberg) überzeugt war.10 Er selbst sah die Quelle für seine abstrakte Malerei bei den russischen Ikonenmalern des 10. bis 14. Jahrhunderts und in der russischen Volkskunst. Aber auch die Theosophie bedeutete ihm viel:
„Von dort aus beginnt eine der größten spirituellen Bewegungen, die heute eine große Anzahl von Menschen vereint und in der Theosophischen Gesellschaft materielle Form angenommen hat. Diese Gesellschaft besteht aus Logen, die versuchen, die Probleme des Geistes durch inneres Wissen anzugehen. [...] Und obwohl die Tendenz der Theosophen, eine Theorie zu entwickeln, und ihre etwas voreilige Freude, anstelle des ewigen und riesigen Fragezeichens eine fertige Antwort anzubieten, den Betrachter etwas skeptisch machen mag, bleibt die große spirituelle Bewegung bestehen , der in der spirituellen Atmosphäre ein starker Agent ist und der als ein Klang der Erlösung für viele wartende Herzen kommen wird, die in Dunkelheit und Nacht versunken sind, denn mit ihm erscheint eine Hand, die führt und Hilfe anbietet.“11 (Wassily Kandinsky)
Für Kandinsky war die ungegenständliche Kunst ein Analogon für den Geist, wie er in seinem Buch „Über das Geistige in der Kunst“ und seinem Aufsatz „Über die Formfrage“ im Almanach „Der Blaue Reiter“ ausführte. Seiner neuen Kunst näherte sich der Maler schrittweise an, indem er die Linie als Maßeinheit für Energie und Dynamik einsetzte und die Farbe und ihre Wirkung auf die Betrachter:innen (Bewegungsimpuls, Farbtemperatur, räumliche Wirkung, dynamisches Potenzial, Zusammenwirken) untersuchte.
Ab 1911 kann man beobachten, wie der Maler Kandinsky seine Theorie in die Praxis übersetzte. Zunehmend nutzte er 1912/13 farbintensive Aquarelle als Skizzen zu Bildkompositionen oder Detailstudien. Er arbeitete die energisch gezogenen Linien in Tusche und setzte davon unabhängige Farbwolken dazu. Allerdings entstehen erst Anfang 1914 jene Bilder, die eine voll ausgereifte Abstraktion zeigen.
Kurz darauf gingen František Kupka, Piet Mondrian und Theo van Doesburg sowie Kasimir Malewitsch ebenfalls den Schritt in die Abstraktion, wobei jeder Künstler seinen eigenen Grundsätzen folgte. Bereits um 1900 hatte Hilma af Klint eine aus dem Spiritismus abgeleitete Abstraktion entwickelt.
„Impressionen“ - „Improvisationen“ - „Kompositionen“
Wassily Kandinsky überprüfte in seinen Gemälden immer wieder auch seine in den theoretischen Schriften postulierten Theorien zum Abstraktionsprozess. Mit „Impressionen“ bezeichnete er in seiner Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst“ (geschrieben 1910, publiziert Ende 1911) Eindrücke von der äußeren Natur, eine Art flüchtiges Nachbild. mit „Improvisationen“ spontane Eindrücke von der inneren Natur und mit „Kompositionen“ unbewusste, ganz langsam in ihm entstandene Ausdrücke. Daher gehen den „Kompositionen“ viele Entwürfe voraus; in ihnen gelang Kandinsky die annäherung an die abstrakte oder reine Kunst.
Zwischen dem 25. und 28. November 1913 malte Kandinsky sein Hauptwerk der Münchner Jahre, „Komposition VII“ - mit 2 x 3 Metern das größte Werk Kandinskys. Das Gemälde bereitete er mit mehr als zehn Ölskizzen und über 20 Aquarellen vor. Die Aquarelle werden von Formen und Farben dominiert, deren Bezüge zur Realität nicht mehr (leicht) herzustellen sind. Dennoch werden Linien und Bögen als Chiffren seiner Lieblingsmotive - Reiter, springendes Pferd und hl. Georg - gedeutet. Die Farben und Formen lösten in Kandinsky vielfältige Emotionen aus (vergleichbar mit Musikkompositionen). Der künstlerische Gehalt stellte für ihn das „Geistige“ dar.
„Es mussten viele Jahre vergehen, bis ich durch Fühlen und Denken zu der einfachen Lösung kam, dass die Ziele […] der Natur und der Kunst wesentlich, organisch und weltgesetzlich verschieden sind.“ (Wassily Kandinsky, 1913)
Für die Münchner Phase ist charakteristisch, dass Wassily Kandinsky eine Balance zwischen Konstruktion und Intuition herzustellen suchte. Noch kann das wissende Auge Reste der gegenständlichen Welt - wenn auch in teils stark verschlüsselter Form bzw. in Andeutungen - erkennen. In Verbindung mit den weitgehend aufgelösten Formen bilden sie den „seelichen“ Klang. Da Kandinsky seine Malerei an der Musik orientierte, schwebte ihm allerdings schon früh eine gänzlich ungegenständliche Kunst vor, die aus „rein malerischen“, von der Natur unabhängigen Elementen aufbauen wollte. Mit Werken wie „Fuga“ (1913/14) tastete er sich in diesen Bereich der Malerei vor.
Russland (1914–1921)
Als „feindlicher Ausländer“ musste Wassily Kandinsky das Deutsche Kaiserreich verlassen und reiste zunächst in die Schweiz, wo er Klee kontaktierte, bevor er im November in seine Heimatstadt Moskau zurückkehrte. Gabriele Münter übersiedelte in das neutrale Stockholm und lagerte das Werk von Kandinsky ein. Im Winter 1916 traf sich das Paar in Schweden und trennte sich. Nur wenig später lernte Wassily Kandinsky Nina Andrejewsky kennen, die er am 11. Februar 1917 heiratete. Der gemeinsame Sohn Wsewolod (1917–1920) verstarb im Alter von drei Jahren.
In den Jahren 1914 und 1915 malte Kandinsky fast nichts. Er arbeitete fast ausschließlich in Aquarell und Hinterglasmalerei; seine Werke sind überraschend gegenständlich und sein teilweise figürlich naiv gezeichnetes Personal mutete an wie eine Erinnerung an seine frühe Zeit: Damen in Reifröcken und russischen Märchenfiguren bewegen sich leichtfüßig durch schwebende Farbräume.
Erst während seines Aufenthaltes in Stockholm 1916 entstanden wieder erste Ölgemälde, darunter das abstrakte „Bild auf hellem Grund“ (Musée national d'art moderne, Centre Pompidou, Paris). Nach seiner Rückkehr malte Kandinsky eine Serie von Ausblicken aus dem Fenster seiner Wohnung in gegenständlichem, impressionistischem Stil mit locker zusammenfassenden Pinselstrichen und lichten, bunten, delikat abgestuften Farben.
Nach der Russischen Revolution hatte Wassily Kandinsky sein gesamtes Vermögen verloren. Dennoch arbeitete er aktiv an der Neuordnung der russischen Kunstszene nach der Revolution mit und übernahm Leitungsfunktionen in Moskau. Das Lehrprogramm des im Mai 1920 gegründeten Instituts für Künstlerische Kultur (INChUK) wurde von den Vertretern des Konstruktivismus als subjektiv zurückgewiesen; Kandinskys Kunstauffassung wurde als „bourgeois [bürgerlich]“ zurückgewiesen (→ Chagall bis Malewitsch. Russische Avantgarden). Dennoch wurde er Anfang 1921 in das Komitee zur Gründung einer Russischen Akademie der Kunstwissenschaften berufen. Sein dafür geschriebenes Konzept lässt an das Bauhaus in Weimar denken: Kandinsky forderte eine Synthese von Künsten und Wissenschaften, die in einem Gesamtkunstwerk (vgl. die Bühnenkomposition „Der Gelbe Klang“, 1912) realisiert werden sollte. Aufgrund der kunstpolitischen Schwierigkeiten und der schlechten Versorgungslage, verließen Wassily und Nina Kandinsky im Dezember 1921 Russland und zogen nach Berlin.
In Russland arbeitete Wassily Kandinsky ab 1920 an einer neuen Formensprache, welche am russischen Konstruktivismus geschult ist. „Roter Fleck II“ (1921, Lenbachhaus, München) markiert den Beginn einer neuen Phase in Kandinskys Werk. Ohne die Berührung mit Werken von Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin, Ljubow Popowa u. a., ist der fundamentalen Wandel der Ausdrucksformen in Kandinskys Arbeiten nicht erklärbar. Kandinsky nutzt nun präzise gesetzte Körper und Flächen, eine geometrische Aufgliederung der Bildelemente und einen geglätteten Farbauftrag. Neue Elemente in seiner ungegenständlicher Malerei sind geometrische Formen, darunter auch Trapez, Streifen und Schachbrettmuster, vor nunmehr offenem Bildraum. Die wichtigsten Unterschiede zu den Werken der Künstleruktivist:innen ist Kandinskys weiche Begrenzungen und unregelmäßige Zusammenstellungen. Teils scheinen die Formen und Elemente in Drehbewegungen versetzt zu sein oder zu „stürzen“. Die heftige Ausdrucksgewalt der Bilder vor dem Ersten Weltkrieg ist einem kühlen, scheinbar rationalen Kompositionsschema reiner Einzelformen gewichen.
Bezogen sich die Konstruktivist:innen konzeptuell auf die moderne, zukünftige, technologisierte Welt, so lehnte Wassily Kandinsky diese Zielrichtung der Kunst grundweg ab. Stattdessen etablierte er auf der Leinwand einen eigenständigen, von der Welt unabhängigen „Kosmos“. Dies führte dazu, dass seine Kollegen Kandinskys abstrakte Malerei als „bürgerlich“ und „geistig“ ablehnten. In „Der Arbeitsplan für die Malerei“ im Programm der INChUK erklärte Kandinsky sein Kunstwollen, das noch Jahrzehnte später den Theoretiker zu einer wichtigen Quelle für die Malerei der Amerikanischen Abstrakten Expressionisten machte:
„Die Ausdrucksmittel der Malerei erscheinen in der Form der Zeichnung und in der Farbform. [...] Die Form der Zeichnung wird zurückgeführt auf: 1. die Linie und auf ihren Ausgangspunkt, den Punkt, und 2. die Fläche, die von der inie hervorgebracht wird. Diese zwei Elemente der Form der Zeichnung zerfallen demnach in zwei Gruppen: 1. die Gruppe der Linien und Flächen mit schematischem oder mathematischem Charakter: die gerade, gekrümmte, parabolische Linie (Zickzacklinie) [...] 2. die Gruppe der Linien und Flächen freien Charakters, die für eine Geometrie-Terminologie ungeeignet ist.
Es ist notwendig, die Beziehung zwischen der Linienbewegung und der Bewegung des menschlichen Körpers im Ganzen und in seinen Teilen festzustellen: um die Linien in Körperbewegungen und die Körperbewegungen in Linien zu überführen. Solche Beobachtungen müssen sowohl in Worten als auch grafisch aufgezeichnet werden. Von diesen erwähnten Aufzeichnungen wird später sozusagen ein Wörterbuch der verallgemeinerten Bewegungen gebildet.“12
Kandinsky am Bauhaus (1922–1932)
Im März 1922 besuchte Walter Gropius Wassily Kandinsky in Berlin und lud ihn ein, als Lehrer ans Bauhaus zu kommen. Am 1. Juli 1922 trat Wassily Kandinsky in den Lehrkörper in Weimar ein. Wie Paul Klee wurde ihm ein Teil der Grundausbildung übertragen: „Gestaltungslehre Farbe“, „Analytisches Zeichnen“, künstlerische Leitung der Werkstatt für Wandmalerei. Schon zwei Jahre später sah sich der Maler im Zentrum einer Debatte von Mitgliedern der konservativen Thüringer Landesregierung, die ihn als „Kommunisten uhnd geführlichen Agitator“ brandmarkten. Deshalb sah sich Kandinsky gezungen, Weimar zu verlassen und nach Dresden zu übersiedeln. Dort beteiligte er sich kurz an den Bemühungen zur Wiederbelebung der Kunstakademie.
„Synth. Arbeit im Raum, also mit dem Bau zusammen, ist mein alter Traum (leider der einzige größere Versuch - meine Ausmalung des Empfangszimmers eines Kunst-Museums im Auftrag der Juryfreien, 1922 am Lehrter Bahnhof bei diesem Verein ausgestellt), den ich zu verwirklichen hoffte, als ich an das Bauhaus ging (aber leider vergeblich bis jetzt). Aber: außer der synth. Mitarbeit erwarte ich von jeder Kunst eine weitere, mächtige, noch nicht da gewesene innere Entwicklung, ganz und gar von äußeren Zwecken befreite Vertiefung in den menschlichen Geist, der den Weltgeist erst zu berühren anfängt. Und ebenso Malerei! Die vollkommen in sich geschlossene Wesen zu schaffen berufen ist.“13 (Wassily Kandinsky in einem Brief an Will Grohmann, 5.10.1924)
Im Juni 1925 zog Wassily Kandinksy erneut mit dem Bauhaus nach Dessau um, wo er die Einrichtung freier Malklassen forderte. Grund dafür war die zunehmende Ausrichtung des Bauhaus auf Industriedesign, was u.a. in der großen Ausstellung zum fünfjährigen Bauhaus-Jubiläum 1923 unter dem Titel „Kunst und Technik - eine neue Einheit“ deutlich zutage trat. Da weder das von Gropius entworfene Hochschulgebäude noch die Wohnhäuser für die Bauhausmeister fertiggestellt waren, als das Bauhaus umzog, konnte sich Kandinsky selbst in diesem Bereich versuchen. Er teilte sich ein Doppelhaus mit Paul Klee und dessen Familie. Indem er die architektonische Form der Räume mit Wandmalerei verstärkte, sollte deren Eindruck gesteigert werden. Er ließ das Wohnzimmer in beruhigenden Rosa-, Elfenbeinweiß- und Blattgoldtönen ausmalen, wodurch die Kantigkeit der Gropius'schen Architektur aufgeweicht wurde. Das Wohnzimmer wurde in Weiß und Schwarz ausgemalt und mit den schlichten Möbeln von Marcel Breuer ausgestattet. Vermutlich empfand Kandinsky in diesen Jahren Schwarz nicht als Trauerfarbe, sondern als perfekten Kontrast, vor dem Farben besonders leuchtend hervortreten, wobei der Schwarz-Weiß-Kontrast für Klarheit und Prägnanz sorgen sollten.14
Um 1922 begegnete Wassily Kandinsky dem Problem der unzureichenden Wahrnehmung alles Äußerlichen mit der Entwicklung der „kosmischen“ Abstraktion. Durch sie sollte Grundlegenderes als das bloß oberflächlich Sichtbare darstellbar werden. Durch seine Lehre am Bauhaus sah sich Kandinsky bestärkt, seine Überlegungen zu den künstlerischen Mitteln abstrakter Malerei weiter zu systematisieren und seine eigenen synthetischen Vorstellungen von einem Gesamtkunstwerk weiterzuentwickeln. Zeitlebens bildete die Unterscheidbarkeit von Figur und Grund eine zentrale Kategorie in Kandinskys Werk. Als Karl Peter Röhl mit „Styl 1923 Weimar - Komposition abstrakt“ (Sprengel Museum Hannover) - in Nachfolge des Konstruktivisten Theo van Doesburg - eine streng geometrische Abstraktion am Bauahaus festschreiben wollte, für die die Fläche in verschieden große Rechtecke geteilt wird, antwortete Kandinsky mit „Im schwarzen Rechteck“ (Juni 1923, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York) eine dynamische und emphatische Komposition: schwarzer Grund, darauf ein verzogenes weißes Quadrat (Fenstereffekt), darin oder darauf bunte, Formen (Figuren) in rhthmischer Anordnung. Die Flut an Details lässt das Bild wie eine emphatische Ansammlung von Einzelformen erscheinen.
Das Motiv des Kreises sollte für Kandinsky zu einem zentralen Element während der Jahre am Bauhaus werden. Kandinsky bedeutete er in dieser Phase die perfekte, spannungsreichste Form für sein bildnerisches Anliegen – „ich liebe den Kreis heute, wie ich früher z. B. das Pferd geliebt habe“. Der Wechsel zu geometrischen Formen setzt sein Streben nach immer reineren Formen, die keinerlei Erinnerungen an ablenkende Assoziationen hervorrufen, fort:
„Die 'geometrischen' oder 'freien' Grenzen, die nicht an einen Gegenstand gebunden sind, rufen, wie die Farben, Erregungen hervor, die aber weniger präzise festgelegt sind als diejenigen eines Gegenstandes. Sie sind freier, elastischer, abstrakter.“
Dass Kandinsky mit dieser Form der Abstraktion stets bei der Repräsentation von 'Figuren' blieb, seien sie nun gegenständlich oder abstrakt, unterscheidet ihn von anderen Abstrakten, etwa in reiner Farbfeldmalerei.
Mitte der 1920er Jahre weisen Kandinskys Gemälde jene Eigenschaften auf, die er in seinem Vorkurs-Unterricht an seine Schülerinnen und Schüler weitergeben hoffte: die Analyse der drei Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis, ergänzt durch Linien (Horizontale, Vertikale, Diagonale, „Freie Gebogene“, „Wellenartige“, „Geschwungene“) und Schachbrettmuster, die beim Betrachten „Seelenvibrationen“ erzeugen sollten. Dennoch ging es ihm nicht um eine sachliche Analyse, sondern um das Zusammenspiel von Farben und Formen. Seine Publiktion „Punkt und Linie zu Fläche“ (1926, Band 9 der bauhausbücher) fasst Kandinskys Untersuchungen dieser Grundelemente der Malerei - aber auch seiner Lehre am Bauhaus - zusammen. Bereits 1923 hatte er an Schüler und Privatpersonen einen Fragebogen ausgeteilt, mit Hilfe dessen er ein wissenschaftlich (empirisch) haltbares Gesetz der Korrelation zwischen Grundfabren und Grundformen aufstellen wollte. Darüber hinausgehend, finden sich in der Publiaktion aber auch weltanschauliche Bekenntnisse des Künstlers, der den (toten) „Materialismus“ ablehnte und das (lebendige) „Geistige“ verlangte. Den Punkt erklärte er zum „Urelement der Malerei“, in „unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen ud Sprechen“. Die Linie stellt für Kandinsky den größten Gegensatz zum Punkt dar, da sie für ihn Bewegung ausstrahlte.
„Einen Versuch in dieser Richtung habe ich in meinem Buch 'Punkt und Linie zu Fläche' gemacht: die Analyse des Äußeren der Form soll Wegweiser zu ihrem Inneren aufstellen.“15 (Wassily Kandinsky)
Ab Oktober 1932 unterrichtete er im ehemaligen Bauhaus, nun das private „Freie Lehr- und Forschungsinstitut“ in Berlin. Am 16. Dezember 1933 verließ er zusammen mit Nina Deutschland und traf am 21. Dezember in Paris ein. Mehrmals wurde ihm eine Lehrtätigkeit in den USA angeboten (1931 Arts Students League in New York, 1935 Black Mountain College in Asheville), die der Maler jedoch alle ausschlug.
Paris (1933–1944)
Die Kandinskys wohnten in Neuilly-sur-Seine. Der bis zu seinem Lebensende täglich malende Kandinsky wurde von Christian Zervos in einer Einzelausstellung 1934 dem Pariser Publikum vorgestellt. Allerdings konnte es sich nicht so recht für dessen Malerei erwärmen. Während der 1920er und auch noch in den 1930er Jahren hatte es Kandinsky schwer, mit seiner Kunst Anerkennung zu finden. Häufig wurden seine abstrakten Kompositionen als „dekorativ“ abgetan. Der wichtigste Sammler des Künstlers wurde der New Yorker Solomon Guggenheim, der sich für ungegenständliche Kunst begeisterte (→ Guggenheim Museum: Solomon R. Guggenheim & ungegenständliche Kunst). Guggenheim kaufte auch aus der Ausstellung „Entartete Kunst“, in der 14 Werke Kandinskys gezeigt wurden. Insgesamt wurden 57 Werke Kandinskys aus deutschen Museen konfisziert und verkauft. Obwohl Kandinsky mehrfach eingeladen worden ist (u. a. von Josef Albers), nach Amerika zu emigrieren, lehnte er ab.
„Die abstrakte Malerei verlässt die „Haut“ der Natur, aber nicht ihre Gesetze.“ (Wassily Kandinsky, 1937)
Als Frida Kahlo 1939 erstmals ihre Werke in Europa zeigte, ging Kandinsky zur Eröffnung: Die Gemeinschaftsausstellung „Mexique“ hatten André Breton und Marcel Duchamp für die Pariser Galerie Renout et Colle organisiert. Kandinsky schilderte dem Ehepaar Albers seine Eindrücke:
„Es sind alte mexikanische Kunstwerke dabei […], aber auch viel Kunsthandwerk und schließlich eine große Zahl an Gemälden von Diego Riveras Gattin mit stark surrealistischem Einschlag. Sie war selbst anwesend und atemberaubend in ihrer mexikanischen Tracht.“16
Tod
Im Frühjahr 1944 erkrankte Wassily Kandinsky, er arbeitete aber bis Ende Juli weiter. Am 25. August wurde Paris durch die Alliierten von den Deutschen Besatzern befreit. Am 13. Dezember 1944 starb Kandinsky im Alter von 78 Jahren an einem Hirnschlag.
Literatur zu Wassily Kandinsky
- Karl Nierendorf, Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, Zürich 2019.
- Christian Weikop, Die deutschen Expressionisten und Matisse 1908-1912, in: Inspiration Matisse, hg. v. Peter Kropmanns und Ulrike Lorenz (Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim, Mannheim, 2019), S. 74-81.
- Klee & Kandinsky. Nachbarn - Freunde - Konkurrenten, hg. v. Michael Baumgarten, Annegret Hoberg, Christine Hopfengarten (Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee, Bern, 19.6.-27.9.2015; Lenbachhaus, München, 21.10.2015-24.1.2016), München 2015.
- Annegret Hoberg, Kandinsky - "Naturwelt" und eine neue "Kunstwelt", in: Klee & Kandinsky. Nachbarn - Freunde - Konkurrenten, hg. v. Michael Baumgarten, Annegret Hoberg, Christine Hopfengarten (Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee, Bern, 19.6.-27.9.2015; Lenbachhaus, München, 21.10.2015-24.1.2016), München 2015, S. 280-291.
- Wassily Kandinsky, Briefe an Will Grohmann 1923-1943, hg. v. Barbara Wörwag, unter Mitarbeit von Annegret Hoberg, München 2015.
- Gegen Kandinsky, hg. v. Margarita Tupitsyn, Jo-Anne Birnie Danzker (Ausst.-Kat. Museum Villa Stuck, München, 23.11.2006-18.2.2007), Ostfildern 2006.
- Annette und Luc Vezin, Kandinsky und der Blaue Reiter, Paris 1991.
- Kandinsky: Russian and Bauhaus Years, 1915-1933 (Ausst.-Kat. The Solomon R. Guggenheim Museum, New York), New York 1983.
- Clark V. Poling, Kandinsky: Russian and Bauhaus Years, 1915-1933, in: Kandinsky: Russian and Bauhaus Years, 1915-1933 (Ausst.-Kat. The Solomon R. Guggenheim Museum, New York), New York 1983, S. 12-83.
- Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (München 1926), mit einer Einleitung von Max Bill, Bern 1955.
- Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, München 1912.
Beiträge zu Wassily Kandinsky
- 48
- 56
- 4
- Kandinsky 1901-1913, Berlin 1913, S. III-XXIX, Zitiert nach: Wassily Kandinsky, Autobiographische Schriften, hg. v. Hans K. Roethel und Jelena Hahl-Koch, Bern 2004, S. 27-50, hier S. 32.
- 73
- Zit. n. Kandinsky, Gesammelte Schriften, hg. v. Helmuth Friedel, München 2007, S. 44.
- Bis 1907 etnstanden etwa 170 Ölskizzen, die ein relativ einheitliches Erscheinungsbild haben.
- Wassily Kandinsky, „Rückblicke“, 1913, zit. n., Wassily Kandinsky, Die gesammelten Schriften, hg. von Hans K. Roethel und Jelena Hahl-Koch, Bd. 1, Bern 1980, S. 36.
- Piet Mondrians Abstraktion ist mehr im Sinne Paul Klees als universaler Urgrund aller Natur [auch der reinen Malerei] zu verstehen.
- Annegret Hoberg, Kandinsky - "Naturwelt" und eine neue "Kunstwelt", in: Klee & Kandinsky. Nachbarn - Freunde - Konkurrenten, hg. v. Michael Baumgarten, Annegret Hoberg, Christine Hopfengarten (Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee, Bern, 19.6.-27.9.2015; Lenbachhaus, München, 21.10.2015-24.1.2016), München 2015, S. 280-291, hier S. 280.
- Wassily Kandinsky, Über das Geistige der Kunst [1911], München 1912.
- zit. n. Margarita Tupitsyn, Gegen Kandinsky, in: Gegen Kandinsky, hg. v. Margarita Tupitsyn, Jo-Anne Birnie Danzker (Ausst.-Kat. Museum Villa Stuck, München, 23.11.2006-18.2.2007), Ostfildern 2006, S. 18-135, hier S. 75.
- Wassily Kandinsky, Briefe an Will Grohmann 1923-1943, hg. v. Barbara Wörwag, unter Mitarbeit von Annegret Hoberg, München 2015, S. 59.
- Clark V. Poling, Kandinsky: Russian and Bauhaus Years, 1915-1933, in: Kandinsky: Russian and Bauhaus Years, 1915-1933 (Ausst.-Kat. The Solomon R. Guggenheim Museum, New York), New York 1983, S. 12-83, hier S. 57.
- Brief an Anni und Josef Albers, 17.3.1939, Zitiert nach: Kandinsky – Albers. Une correspondence des années trente, in: Les Cahiers du musée national d’art moderne, Sonderausgabe Archiv, Paris, November 1998, S. 129.