Düsseldorf / K20: Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård
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K20: Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård Schriftsteller zeigt unbekannten Munch

Edvard Munch, Unter den Sternen, Detail, 1900-1905, Öl/Lw, 90 x 129 cm (Munchmuseet Oslo)

Edvard Munch, Unter den Sternen, Detail, 1900-1905, Öl/Lw, 90 x 129 cm (Munchmuseet Oslo)

Er gilt als der bekannteste und wichtigste norwegische Autor der Gegenwart: Karl Ove Knausgård. Sein sechsbändiger autobiographischer Roman zählt weltweit zu den meist diskutierten Buch-Veröffentlichungen der vergangenen Jahre. Nun hat sich der Schriftsteller dem Werk des Malers Edvard Munch genähert. Mit seiner überraschenden Auswahl selten oder sogar nie gezeigter Werke entdeckt der gefeierte Autor einen bislang „unbekannten“ Munch. Ein Munch jenseits der 1890er Jahre, als der Norweger seine berühmtesten Bilder schuf: „Melancholie“, „Der Schrei“, „Eifersucht“, „Asche“ aber auch die verführerisch-abstoßende „Madonna“ und den „Vampir“ oder „Tod im Krankenzimmer“ (→ Edvard Munchs Druckgrafik).

„In der Kunst geht es ebenso sehr darum
zu suchen wie darum zu erschaffen.
Aber wenn es so ist, wonach?
Nach Eingängen zur Wirklichkeit,
nach Öffnungen zur Welt.“
Karl Ove Knausgård

Münch in Düsseldorf

Die Ausstellung „Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård“ zeigt Munch „nach“ Munch, nach dessen psychischer Krise, als expressiver Maler mit einem vielschichten Werk, das in etwa 60 Jahren entstanden ist. Der auch in Kunstgeschichte ausgebildete Schriftsteller hat 135 Gemälde, Arbeiten auf Papier und Skulpturen aus dem Archiv und dem Kunstdepot des Munch Museum in Oslo ausgewählt und mit vier Leihgaben aus dem Nationalmuseum in Oslo, dem Museum Folkwang in Essen, dem Kunstmuseum Bern und dem Moderna Museet in Stockholm ergänzt. Er öffnet damit eine Perspektive auf den wohl bedeutendsten Maler der skandinavischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts fernab jeglicher Krisenstimmung.

Munch in Düsseldorf entdeckt einen Künstler neu: Munchs Bilder zeigen fröhliche Knaben beim Bad im Meer, sonnenbeschienene oder schneebedeckte Landschaften, Bauern bei der Ernte oder beim Pflügen des Feldes, Waldeinblicke mit knorrigen Baumstämmen. Einzig die Bilder der „Boheme“ sowie weiblicher Akte fasst Knausgård unter dem Überbegriff „Chaos und Kraft“ zusammen. Frauenakte spiegeln das lebenslang andauernde, wenn auch schwierige Verhältnis des Künstlers zu Frauen wider. Dass Edvard Munch auch ein gefragter Porträtist war, weist die Ausstellung im Kapitel „Die Anderen“ hin. Die Ölgemälde sind lebensgroß und schmal, meist elegant und mit interessant steil aufsteigenden Raumdarstellungen im Hintergrund gestaltet. Auf das Wesentliche konzentriert und doch abbildhaft, wusste Edvard Munch den Eindruck der Persönlichkeiten als unabhängige Individuen zu steigern.

Seiner eigenen Person wandte sich der ungebundene Maler ebenfalls häufig zu. In Düsseldorf spannen zwei Selbstporträts aus den Jahren 1888 und der Mitte der 1920er den zeitlichen Bogen der Ausstellung auf. Obschon sie formal höchst ähnlich gestaltet sind, stellt das symbolistische Frühwerk Munch in einen undifferenzierten Raum mit starkem Schlagschatten im Gesicht. Das Spätwerk hingegen positioniert den Maler vor eine durchfensterte Wand. Die Architektur verleiht der Figur Stabilität im Raumgefüge und bindet sie in die Welt gleichsam ein.

Seit Jahren weisen Experten immer wieder darauf hin, dass Edvard Munch seinen Ruf als alter, etwas skurriler Sonderling selbst mitprägte. Der Mythos des wegtherapierten Künstlergenies hält einer jüngeren Überprüfung genauso wenig stand wie der des unbedarften Expressionisten. Gemeinhin galt das Urteil, dass Munchs Kreativität und künstlerische Kraft durch den Nervenzusammenbruch 1908/09, hervorgerufen durch Überanstrengung und extensivem Alkoholismus, sowie der anschließenden Therapie durch Dr. Daniel Jacobson in Kopenhagen gleichsam wegtherapiert worden wäre. Eine Folge dieser Annahme war, dass das späte Werk des Norwegers über lange Jahrzehnte hinweg wenig bis überhaupt nicht beachtet wurde, während das Frühwerk der 1880er und 1890er Jahre den Ruhm Munchs und seine Stellung als ein Begründer der Modernen Kunst festigte.

Edvard Munch: „Die Sonne“

Das Bild „Die Sonne“ (1912, Munch-Museum, Oslo) fasziniert Karl Ove Knausgård so sehr, dass er es als Ausgangspunkt seines Katalogtextes nahm. „Die Sonne, die aus dem Meer aufsteigt und ihr lebensspendendes Licht hinausschleudert“, steht – so Knausgård – prototypisch für „Licht und Landschaft“ und die Suche nach „dem Ikonischen, also dem visuell Essenziellen in einem Motiv“.1 Das Motiv der Sonne deutet der norwegische Schriftsteller als das Symbol für Munchs Liebe zum Leben, zur Farbe und zum Malen. Deshalb stellt er sie an den Beginn seiner Betrachtung des expressiven Malers Edvard Munch.

Edvard Munch hatte in den 1880er Jahren die französische Avantgarde vor allem in Form von Impressionismus und Symbolismus rezipiert und zu einem neuen Höhepunkt geführt. Er verwandelte die norwegische Landschaft in eine Seelenlandschaft und schilderte sie als Ort zwischenmenschlicher Konflikte. Seine Landschaften zeigen einen hohen Grad an formaler Vereinfachung bis hin zur Formauflösung, wie sie Paul Gauguin von seinen Nachfolgern und Schülern forderte. Nach 1900 lässt sich eine Lösung Munchs von den narrativen Inhalten seiner frühen Werke beobachten. Immer häufiger ist der Mensch in der Natur arbeitend oder seine Freizeit genießend dargestellt. Manchmal fehlt er, und Munch konzentriert sich ganz auf die Stimmung einer Landschaftsform und der Jahreszeit. Munch stilisierte die Vegetation und die Landmassen gerne zu gewellten Linien. Vor allem seine nächtlichen Landschaften zeugen von stillen Visionen und gemahnen manchmal an einen übernatürlichen Zustand. Dabei blieb Munch der symbolistischen Auffassung der Spiegelung seines Seelenzustands in der Natur weiterhin verbunden:

„Ich malte die Farben und Linien, die ich in einem emotionalen Zustand gesehen hatte – und ich war dann in der Lage, die bebende emotionale Atmosphäre noch einmal zu schaffen.“2

1909 kehrte Munch nach mehrjährigem Aufenthalt im Ausland (Paris, Berlin, Warnmünde) in seine Heimat zurück. Sofort bewarb er sich um den Auftrag für die Dekoration der Aula der Universität von Oslo. Dadurch wollte er seinen Ruf als Künstler festigen und durch die Wahl der Motive seiner Weltsicht Ausdruck verleihen. Da Norwegen 1905 seine nationale Unabhängigkeit von Schweden durchgesetzt hatte, sollte auch das norwegische Nationalgefühl die Bilder bestimmen. Munchs erster Entwurf „Der Menschenberg“ – eine Pyramide menschlicher Körper, die der Sonnen entgegenstreben incl. Sphinx – wurde abgelehnt. „Die Sonne“ zählt zu den finalen Entwürfen, in denen Edvard Munch der Kontinuität, dem Wachstum und der Landschaft huldigte („Die Geschichte“, „Alma Mater“, „Die Sonne“). Für das zentrale Bild „Die Sonne“ schuf Munch mehrere Entwürfe auf Leinwand. Die in Düsseldorf ausgestellte Fassung zeigt eine aufgehende Sonne über dem Meer, gesehen durch ein nahezu symmetrisches Felsental. Von seiner nach Osten ausgerichteten Terrasse des Gutes Skrubben in Kragerø konnte Munch den Sonnenaufgang über Skragerrak beobachten. Außerdem las er Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ (1883–1885) und August Strindbergs „Auf der Sonne“, in denen die Sonnenmetaphorik ebenfalls gewürdigt wird. In der Osloer Aula wird das zentrale Gemälde „Die Sonne“ zu beiden Seiten von Bildern mit Darstellungen weiblicher und männlicher Akte flankiert. Die Sonne und ihre Strahlen stehen demnach für Energie und Vitalität.

Munchs variantenreiche Maltechniken

Die Ausstellung im K20 zeigt deutlich, welchen gekonnten und überlegten Einsatz der Malmittel Munchs Bilder auszeichnen.3 Als erstes skizzierte Edvard Munch die Komposition kursorisch auf ein Stück Papier. Dann arbeitete Munch auf der Leinwand über einer schnellen Vorzeichnung seines Körpers und des Bettes mit verschieden stark verdünnter Ölfarbe. An einigen Stellen läuft sie sogar wie Wasserfarbe über die Leinwand. Da Munch die Farben rein nebeneinanderstellen wollte, verwendete er saubere Pinsel und verschmierte die Farben nicht miteinander. Wie Paul Cézanne, mit dem Edvard Munchs Maltechnik schon während seiner Lebzeiten immer wieder verglichen wurde, lässt er den Malgrund durchscheinen. Seit 1885 experimentierte er dafür mit einer Grundierung aus Leinöl-Standöl und Terpentin bzw. Dammarfirnis mit Leinöl, um das Gewebe mit einer durchsichtigen Lasur zu verschließen. Ebenfalls seit den 1890er Jahren kann man beobachten, wie Munch mit schnellem Pinselstrich, pastosen Ölfarben für markante Stellen, fließender Farbe und der Reservetechnik4 arbeitete.

„Die Idee war, die Oberfläche aufzubrechen und in die Tiefe zu gehen – es war eine Art von Kubismus.“5 (Edvard Munch)

Edvard Munchs Werk nach 1900 zeigt eine auffallende Vielfalt der Maltechniken, die von pastosem zu dünnem Farbauftrag und Abkratzen der Malschicht reicht. Faktur und Ausführung zeigen, wie sehr sich der Maler sich auf experimentelle Weise mit Fragen des Malerischen beschäftigte. Auch nach seiner Therapie setzte Edvard Munch, zurückgezogen in Ekely lebend, seine malerischen Experimente fort. Dafür zog er bereits entwickelte Kompositionen und Themenstellungen erneut heran, denn er vertrat die Ansicht, dass er alle wichtigen Themen bereits in seinem Frühwerk aufgegriffen und dafür vollgültige Bilder geschaffen hatte. Die Palette des späteren Bildes ist jedoch reicher, die Details ausdifferenzierter. Die flachen, ondulierenden Formen des Jugendstils sind einer „naturalistischeren“ wenn auch expressiven Auffassung im Spätwerk gewichen.

„Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård“ ist eine Ausstellung des Munch Museum in Oslo in Zusammenarbeit mit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Sie findet in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen parallel zur Frankfurter Buchmesse statt, die 2019 Norwegen als Gastland vorstellt.

„Für die Ausstellung durchforstete Knausgård die Sammlungsmagazine im Munch Museum auf der Jagd nach Werken, die Munch in neuem Licht erscheinen lassen“, beschreibt Stein Olav Henrichsen, Direktor des Munch Museums in Oslo, das Entstehen der Ausstellung im Herbst 2017 ebendort. Gemeinsam mit Karl Ove Knausgård konnte die Ausstellung in Düsseldorf um einige wichtige Bilder erweitert werden. Mit „Edvard Munch – gesehen von Karl Ove Knausgård“ ist es gelungen, eine neue Perspektive auf einen der bedeutendsten Künstler an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu eröffnen.

Konzept und Werkauswahl von Karl Ove Knausgård.
Kuratiert von Susanne Gaensheimer, Anette Kruszynski.

Edvard Munch – gesehen von Karl Ove Knausgård: Ausstellungskatalog

Susanne Gaensheimer, Anette Kruszynski, Stein Olav Henrichsen (Hg.)
mit Beiträgen u.a. von Karl Ove Knausgård und Anette Kruszynski
184 Seiten
ISBN 978-3-941773-53-0

„Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård“ ist eine Ausstellung des Munch Museum in Oslo in Zusammenarbeit mit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.

Edvard Munch in Düsseldorf: Bilder

  • Edvard Munch, Winterlandschaft aus Kragerø, 1910, Öl auf Leinwand, 94 × 96 cm (Munchmuseet, Oslo)
  • Edvard Munch, Die Sonne, 1912, Öl auf Leinwand, 123 x 176,5 cm (Munchmuseet, Oslo)
  • Edvard Munch, Frau mit Mohn, 1918–19, Öl auf Leinwand, 100 x 75 cm (Munchmuseet, Oslo)
  • Edvard Munch, Baumstämme und Wälder, Edvard Munch – gesehen von Karl Ove Knausgård, Ausstellungsansicht, K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2019
  • Edvard Munch, Porträts, Edvard Munch – gesehen von Karl Ove Knausgård, Ausstellungsansicht, K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2019

Beiträge zu Edvard Munch

9. April 2024
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20. März 2024
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  1. Karl Ove Knausgård, Licht und Landschaft, in: Edvard Munch gesehen von Karl Ove Knausgård (Ausst.-Kat. K20, Düsseldorf, 2019), S. 15.
  2. Zitiert nach Ebenda, S. 43.
  3. Für eine Detailanalyse siehe auch: Mille Stein, Patterns in Munch’s Painting Technique, in: Ebenda, S. 31–43.
  4. Darunter versteht man das Herausarbeiten zweier Formen nebeneinander, wobei der Spalt dazwischen (auch Kontur) mit einer dritten Farbe gefüllt wird, nachdem die Farbfelder bereits angetrocknet sind.
  5. Zitiert nach Gary Garrels, Jon-Ove Steihaug and Sheena Wagstaff, Introduction, in: Edvard Munch: Selfportrait between the Clock and the Bed (Ausst.-Kat. San Francisco Museum of Modern Art; The Met Breuer, New York; Munch Museum Oslo), New York 2017, S. 17–19, hier S. 17.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.