Surrealismus
Surrealismus in der Kunst: Definition
Surrealismus (franz. Über-Wirklichkeit) ist kein Stil und auch keine Kunstrichtung, sondern beschreibt eine antibürgerliche Lebenshaltung bzw. eine Kunst, die sich dem Traum (Albtraum), dem Fantastischen, dem Irrationalen, der Erotik, dem Tabubruch bewusst öffnet, um der Barbarei des Ersten Weltkriegs aber auch dem Kolonialismus neue Sichtweisen entgegenzuhalten. Mit Kunst und Literatur sollten das rationale Weltbild infrage gestellt sowie überhaupt eine revolutionäre, freie und neue Kunst geschaffen werden.
„schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ (Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror, 6. Gesang)
In Anschluss an die Traumdeutung und die Theorie des Unbewussten in den Schriften Sigmunds Freuds wollten die Surrealist:innen den unbewussten Zuständen menschlichen Lebens einen fundamental neuen Stellenwert verleihen. Sie positionierten sich und ihre Kunst im Gegensatz zu Materialismus, Positivismus, Rationalismus und die Herrschaft der Logik, repräsentiert durch Staat, Kirche, bürgerlicher Familie, Sexualmoral und Untertanengeist. Assoziationen, künstlerische Zusammenarbeit und neuartige Techniken der „Nichtkomposition“ wie das Aufschreiben von Traumfetzen, Hypnose, automatisches Schreiben und Zeichnen sollten eine Auflösung der Grenzen bürgerlicher Moral- und Wertvorstellungen aber auch des traditionellen Schönheitsbegriffs als Grundlage der Kunst bezwecken. Wichtige Vorläufer sahen die Künstler des Surrealismus sowohl in der Kunst der Frührenaissance und dem Expressionismus, der Kunst des Dadaismus wie auch in außereuropäischen Kunstwerken (Afrika, Ozeanien und Neukaledonien). Künstlerinnen und Künstler arbeiteten mit Mythen, dem Unbewussten, Traum, Zufall, Metamorphose; sie nutzten wissenschaftliche und literarische Quellen (Sigmund Freud und Marquis de Sade). Zu ihren bevorzugten Gattungen zählten Malerei, Assemblage, Materialexperimente, inszenierte Fotografie, wobei auch medienübergreifende Arbeiten geschaffen wurden.
„Der Surrealismus ist keine poetische Form. Er ist ein Aufschrei des Geistes, der zu sich selbst zurückkehrt“1 (Antonin Artaud, Anfang 1925)
Zur Gründunggeschichte des Pariser Surrealismus gehören eine Handvoll Literaten, einige Maler und ein am 15. Oktober 1924 publiziertes, erstes Manifest. Das von André Breton (Tinchebray 1896–1966 Paris) verfasste Manifest, zählt heute neben seiner zweiten, aktualisierten Version von 1929, den von den Surrealisten herausgegebenen Zeitschriften wie den von ihnen veranstalteten Ausstellung zu den wichtigsten Quellen der avantgardistisch-revolutionären Ziele der Gruppe
Die Gründungsmitglieder des Surrealismus wurden nahezu alle in den 1890er Jahren geboren, während die Surrealistinnen – oft als Freundinnen der Protagonisten – ca. 10 bis 20 Jahre jünger waren und um 1930 zur Gruppe dazustießen. Nachdem in den 1920er Jahren noch Literatur und Poesie im Zentrum surrealistischer Theorie gestanden hatten, verlagerte sich die Produktion in den 1930er Jahren auf die bildende Kunst, und durch die Ausstellungen, die internationale Vernetzung und nicht zuletzt das Exil während des Zweiten Weltkriegs verbreiteten sich die Ideen auch auf andere Kontinente.
Die Literaten der Gruppe stammten hauptsächlich aus Frankreich, die Bildenden Künstler:innen waren hingegen international und kamen aus Frankreich, Deutschland, England, Belgien, Spanien, Österreich, der Tschechoslowakei, der Schweiz, Skandinavien, später Mexiko und den USA nach Paris, um sich in der Seine-Metropole ausbilden zu lassen bzw. die jüngsten Impulse aufzunehmen.
Hier findest du die wichtigsten → Surrealismus: Ausstellungen 2024
Surrealismus - eine Chronologie
Die früheste gemeinsame Publikation der späteren Kerngruppe des Surrealismus - Louis Aragon, André Breton, Jean Cocteau, Pierre Reverdy und Philippe Soupault - erschein bereits im Januar 1916 in der Avantgardezeitschrift „SIC“. Mitten im Ersten Weltkrieg versammelte sich eine Gruppe von Literaten, um dem Irrsinn der Welt eine Über-Wirklichkeit entgegenzuhalten. Zeitgleich formierte sich in Zürich eine ähnlich gelagerte Künstler:innen-Gruppe rund um Hugo Ball und Emmy Hennings im Cabaret Voltaire; Ihre Zusammenarbeit mit Tristan Tzara, Hans Arp und später Sophie Taeuber-Arp markiert den Anfang des Dadaismus.
Die Schriftsteller besuchten einander häufig, Guillaume Apollinaire hatte Gemälde von Pablo Picasso und Georges Braque aber auch Plastiken aus Afrika und Ozeanien in seiner Wohnung. Im Jahr 1917 prägte Apollinaire das Wort „surrealistisch“ als Untertitel für sein Theaterstück „Les Mamelles de Tirésias: drame surréaliste en deux actes et un prologue [Die Brüste von Tiresias]“.2
Von März bis April 1918 leisteten Aragon und Breton Dienst in der Abteilung für Geisteskranke im Hôpital d’instruction des armées du Val-de-Grâce und lasen die Werke des Comte de Lautréamont. Erst nach Ende des Kriegs kamen die Künstler wieder in Paris zusammen: Breton und Paul Eluard lernten einander im Mai kennen. Duchamp zog im Juli 1919 von Amerika nach Paris zurück, er lernte Breton im Frühsommer 1921 kennen. Francis Picabias Werke wurden beim Herbstsalon (1.11.-10.12.) unter der Treppe aufgehängt, worauf die Künstler einen Skandal entfachten.
Les champs magnétiques
In „Les champs magnétiques“, dem ersten Sammelband des Surrealismus, wandten Breton und Philippe Soupault 1920 erstmals konsequent die Technik des Écriture automatique an; illustriert wurde das Buch von Francis Picabia. Im folgenden Jahr übersiedelten André Masson und Joan Miró nach Paris und bezogen ein Atelier in der Rue Blomet 45. Aus dieser Ateliernachbarschaft entwickelte sich eine Keimzelle des malerischen Surrealismus. Als der wichtigste frühe Surrealist gilt aber Max Ernst, der 1921 für die Ausstellung „Exposition Dada Max Ernst“ in der Galerie Au Sans Pareil (3.5.-3.6.1921) nach Paris kam und ab Ende 1922 blieb. Ebenfalls 1921 reiste André Breton nach Wien, um Sigmund Freud zu besuchen.
André Breton bezog 1922 eine Wohnung in der Pariser Rue Fontaine 42, die für die Dauer des Surrealismus zum neuralgischen Zentrum der Bewegung wurde. Die Künstler führten dort u.a. Experimente mit Hypnose durch. Es entstand 1922 auch „Au rendez-vous des amis“ von Max Ernst: Gruppenporträt von Freunden aus der Dada-Zeit, den Anfängen des Surrealismus und ihren Inspirationsquellen.
Surrealismus versus Dadaismus
Erstmals kam die Frage auf, welche gesellschaftliche Verantwortung Kunst und die Künstler hätten, womit sich die Surrealisten von den Dadaisten abspalteten und sogar gegen diese polemisierten. Als „Gründungsjahr“ für die surrealistische Malerei kann damit 1923 bezeichnet werden, da nach der konfliktreichen Abspaltung von den Dadaisten, Künstler wie Max Ernst und André Masson begannen, eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Teils ist diese durch automatische Äußerungen bestimmt, die Zeichnung (à la Raffael!) steht im Vordergrund, die Inhalte waren dem Unbewussten, dem Traumzustand, der Poesie, dem Absurden, dem Gefährlichen, dem Geheimnisvollen gewidmet. Die Entwicklung eines gemeinsamen Stils - im Sinne einer Recherche nach malerischen Möglichkeiten wie sie mit persönlichen Abstrichen im Impressionismus, Kubismus (Zerstörung der Form) und der Abstrakten Kunst erprobt wurde - ist im Surrealismus kein Ziel. Stattdessen geht es den Künstlern um Verformungen des Alltäglichen, Erfindungen phantastischer Momente, Metamorphosen, Zusammenstellungen beziehungsloser Gegenstände, die Darstellung von Sex und Gewalt.
Écriture automatique und Cadavres exquis
Die von den Surrealisten schon früh propagierte Technik des automatischen Schreibens [franz. écriture automatique], Zeichnens und Malens [franz. cadavres exquis, dt. köstliche Leichen] – in einem quasi halbbewussten, trancehaften Zustand – wurde zunächst in den frühen 1920er Jahren von André Masson praktiziert. Was sich zuerst in der Poesie bewährte, wurde ab 1926 in der Zeichnung weitergeführt.
Das Spiel mit dem Zufall, der Überraschung, dem Unbewussten waren ein zentrales Ziel der Surrealisten, weshalb sie sich früh für das autmatische Schreiben begeisterten. Eines Nachts im Jahr 1926 kam, so Simone Kahn3, beim sprachlichen Aneinanderfügen von zufälligen Worten in der Gruppe der Satz „Le cadavre – exquis – boira – le vin – nouveau [Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken]“ heraus. Die Spielenden hatten die Idee, die Technik auch auf Bilder anzuwenden. Dabei wurde Papier gefaltet, und jeder Teilnehmer führte eine Zeichnung fort, ohne zu sehen, was die Vorgänger dargestellt hatten. Der psychische Prozess im Betrachter, der durch das Aufeinandertreffen widersprüchlicher Gegenstände innerlich in Gang gesetzt werden sollte, stand im Vordergrund surrealistischer Theorie und wurde mit solchen Text- oder Bildarbeiten initiiert. Alle arbeiteten im kollektiven Prozess zusammen, was die demokratische (um nicht zu sagen sozialistische), antihierarchische Grundhaltung der Surrealistinnen und Surrealisten gut widerspiegelt.
Das erste Surrealistische Manifest (15. Oktober 1924) – die wichtigsten Argumente
Im „Manifest des Surrealismus. Löslicher Fisch“, veröffentlicht von André Breton in Paris, 1924, umriss er die Grundprinzipien und Inspirationsquellen des Surrealismus. Die Künstler bekannten sich zu ihrem verlorenen Glauben an das „reale Leben“, definieren den Menschen als „entschiedenen Träumer“, der seine grenzenlose Fantasie „nur noch erlaubt, sich nach den Gesetzen einer willkürlichen Nützlichkeit zu betätigen“. Materialismus, Positivismus, Rationalismus und die Herrschaft der Logik werden zu feindlichen Haltungen, die Intellektualität und Moral verkümmern lassen. Ideen wie „Freiheit“ faszinieren die Unterzeichner, in Halluzinationen und Illusionen finden sie „Quellen des Genusses“. Daher bewerten sie den „Wahnsinnigen“ neu, der oftmals seiner Freiheit beraubt wird, sobald er als „Opfer ihrer Einbildungskraft“ die „gewisse Konventionen nicht beachten“. Den „Stil der bloßen Information“ (v. a. in Romanen) strafen sie mit Verachtung und beschwören im selben Atemzug Aberglaube und Hirngespinste. Mit den Worten „Insofern sind wir Freud zu Dank verpflichtet“, stellen sich die Surrealisten in den Windschatten des berühmten „Vaters“ der Psychoanalyse und vor allem der Traumdeutung. Der Begriff „Surrealität“ soll eine „künftige Auflösung der scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität“ bezeichnen. In der Folge beschreibt Breton eine Reihe von surrealistischen Techniken, die sich allesamt „durch einen sehr hohen Grad von unmittelbarer Absurdität auszeichnen“:
SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt: Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.
Vorbilder der Surrealist:innen
Für die Bildende Kunst bedeutet der Surrealismus eine Fortführung der fantastischen Aspekte wie Metamorphosen, die von vielen Forschern in ähnlicher Form im Manierismus und Symbolismus ausgeprägt sehen, aber auch Neuschöpfung kreativer Techniken wie die Décalcomanie (Farbabklatsch), das Fotogramm (Direktbelichtung des Films ohne Kamera) und Grattage (Abkratzen von Malschichten). Obwohl die Surrealisten von einer Revolution sprachen, sahen sie sich dennoch in der Entwicklungsgeschichte der Bildenden Kunst verankert. Im Ersten Surrealistischen Manifest, das Ende 1924 herausgegeben wurde, werden in einer Fußnote folgende Künstler als Vorbilder bezeichnet:
„Uccello, Seurat, Gustave Moreau, Matisse (in „La Musique“ zum Beispiel), Derain, Picasso (bei weitem der reinste), Braque, Duchamp, Picabia, Giorgio de Chirico (so lange bewundernswert), Klee, Man Ray, Max Ernst und, uns so nahe, André Masson.“
In dieser Auflistung findet sich eine interessante Reihe von Vorbildern und Mitgliedern der ersten Generation der Surrealisten. Vom Florentiner Renaissancemaler Paolo Uccello4 (eigentlich Paolo di Dono, Florenz 1397–1475) springt die Liste ans Ende des 19. Jahrhunderts und bringt mit Georges-Pierre Seurat (Paris 1859–1891 Paris → Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus) den jung verstorbenen Erfinder des Pointillismus mit dem wichtigsten Symbolisten Frankreichs, Gustave Moreau (Paris 1826–1898 Paris), zusammen. Dieser war auch der liberale Lehrer von Henri Matisse (Le Cateau-Cambrésis/Frankreich 1869–1954 Nizza), der mit dem Gemälde „Die Musik“ für den russischen Kunstmäzen Sergei Iwanowitsch Schtschukin „innere Ausgeglichenheit durch Vereinfachung der Ideen und gestaltenden Formen erreichen“ (Henri Matisse) wollte.
André Derain (Chatou/Frankreich 1880–1954 Garches/Frankreich) war anfangs Mitglied des Fauvismus rund um Matisse, entwickelte jedoch ab 1908 gemeinsam mit Pablo Picasso (Malaga/Spanien 1881–1973 Mougins/Frankreich) und Georges Braque (Argenteuil 1882–1963 Paris) die Grundlagen des Kubismus. Das Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ (1907) wurde von Breton in Picassos Atelier als Meisterwerk entdeckt und dem Sammler Jacques Doucet zum Kauf empfahl. Nachdem dieser Ende 1924 das Werk direkt von Picasso erworben hatte, wurde es 1925 in der Zeitschrift „La Révolution surréaliste“ erstmals abgebildet.
Von Marcel Duchamp (Blainville 1887–1968 Paris) und Francis Picabia (Paris 1879–1953 Paris → Francis Picabia: Unser Kopf ist rund) lernten die Surrealisten Poesie, analytisches Denken und Nonsenslogik. Die beiden hatten einander 1911 in Paris kennen gelernt und freundeten sich an. Im Jahr 1915 übersiedelten sie nach New York City, wo sie Man Ray (Philadelphia/USA 1890–1976 Paris) trafen. Dieser hatte 1913 in der berühmten Armory Show das Gemälde „Akt, die Treppe herabsteigend, Nr. 2“ (1912) von Marcel Duchamp gesehen, mit dem der französische Maler Bewegung darstellen wollte. Man Ray war so fasziniert, dass er ein halbes Jahr selbst nicht mehr künstlerisch arbeiten konnte. Zu dritt entwickelten Duchamp, Picabia und Man Ray eine neue, individuelle Ausdrucksweise, die als DADA New York und später Paris berühmt wurde. Duchamp wurde in diesen Jahren ein Objekt- und Konzeptkünstler, und drückte seine Ideen in unkonventionellen Medien aus. Drunter auch ein Urinal, das unter dem Titel „Fountain“ 1917 nicht in einer Ausstellung gezeigt werden durfte. Die Diskussion um die handwerkliche Fertigung eines Kunstwerks gilt heute als Wendepunkt in der Geschichte der Moderne. Picabia hingegen blieb sein gesamtes Leben bei der Malerei, wenn er auch Fotografie und Objektkunst zusätzlich nutzte.
Die Surrealisten schätzten Giorgio de Chirico für seine Gemälde mit geheimnisvollen Arkaden, menschenleeren Plätzen und Figurinen (manichini). Noch 1941 fasste André Breton den Eindruck von De Chiricos Gemälden zusammen: „Die Bilder von Chirico vor 1918 sind die einzigen, die immer vor den Augen der Jüngeren standhielten, den strengsten und misstrauischsten in den letzten 20 Jahren. Man kann sagen, dass unter all den Bildern, die gleichzeitig entstanden, die seinen wirklich einmalig hervorragen; und, weil sie die am wenigsten konformistisch Gesinnten, übrigens die entgegengesetztesten Geister, um sich zu versammeln vermögen, bleibt ihre Ausstrahlungsmacht ungeheuer; sie stehen noch ganz am Anfang ihrer Wirkungsgeschichte.“5 Die Rückkehr des italienischen Malers zu einer realistischen Kunst im Jahr 1918 führte zur partiellen Abwendung unter dem Schlagwort, nur bis 1918 wäre seine Kunst von Bedeutung.
Paul Klee brachte den Surrealisten bei, dass die Vereinfachung moderner Kunst auch durch Kinderaugen gelingen konnte.
„Sie hatten recht, Paul Klee, einem anderen Sternpflücker Léon-Paul Fargue die rote Leiter, die sich in den Taubenhimmelsäther verliert, zu widmen. Doch da das Haus, wo die Fische wohnen, Aquarium heißt, taufe ich jenes, in dem Ihre Bilder sich wie Fenster auf ein zartes, aber unwiderlegbares Wunder öffnen: Coelarium.“6 (Léon-Paul Fargue über Paul Klee 1928)
Mit Man Ray, Max Ernst und André Masson werden ein Fotograf bzw. Objektkünstler und zwei Maler als erste wirkliche Mitglieder der Surrealistischen Bewegung genannt. Wie kam es dazu?
Von La Révolution surréaliste zu Surrealismus und Malerei bis Minotaure
La Révolution surréaliste
„La Révolution surréaliste“, eine von André Breton 1925 gegründete Zeitschrift, begründete das Engagement der Surrealisten für die Revolution und den Kommunismus. Später folgte „Le Surréalisme au service de la revolution [Surrealismus im Dienste der Revolution]“ (1930–1933).
Surrealismus und Malerei
Mit „Surrealismus und Malerei“ legte André Breton eine erste Monographie zur surrealistischen Malerei vor. Enthalten sind Werke von Max Ernst, Giorgio de Chirico, Joan Miró, Georges Braque, Hans Arp, Francis Picabia, Pablo Picasso, Man Ray, André Masson und Yves Tanguy.
In den Jahren zwischen 1926 und 1929 hatte der Surrealismus in der Kunst enormes Interesse auf sich lenken können. Pablo Picasso näherte sich bereits 1926 der Gruppe an. Im selben Jahr formierte sich die Brüsseler Surrealistengruppe unter Beteiligung von René Magritte, E.L.T. Mesens, Paul Nougé, Camille Goemans, Marcel Lecomte. Sie belgischen Surrealisten traten bald in Korrespondenz mit der Pariser Bewegung. René Magritte zog 1927 in den Pariser Vorort Le Perreux-sur-Marne, wo er drei Jahre blieb - und dann wegen zu geringem Erfolgs wieder nach Brüssel zurückkehrte. Salvador Dalí und Luis Buñuel schlossen sich 1929 der surrealistischen Bewegung an.
Minotaure
Die Literatur- und Kunstzeitschrift „Minotaure“ wurde von 1933 bis 1939 von A. Skira & E. Tériade herausgegeben. Unter der Ägide von André Breton bot sie ein Forum für alle, die sich für Kunst, Poesie, Ethnographie, Archäologie und Psychoanalyse interessierten. Der Ansatz war interdisziplinär, grenzüberschreitend und scheute keine Kontroversen. Der Titel war inspiriert von dem gefährlichen Mischwesen aus der griechischen Mythologie, halb Mensch, halb Stier, gefangen in seinem kretischen Labyrinth. Das Monster verkörperte alles Dionysische und Irrationale, das Labyrinth die innere Reise des suchenden Menschen. Durch das kulturphilosophische Denken von Nietzsche und Freud sind diese dunklen psychischen Kräfte eng mit der Schaffung von Kunst verbunden. Mit der Gestaltung der Titelbilder gaben nicht nur Picasso und Duchamp, Miró und Dalí, Ernst und Masson, sondern auch Magritte der Zeitschrift ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht.
Das zweite Surrealistische Manifest (1930)
André Breton, Louis Aragon, Paul Éluard und Pierre Unik hatten sich 1927 der Kommunistischen Partei Frankreichs angeschlossen. Die Veröffentlichung des „Zweiten Manifests des Surrealismus“ drei Jahre später besiegelte den militanten Kurswechsel der Bewegung, die sich in den Dienst der Revolution stellte und sich die philosophischen Grundlagen des Marxismus zu eigen machte. Auf der Suche nach einer Methode, mit der sich das Unbewusste und die Reallität miteinander verbinden ließe, nahm die Gruppe den 1929 nach Paris übersiedelten Salvador Dalí und dessen Kritische Paranoia mit weit geöffneten Armen auf; Dalí illustrierte sogleich das zweite surrealistische Manifest. Im „Dictionnaire abrégé du surréalisme“ (1938) definierten sie Breton und Éluard Kritische Paranoia als „eine spontane Methode irrationaler Erkenntnis, die auf der kritisch-systematischen Objektivierung wahnhafter Assoziationen und Interpretationen beruht“.
Alberto Giacometti prägte mit „Hängender Ball“ (1930) als erster das surrealistische Objekt. Die erste Einzelausstellung von Salvador Dalí fand in der Pariser Galerie Goemans statt.
Surrealismus in Ausstellungen
1936: Die Ausstellung „Exposition surréaliste d’objets“ in der Pariser Galerie Charles Ratton zeigte unter anderem Werke von Alexander Calder sowie ethnische Objekte aus Afrika und Ozeanien. Die „International Surrealist Exhibition [Internationale Surrealisten-Ausstellung]“ in der New Burlington Gallery in London. In Belgien wurde die Ausstellung von E.L.T. koordiniert. Mesens.
Ein Jahr später weihte André Breton die Galerie Gradiva, 31 rue de Seine, Paris, ein. Von den Aktivitäten begeistert, schlossen sich Roberto Matta und Esteban Francés 1938 der surrealistischen Bewegung an.
Surrealismus in Belgien
André Breton hielt 1935 den Vortrag „Qu’est-ce que le surréalisme? [Was ist Surrealismus?]“ Brüsseler Maison des Huit Heures. Die Broschüre zeigt eine Titelillustration von René Magritte.
Surrealismus in den USA
Für die weitere Entwicklung des Surrealismus spielen die USA und Mexiko entscheidende Rollen.
1931 erfolgte die Einweihung der Julien Levy Gallery in New York, der ersten amerikanischen Galerie, die sich auf Surrealismus spezialisierte. René Magrittes hatte dort seine erste Einzelausstellung im Jahr 1936.
Die Ausstellung „Fantastic Art, Dada, Surrealism [Fantastische Kunst, Dada, Surrealismus]“ im New Yorker MoMA, kuratiert von Alfred H. Barr, besiegelte den Erfolg des Surrealismus in Amerika.
Ihr Ruhm und ihre Kontakte ergmlichte mehreren Surrealist:innen, in die USA ins Exil zu gehen, darunter André Breton, Max Ernst und André Masson. Dort trafen sie wieder auf Marcel Duchamp, Roberto Matta und Yves Tanguy. Die surrealistische Malerin Kay Sage, wohlhabende Tochter eines New Yorker Senators, hatte ihren Freund:innen schon vor Peggy Guggenheim das Auswandern ermöglicht. Die Ausstellung „Artists in Exile“ in der New Yorker Pierre Matisse Gallery stellte die Gruppe dem amerikanischen Publikum vor.
In „Prolegomena zu einem dritten Manifest des Surrealismus oder nicht“, abgedruckt in „Écrits complets“, plädierte André Breton für einen zeitgenössischen kollektiven Mythos. Diese Vorstellung wurde vor allem für die amerikanischen Künstler:innen wie etwas Jackson Pollock wichtig. Auf Jackson Pollocks erste Einzelausstellung in Peggy Guggenheims „Art of This Century“-Galerie in New York 1943 folgte die „Ausstellung von 31 Frauen“ mit Kunstwerken unter anderem von Leonor Fini, Valentine Hugo, Méret Oppenheim, Kay Sage und Dorothea Tanning.
Surrealismus in Mexiko
André Breton besuchte Diego Rivera, Frida Kahlo und Leo Trotzki 1938 in Mexiko. Anschließend setzte er seine Reisen nach Mittelamerika und in die Karibik fort. Im Folgejahr war die Ausstellung „Exposicion internacional del surrealism“ in Mexiko-Stadt zu sehen. Daraufhin schloss sich Wifredo Lam der surrealistischen Bewegung an.
Surrealismus in der Nachkriegszeit
Die von der Londoner Arcade Gallery organisierte Ausstellung „Surrealist Diversity, 1915–1945“ versammelte die während des Krieges vertriebenen Surrealisten bereits 1945 wieder.
André Breton kehrte 1946 nach Paris zurück. Mit „Le Surréalisme en 1947“ fand in der Galerie Maeght die erste Ausstellung in Paris nach dem Zweiten Weltkrieg statt (1947).
Paul Delvaux und André Masson nahmen an der „II. documenta“ in Kassel in der Abteilung „Kunst nach 1945“ teil.
Nach dem Tod von André Breton in Paris (1966) und dem Tod von René Magritte in Brüssel (1967) erfolgte die offizielle Auflösung der surrealistischen Bewegung in Paris 1969.
Surrealismus und Primitivismus
Es leben Menschen, von denen wir glauben, dass sie den Primitiven noch sehr nahestehen, viel näher als wie, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten Wilden [...] deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gute erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen. Wenn diese Voraussetzungen zutreffend sind, so wird eine Vergleichung der "Psychologie der Naturvölker", wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt geworden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen und wird uns gestatten, bereits Bekanntes hier und dort in neuem Licht zu sehen.7 (Sigmund Freud, Totem und Tabu, 1913)
Ab 1905 wurden außereuropäische Kunstwerke für Maler und Bildhauer wie Pablo Picasso, Constantin Brancuşi oder Amedeo Modigliani zu Impulsgebern für die Klassische Moderne. Anfangs beschäftigten sich die Künstler mit der Nachahmung der Formen und der Lebenswelt (vor allem die deutschen Expressionisten der Brücke). Diese Phase lässt sich als Exotismus oder Primitivismus bezeichnen.
Im Dadaismus ging es den Beteiligten um die Dekosntruktion der Sprache und des Akademismus. In diesem Sinne wird der Dadaismus häufig als künstlerischer und literarischer Primitivismus beschrieben.
Der Surrealismus ist gekennzeichnet durch eine große und auch aktive Sammelleidenschaft, die sowohl die Charakteristika von Aneignung wie Verteidigung tragen. Die bereits kanonisierten Formen der Skulpturen der Kota und die Masken der Fang zogen mit ihren emblematischen Gestaltungsweisen die Surrealisten gleichsam magisch an. Erste Publikationen über afrikanische Kunst gab es in den 1910er Jahren (z. B. Carl Einstein, Guillaume Apollinaire, Paul Guillaume), hier konnten die Künstler des Surrealismus bereits anschließen. Gleichzeitig öffneten sie sich weiteren Kulturregionen der Welt: Sie präsentierten ihre Werke gemeinsam mit Objekten aus Afrika, Ozeanien, beide Amerikas, Neukaledonien - sowohl in traditionellen Ausstellungen wie auch Publikationen.
Damit wollten sie Kunst und Rezeption von Kunst revolutionieren. Es ging den Künstlern des Surrealismus darum, ästhetische Normen der schönen Künste und die Hierarchien der Kulturen zu stürzen. In den außereuropäischen Exponaten sahen sie auch Hilfsmittel, um eine symbolische Gewalt gegen den Westen zu entfessen. Daher unterstützten sie die in kolonaler Fremdherrschaft gefangenen Ethnien in ihrem Kampf. Dieser Antikolonialismus ging auch aus dem Bündnis der Surrealisten mit der kommunistischen Partei Frankreichs und deren Fundamentalkritik am Imperialismus hervor. Erst die Ausstellung „Primitivism in 20th Century Art" im Museum of Modern Art stellte 1984 diese hohe Bedeutung der außereuropäischen Kulturen für die Entwicklung des Surrealismus wieder heraus.8
Surrealismus und Fotografie
Die Surrealisten waren, nach Wolfgang Kemp, „Benutzer und nicht vorrangig Autoren der Fotografie“9. Damit ist gemeint, dass sie nicht hauptsächlich um des Bildes willen fotografierten, sondern Fotografien nutzten, d.h. mit Montagetechniken arbeiteten, um das Unerwartete, das Phantastische, das Sonderbare hervorzubringen (vgl. Pierre Marc Orlan, 1928). Die jüngere Forschung hat vor allem die Leistungen der Surrealistinnen in den Fokus genommen, wodurch sich der Blick auf die surrealistsiche Fotografie veschiebt. Zu den wichtigsten Fotografinnen des Surrealismus zählt Claude Cahun, die sich in ihren fotografischen Selbstporträts inszeniert und so Geschlecht und Identität einer kritischen Prüfung unterzieht. Künstlerinnen wie Dora Maar suchten in der Dunkelkammer und mithilfe manipulativer Techniken dem fotografischen Bild einen neuen Ausdruck zu verleihen.
Für die surrealistische Fotografie entwickelten Surrealisten und Surrealistinnen „reine“, abstrakte und abstrahierende Verfahren. Die Foto- und Filmpraxis des Surrealismus ist von der Nachbearbeitung geprägt: Die Surrealistinnen und Surrealisten bildeten Negative ab, machten Mehrfachbelichtungen, sengten das Filmmaterial teilweise an, nahmen optische Verzerrungen auf oder Erwärmten die Gelatineschicht.
Zu den ersten Vertretern gehört Man Ray, der bereits in den frühen 1920er Jahren mit technischen Experimenten begonnen hat. Er entwickelte oder adaptierte Techniken wie die Rayografie (Fotogramm), die Solariation (gemeinsam mit Lee Miller, auch: Sabattier-Effekt), die Fotomontage und die Fotozeichnung. Seine Fotogramme betitelte er 1922 mit „champs délicieux [köstliche Felder]“. Das Vorwort von Tristan Tzara hatte die Überschrift: „La Photographie à l’envers [Die verkehrte Fotografie oder Die Fotografie andersherum]“ Noch im selben Jahr stellte auch die „Vanity Fair“ die neue Methode der Rayografie vor.
Die Rayografie war ein Verfahren, das von Talbot angewandt hatte, als er Spitzen und Blätter im Kontaktabzug abbildete. Bereits 1918 hatte Christian Schad in Zürich ähnliche Bilder hergestellt, die er Schadografien nannte. Auch im Bauhaus spielte das Fotogramm eine große Rolle. Für die Pariser Dada-Gruppe, der Ray angehörte, waren diese Selbstabbildungen pures „Dada“. Deshalb waren sie auch den Surrealisten nahe. Indem sie das Medium von menschlicher und apparativer Einwirkung befreiten, nahmen sie das Schreiben mit Licht“ wörtlich. Salvador Dalí äußerte sich begeistert über surrealistische Fotogramme:
„Die Hand greift nicht mehr ein. Feine physikalisch-chemische Harmonien.“
Die Solarisation bedeutete während des Entwicklungsprozesses in der Dunkelkammer Licht zuzuführen. Dadurch entstand eine partielle Umkehr der Lichteinwirkung: Teile des Bildes erscheinen als Negativ-, anders als Positivbild, Konturen verschwinden und werden durch parallele Licht- und Dunkelbänder begleitet, Körper lösen sich zugleich auf und werden plastisch erhärtet.10 Der Effekt speist sich aus der Koexistenz von Positiv- und Negativbild, der einer Aurafotografie nicht unähnlich ist.
Die „reine“ Fotografie, welche auf all diese Manipulationsmöglichkeiten verzichtete, basiert auf den Pariser Stadtbildern von Eugène Atget (1857–1927). Vor allem Fotografen wie Louis Aragon entdeckte 1926 in „Le paysan de Paris“ die surrealen Qualitäten der Wirklichkeit wieder. Brassaï (Gyula Halász, 1899–1984) veröffentlichte den Bildband „Paris de nuit [Paris bei Nacht]“ und sammelte – auf Anregungen von Picasso – zwischen 1932 und 1938 die Graffiti von Paris. Inspiriert wurde dafür von seinem ungarischen Landsmann André Kertész (1894–1985). Eli Lotars (Eliazar Lotar Teodorescu, 1905–1969) Fotografien von geschlachteten Kälbern gelten heute als bedeutende Werke des Surrealismus.
Peggy Guggenheim, Sammlerin und Galeristin des Surrealimus
Zu den frühesten internationalen Förderinnen des Surrealismus zählt Peggy Guggenheim (1898–1979). Die wohlhabende Erbin aus New York, deren Onkel Solomon R. Guggenheim die ungegenständliche Kunst sammelte und das gleichnamige Museum begründete (→ Das Guggenheim Museum: Solomon R. Guggenheim und die ungegenständliche Kunst), begann sich 1937 für zeitgenössische Kunst zu interessieren. Angeleitet von Marcel Duchamp sammelte sie Werke des Surrealismus. Ihr erstes Gemälde war Paul Delvaux' „L’Aurore“ (1937). In ihrer Londoner Galerie Guggenheim Jeune organisierte Peggy Guggenheim zwischen Jänner 1938 und 1939 zwanzig Ausstellungen, die erste stellte das Werk von Jean Cocetau vor. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindete die Eröffnung eines Museums für zeitgenössische Kunst in London. Stattdessen kaufte Guggenheim bis 1947 den Grundstock ihrer später so berühmten Sammlung. Mit ihrer Art of This Century Gallery in New York verwirklichte sie ihren Traum von einem kommerziell geführten Museum (1942-1947). Hier brachte die vielseitig interssierte Galeristin die emigrierten Surrealisten mit der sich formierenden Schule von New York zusamen. Der in der Mitte der 1940er Jahre entwickelte Abstrakte Expressionismus geht in vielen Elementen auf die Neubewertung des Unbewussten durch den Surrealismus zurück.
Künstlerinnen und Künstler des Surrealismus
Max Ernst - der erste Maler des Surrealismus
Der Rheinländer Max Ernst wandte sich 1919 dem Dadaismus zu und begann mit Fotomontagen zu arbeiten. Im Jahr 1922 verließ er seine Frau und seinen Sohn und übersiedelte nach Paris. Hier malte er von Traumfetzen inspirierte Kompositionen und wurde dafür im Ersten surrealistischen Manifest als einziger Maler erwähnt. In den folgenden Jahren malte er „stillos“ und erfand Maltechniken, mit denen er das automatische Schreiben der Literatenfreunde auf die Malerei übertrug:
- Frottage: Durchreiben von vorgefundenen Strukturen auf einen Bildträger - z. B. „Histoire naturelle“ (1925)
- Grattage: Herunterkratzen von angetrockneter Farbe
- Decalcomanie: Abklatschen von noch feuchter Farbe auf einen Malgrund
- Oszillation: automatisches Schreiben von Linien auf einem Bildträger durch Schwingen einer leckenden Farbdose
In seiner Malerei wechseln sich poetische Schneeblumen-Kompositionen mit Urwaldbildern, Inseln mit Sonnenscheibe, tote Wälder, Tropfsteinhöhlen aus Südfrankreich etc. ab. Die Flucht vor den Nationalsozialisten gelang Max Ernst 1940 mit Hilfe seiner späteren zweiten Ehefrau Peggy Guggenheim. Die Ehe mit der berühmten und exzentrischen Sammlerin währte nur kurz. 1943 ließ sich Max Ernst von Peggy Guggenheim scheiden, um mit der amerikanischen Malerin Dorothea Tanning nach Arizona zu übersiedeln. Im Jahr 1953 kehrte der Künstler wieder nach Frankreich zurück. Ein Jahr später gewann er den Großen Preis für Malerei auf der 27. Biennale von Venedig, weshalb ihn André Breton aus der Gruppe des Surrealismus ausschloss.
Joan Miró - poetische Symbolkunst
Das Frühwerk des Katalanen Joan Miró ist geprägt von dessen Auseinandersetzung mit Expressionismus (Fauvismus), Kubismus und Realismus. Mit Gemälden des „poetischen Realismus“, scheinbar naive, stark vereinfachte Darstellungen des bäuerlichen Lebens aus der Umgebung von Barcelona, gelang ihm der Durchbruch in Paris, wo er sich seit 1920 jedes Jahr für mehrere Monate aufhielt. Dem Surrealismus stand Joan Miró ab 1923/24 nahe, als er begann Formen zu Symbolen zu verwandeln, deren Beziehungen zueinander nicht mehr logisch zu klären sind. Mit den Mitte der 1920er Jahre entstandenen „Traumbildern“ schloss er sich inhaltlich der Gruppe an, auch wenn sein Lebensstil kaum einen Surrealisten vermuten hätte lassen.
Zum Bruch mit den Künstlern des Surrealismus kam es 1928/29, nachdem Joan Miró auf einer Hollandreise Werke der niederländischen Genremalerei des Goldenen Zeitalters (17. Jahrhundert) studierte. In den „Holländischen Interieurs“ verwandelte er Motive von geschätzten Bildern in seine surreaistische Bildsprache. Die Auseinandersetzung mit den Alten Meistern - vielleicht aber auch seine Hochzeit - stürzten den Maler 1929 in eine tiefe Kriese, die er durch die „Ermordung der Malerei“ zu lösen hoffte. In den Ende der 1920er Jahre entstandenen Collagen und Assemblagen arbeitete er kaum mehr mit Ölfarbe, sondern schuf Assoziationsmöglichkeiten in 3D. „Wilde Bilder“ ermöglichten Joan Miró die Malerei für sich selbst wiederzuentdecken. Die Beschäftigung mit Sternenbildern schloss diese Phase ab.
Der reife Stil von Joan Miró ist geprägt von der Lust am Malen wie am plastischen Gestalten. Großformatige Aufträge waren äußerliche Zeichen für seinen zunehmenden Ruhm. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte André Breton bereits beschlossen, das Miró kein Surrealist mehr wäre.
Alberto Giacometti - Bildhauer des Surrealismus
Anfang Januar 1922 übersiedelte der Schweizer Maler Alberto Giacometti nach Paris, wo er an der Académie de la Grande Chaumière bei Antoine Bourdelle Unterricht nahm. Hier studierte er bis 1927 und entdeckte 1924 die Stammeskunst für sich. Der Bildhauer stellte im Juni 1929 in der Galerie Jeanne Bucher aus, wo André Masson seine geheimnisvollen Skulpturen entdeckte. Nach einem Atelierbesuch entschloss sich die Gruppe um André Breton, den jungen Bildhauer aufzunehmen. Giacometti hatte sich in den führen, surrealistischen Werken von der Wiedergabe der Alltagswelt gelöst und suchte Äquivalente für seine innere Welt, seine Träume, sein Unbewusstes. Jahre später meinte er, egal ob er Figuren oder abstrahierte, symbolträchtige Objekte schuf, immer wäre es „die Totalität des Lebens“ gewesen, die er darstellen wollte. In den Jahren von 1930 bis 1934 war Alberto Giacometti der wichtigste Bildhauer des Surrealismus. Zum Bruch mit André Breton, dem selbsternannten Hohepriester des Surrealismus, kam es, nachdem Giacometti 1934 erneut das Aktstudium aufgenommen hatte. Am 14.Februar 1935 wurde er hochoffiziell aus der Gruppe ausgeschlossen.
Man Ray – Objekte, Fotogramme und die Vogue
→ Man Ray
Man Ray hatte nach einem Kunststudium in New York die Fotografie entdeckt und meinte, von Reproduktionen und Arbeitsfotos leben zu können. Ab dem 14. Juli 1921 lebte er in Paris. Hier bot er sich als professioneller Reprofotograf an und arbeitete u. a. für Picabia, Braque, Matisse, Picasso, Rousseau. Er hatte noch am Tag seiner Ankunft Breton, Eluard und Soupault im Café Certá kennen gelernt.
Seine wichtigste Erfindung ist die so genannte „Rayografie“. Im Jahr 1921 oder 1922 „entdeckte“ besser machte er die kameralose Fotografie für sich fruchtbar. Dazu arrangierte er einige Glasgegenstände auf dem Fotopapier, das bereits mit Entwicklerlösung bestrichen war, und belichtete es. Vor seinen Augen entstanden auf wundersame Art Bilder. In der Folge nutzte Man Ray dafür einen Kamm, Filmrolle, Korkenzieher, Glasobjekte, „Slinky“ (eine Drahtspirale, die sich selbständig bewegen kann, eigentlich ein Kinderspielzeug) und schuf – vom ihm benannte – Rayogramme als „Illustrationen“ für seine Mappe „Champs Délicieux“ (1922, Auflage 40 Stück).
Durch einen Kontakt mit Paul Poiret, dem wichtigsten Pariser Modeschöpfer der 20er Jahre, machte Man Ray den Schritt in die Modefotografie und wurde bald ein gefragter Fotograf von Harper’s Bazar, Vogue, Vu, Vanity Fair. Wenn er auch mit den Porträtaufnahmen berühmt wurde, so waren es seine Rayogramme, die ihn zu einem Mitglied der Surrealisten machte.
André Masson – das automatische Zeichnen
Bevor Masson Surrealist wurde, war er stark vom Kubismus beeinflusst. Um 1923 oder 1924 entwickelte er, angeregt von Bretons „automatischen Texten“, eine zeichnerische Écriture automatique. Mit schneller Bewegung und ohne zuvor Bildinhalt oder Komposition festgelegt zu haben, bewegte er seine Hand über das Blatt. „Wenn man sehr rasch arbeitet, ist die Zeichnung mediumartig, als würde sie vom Unbewussten diktiert“11, beschrieb Masson selbst den Vorgang und seinen Effekt. Wichtig war es jedoch vor diesen Zeichnungsexperimenten „für Leere zu sorgen“, was bei Masson wohl auch die Einnahme von Alkohol und Drogen beinhaltete. Viele der Werke André Massons zeigen Verwandlungen von Körpern und abstrakten Gebilden. Man trifft in ihnen häufig auf Kampf, Zerstörung und Verletzung. Im Gegensatz zu Max Ernst steuerten Masson und auch Miró eine abstrahierende, informelle (unförmige) Tendenz zum Surrealismus bei. Diese wird in der amerikanischen und französischen Nachkriegsmalerei reiche Nachfolge finden.
Yves Tanguy – der Landschaftsmaler
Als der 1900 geborene Maler Yves Tanguy nach einigen Jahren zur See 1922 nach Paris zurückkehrte, sah er während einer Busfahrt Giorgio de Chiricos Gemälde „Das Gehirn des Kindes“ in einem Schaufenster und beschloss Maler zu werden. Das Bild gehörte André Breton. Tanguy schloss sich den Surrealisten an und ließ sich anfangs von Masson und Miró inspirieren. Ab 1926/27 lassen sich seine Gemälde dem Surrealismus zuordnen. Sie sind willkürliche Anordnungen von Objekten und Zeichen, scheinen auf eine inhaltliche Kohärenz zu verweisen und bleiben dennoch unauflösbar. Tanguy lässt auf diese Weise geheimnisvolle Landschaften entstehen, arbeitete er doch beständig mit einer Horizontlinie, braunem Land und blauem „Himmel“. Wo sich diese Traumlandschaften befinden, auf der Erde, unter Wasser, auf dem Wasser oder irgendwo auf einem anderen Planeten, bleibt bewusst offen. Auch die Bildtitel spielen eine wichtige Rolle, denn sie dienen der weiteren Verrätselung der Bildinhalte. Dennoch wurden und werden die künstlichen Landstriche Tanguys als Symbole für „Einsamkeit, Ungewissheit, Bedrohlichkeit“12 interpretiert.
Kay Sage
→ Kay Sage
Kay Sage (Albany 25.6.1898–8.1.1963 Woodbury) war eine US-amerikanische Künstlerin und Schriftstellerin des Surrealismus. Sie war in zweiter Ehe mit dem französischen Maler Yves Tanguy verheiratet. Bekannt wurde Kay Sage für Gemälde mit surrealen Architekturen. Sage schuf den Großteil ihrer reifen Arbeiten zwischen 1940, als sie Tanguy heiratete, und 1955, als er plötzlich an einer Gehirnblutung starb.
René Magritte
Der belgische Maler René Magritte wurde 1929 zum Surrealisten. Seiner Meinung nach könne „der poetische Titel uns nichts lehren, stattdessen soll er uns überraschen und bezaubern.“ Ein Bild wie „Der bedrohte Mörder“ (1926) zeigt einen Lustmörder und sein Opfer. Der gut gekleidete Verbrecher lauscht noch der Schallplatte, während seine Häscher bereits in Stellung gegangen sind. Wenn auch die Szene an zeitgenössische Detektivromane und Filme erinnert, erschreckt doch die Emotionslosigkeit der Beteiligten.
Zwischen 1927 und 1930 lebte Magritte in Paris, war mit Breton, Éluard, Arp, Miró und Dalí befreundet, konnte seine Bildproduktion zwar steigern aber dennoch nicht von Verkäufen leben. Ab etwa anfang 1929 wurde er als Teil der Bewegung des Surrealismus akzeptiert, doch schon ein Jahr später kam es zum Bruch mit Breton. Wieder nach Brüssel zurückgekehrt, war René Magritte ein Zentrum der höchst aktiven belgischen Surrealistengruppe.
Paul Delvaux
Paul Delvaux (Antheit (Wanze) 23.9.1897–20.7.1994 Veurne) war ein belgischer Maler des Surrealismus. Delvaux wurde für traumhafte Szenen von Frauen, klassischer Architektur, Zügen und Bahnhöfen sowie Skeletten bekannt. Beeinflusst von den Werken Giorgio de Chiricos und René Magrittes, entwickelte Delvaux eigene surreale Themen und einen hyperrealistischen Stil. Er verband die Vorstellung klassischer Schönheit der akademischen Malerei mit bizarren Gegenüberstellungen des Surrealismus. So erforschte Delvaux
Salvador Dalí – Paranoia und Vexierbilder
Eine weitere Möglichkeit der Surrealisten sich gegen Rationalität, Bourgeoisie und eine erstarrte Sexualmoral zu positionieren, war die positive Bewertung von Wahn und Paranoia. Beide wurden als subversive, nicht gesellschaftskonforme Verhaltensweisen gedeutet und vereinnahmt. Vor allem Salvador Dalí entwickelte eine analoge Methode des Zusammenführens wahnhafter Bilder, die auf kritisch interpretierenden Assoziationen beruhten und so irrationale Erkenntnis auslösen sollten: die so genannte „phänomenologisch paranoisch-kritische Methode“. Für sich selbst reklamierte er medienwirksam ein großartiges paranoides Gehirn.
„Ich wandte meine paranoisch-kritische Methode an, um diese Welt zu ergründen. Ich will die verborgenen Kräfte und Gesetze der Dinge erkennen und verstehen, um sie zu beherrschen. Ich habe die geniale Eingebung, dass ich über eine außergewöhnliche Waffe verfüge, um zu Kern der Wirklichkeit vorzudringen: den Mystizismus, das heißt die tiefe Intuition dessen, was ist, die unmittelbare Kommunikation mit dem Ganzen, die absolute Vision durch die Gnade der Wahrheit, durch die Gnade Gotte. Stärker als Zyklontrone und kybernetische Rechner vermag ich, in einem einzigen Augenblick in die Geheimnisse des Realen einzudringen.
Mein die Extase! Rufe ich aus. Die Extase Gottes und des Menschen. Mein die Perfektion, die Schönheit, auf dass ich ihr in die Augen sehe Tod dem Akademismus den bürokratischen Formeln der Kunst, dem dekorativen Plagiat, den schwachsinnigen Verirrungen der afrikanischen Kunst. Mein, heilige Theresia von Avila! ... In diesem Zustand intensiver Prophetie wurde mir klar, dass die bildnerischen Ausdrucksmittel ein für alle Mal und mit der größtmöglichen Perfektion und Wirkung in der Renaissance entwickelt wurden und dass die Dekadenz der modernen Malerei dem Skeptizismus und dem Mangel an Glauben entspringt, den Folgen des mechanistischen Materialismus. Durch die Wiederbelebung des spanischen Mystizismus werde ich, Dalí, mit meinem Werk die Einheit des Universums beweisen, indem ich die Geistigkeit aller Substanz zeige.
Die neuen Vorstellungsbilder werden, selbst wenn sie heftig verdrängt werden, als funktionelle Form des Denkens der freien Neigung des Verlangens folgen. Die tödliche Aktivität dieser neuen Vorstellungsbilder kann […] zum Ruin der Wirklichkeit und zum Besten all dessen beitragen, was uns über alle möglichen niederträchtigen und ekelhaften Ideale, die ästhetischen, humanitären, philosophischen usw., hinweg zu den klaren Quellen der Onanie, des Exhibitionismus, des Verbrechens und der Liebe zurückführt.“13
Im 1930 publizierten Artikel „Der Eselskadaver“ (L‘ âne pourri) stellte er seine Methode noch gleichberechtigt neben die etablierten Formen surrealistischer Kreativitätssteigerung wie die écriture automatique und die Traumberichte. Für den Spanier waren jedoch die „althergebrachten“ Möglichkeiten zu passiv und gleichsam abwartend. Er wollte mit seinen vieldeutigen Vexierspielen „das kreative Potential der Paranoia, des Wahns, der Halluzinationen, Visionen und Delirien für den Interpretations- und Imaginationsprozess, für das Visualisierung und Kreieren von Träumen, Fantasien und Wunschvorstellungen nutzbar“ machen.14
Toyen
→ Toyen
Die tschechische Künstlerin Toyen, egentlich Marie Cermínová (1902–1980), lebte bereits ab 1925 in Paris und entwickelte sich Anfang der 1930er Jahre zur überzeugten Surrealistin. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Jindřich Štyrský (1899–1942) prägte sie den tschechischen Surrealismus in Prag. Im Jahr 1934 war sie eine Mitbegründerin der „Surrealistengruppe der CSR“, die sich sogleich mit der Pariser Gruppe zusammenschloss. Im selben Jahr lernte sie auf einem Besuch in Frankreich Max Ernst, Salvador Dalí und Yves Tanguy kennen. Während der Nazi-Herrschaft wurde sie mit Mal- und Ausstellungsverbot belegt. Da sie sich 1947 zu einer Ausstellungsvorbereitung in Paris aufhielt, entschloss sie sich in Paris zu bleiben. Dort wurde sie in die neugegründete Surrealisten-Gruppe aufgenommen.
Claude Cahun
Claude Cahun (Nantes 1894–1954 Saint Helier) war eine französische Künstlerin des Surrealismus: Fotografin, Darstellerin, Aktivistin und Schriftstellerin. Cahun entwickelte zwischen 1914 und 1954 ein faszinierendes fotografisches Werk, in dem sie ihr Geschlecht und ihre Identität zum Thema machte. In den inszenierten Selbstporträts dekonstruierte sie die für Frauen festgeschriebenen Ausdrucksformeln und wies eine festgeschriebene geschlechtliche Identität zurück. Mithilfe von Maskerade und Pose unterwanderte sie auf kritisch-analytische Weise auch das obsessive Frauenbild ihrer surrealistischen Kollegen. Erst der durch den Feminismus der 1970er Jahre ausgelöste Diskurs um Körper und Geschlecht machte die Wertschätzung von Cahuns Werk ab den 1980er Jahren möglich.
Dora Maar
Dora Maar wurde 1907 in Paris geboren und auf den Namen Theodora Markovitch getauft. Sie studierte ab 1926 an der École de Photographie und der privaten Kunstakademie Julian. Anfang der 1930er Jahre eröffnete sie ein Fotostudio. Neben realistischen Schilderungen aus dem Arbeitermilieu schuf sie auch Modefotografien für Coco Chanel, Elsa Schiaparelli und Helena Rubinstein. Ab 1934 lernte sie die Surrealisten kennen, beginnend mit Georges Bataille, mit dem sie eine monatelange Affäre hatte. Im folgenden Jahr war Dora Maar zur Surrealistin gereift und entwickelte ihren persönlichen Stil, indem sie interessante Motive zusammenkopierte. Heute ist die Fotokünstlerin hauptsächlich als Geliebte von Pablo Picasso berühmt, den sie 1936 zum Freund nahm. Als „Die weinende Frau“ ging sie 1937 in einer Serie von Gemälden Picassos in die Kunstgeschichte ein. Für Picasso kehrte sie wieder zur Malerei zurück, obwohl sie in den 1920ern festgestellt hatte, dafür nicht genug Talent zu besitzen.
Lee Miller – Fotomodell und Kriegsreporterin
Lee Miller wurde 1907 in der Industriestadt Poughkeepsie (New York) geboren. Im Alter von sieben Jahren wurde sie von einem Matrosen (dem Vater?) vergewaltigt. 1926 kam sie zum ersten Mal nach Paris, zog jedoch für ihr Malereistudium zurück nach New York. Dort wurde sie vom Herausgeber der Vogue, Condé Nast, vor einem Autounfall gerettet und stieg zu einem gefragten Fotomodell auf. Um die Fotografie zu erlernen, kam Miller erneut nach Paris und suchte Man Ray mit einem Empfehlungsschreiben von Edward Steichen im Sommer 1929 auf. In den folgenden drei Jahren waren sie ein Liebespaar, Lehrer und Schülerin, Fotograf und Muse sowie Modell gleichermaßen. Gemeinsam perfektionierten sie Man Rays Technik der Solarisation 1929. Hierfür wird ein Negativ doppelt belichtet, so dass die beispielsweise dunklen Flächen rund um ein Porträt ebenfalls hell erstrahlen. Zwischen Positiv und Negativ entsteht eine schimmernde Konturlinie, die die Bilder wie Visionen wirken lässt.
Im Gegensatz zu Man Ray und den anderen Surrealisten suchte Lee Miller nicht die Zusammenführung von Alltagsphänomenen zu einer unerklärlichen (kritisch-paranoiden) Komposition. Anstelle mit Verfremdungseffekten zu arbeiten, „entnahm“ sie der Wirklichkeit surreale Momente, arbeitete aber auch gelegentlich mit Collagen.
Meret Oppenheim
Getreu ihres Mottos – „Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen“ – bewegte sich Meret Oppenheim (1913-1985) fernab stilistischer Zuordnungen. Ihr höchst vielschichtiges Werk, das von Malerei über Skulptur, (Schmuck)Design bis hin zu Gedichten reicht, wird oft mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht, geht jedoch weit darüber hinaus.
Gertrude Abercrombie
Gertrude Abercrombie (Austin 17.2.1909–3.7.1977 Chicago) war eine amerikanische Malerin, die ab 1932 Erfolg in Chicago hatte. Sie wurde bekannt für traumähnliche Landschaften und Stillleben mit symbolistischen Motiven, die an Giorgio de Chirico, Carlo Carrà und Giorgio Morandi erinnern.
Sonja Ferlov Mancoba
Sonja Ferlov Mancoba (Kopenhagen 1.11.1911–17.12.1984 Paris) war eine dänisch-französische Malerin und Bildhauerin des Surrealismus. Ihr Werk umfasst Gemälde, Collagen, Zeichnungen und Skulpturen. Ferlov Mancoba lebte und arbeitete ab 1936 in Paris, wo sie mit Alberto Giacometti, Max Ernst u.v.m. befreundet war.
Leonora Carrington - Mystikerin und Köchin
Leonora Carringtons (1917–2011) Werk hat nicht viel gemein mit der Welt freudscher Symbole, die Schlüssel zu Traumbildern und folglich zu ihrer Dechiffrierung liefern. Vielmehr bewegte sich Leonora in einer Sphäre des Seherischen: Die Stoffe, mit denen sie arbeitete, rührten nicht allein aus Träumen her. Ihre Fantasien führten zu lebhaften Bildern, übertragen auf eine mentale Landschaft.
Leonor Fini
Die Italienerin Leonor Fini (Buenos Aires 30.8.1907–18.1.1996 Paris) kam im Herbst 1937 nach Paris, war jedoch den Surrealisten bereits bekannt. Sie ging eine kurze Affäre mit Max Ernst ein. Im Gegensatz zu den männlichen Kollegen, die Weiblichkeit gerne als gefährlich und/oder gefährdet darstellten, sind die Frauen im Werk von Leonor Fini intakt - stattdessen zeigte sie schlafende, junge Männerakte. Finis Bilder sind präzise und mit altmeisterlicher Lasurtechnik gemalt.
Dorothea Tanning
Tanning ging bisher weniger als Künstlerin denn als Rivalin von Peggy Guggenheim in die Kunstgeschichte ein. Die Liebesbeziehung begann im Winter 1942, ein Jahr nachdem Max Ernst die berühmte Galeristin geehelicht hatte. Die Illustratorin wandelte sich unter dem Einfluss ihres Freundes zu wahrhaften Surrealistin und meinte: „Hier ist die grenzenlose Weite des MÖGLICHEN, eine Perspektive, die nur zufällig etwas mit dem Bemalen von Flächen zu tun hat.“ Aufgrund einer Erkrankung an Enzephalitis übersiedelte die inzwischen erfolgreiche Künstlerin gemeinsam mit Ernst 1946 nach Arizona. Sie heirateten am 24. Oktober in Beverly Hills in einer Doppelhochzeit neben Man Ray und Juliet Bower.
Roberto Matta
Roberto Matta, eigentlich Roberto Antonio Sebastián Matta Echaurren (Santiago de Chile 11.11.1911/1912–23.11.2002 Civitavecchia), war ein chilenischer Architekt, Bildhauer und Maler. Von 1937 bis 1947 und erneut ab 1957 gehörte er der Gruppe rund um André Breton an. Der Autodidakt schuf 1938 seine ersten Gemälde und entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem der einflussreichsten Maler des Spätsurrealismus. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete er an abstrakten Innenwelten. Danach stehen die Werke Mattas oft in starkem Bezug zu den jeweils aktuellen Geschehnissen und spiegeln sein politisches Engagement wider.
Frida Kahlo
Ob Frida Kahlo dem Surrealismus zuzurechnen ist, wird immer noch diskutiert. Die Künstlerin selbst beonte Zeit ihres Lebens (natürlich) ihre Unabhängigkeit von allen Stilen und Einflüssen. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass Frida Kahlo ihr Werk zwischen Neuer Sachlichkeit und Surrealismus entwickelte. In vielen Gemälden ab 1931 zeigt sie surrealistische Zusammenstellungen, in denen sie jedoch keine Traumbilder, sondern ihre Lebenswirklichkeit in Mexiko verarbeitete.
Wolfgang Paalen - Rauchbilder
Der 1905 in Wien geborene Maler stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen. Er wurde erst 1936, nach dem großen Erfolg einer Einzelausstellung in Paris, Mitglied der Surrealistengruppe rund um André Breton. Seine Landschaften erinnern anfangs an die Werke von Yves Tanguy, wenn sie auch deutlicher von wiedererkennbaren Motiven durchzogen werden. Zu seinen wichtigsten Erfindungen zählt die „Fumage“, bei der die Rußspur einer Kerze oder einer Öllampe auf Leinwand oder Papier festgehalten wird. Selten ließ er diese rauchigen Linien alleine stehen, sondern überarbeitete sie mit Farben zu abstrakt-surrealen Kompositionen. Damit eröffnete er der folgenden Generation – darunter Yves Klein, Jackson Pollock – neue Möglichkeiten. Im Mai 1939 reisten Wolfang Paalen, seine Frau und die befreundete Fotografin Eva Sulzer ins Exil nach New York, und nach einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt in den Indianerreservaten Britisch-Kolumbiens nach San Francisco. Im September 1939 wählten sie auf Einladung Frida Kahlos Mexiko als Exil, wo er als Theoretiker und Künstler weiterhin wichtige Impulse für die New Yorker Kunstszene gab.
Maria Martins
Maria Martins (Campanha 7.8.1894–27.3.1973 Rio de Janeiro) war eine brasilianische Bildhauerin und Kupferstecherin des Surrealismus. Maria Martins ist in der Kunstgeschichte als „Bildhauerin der Tropen“ und „große Bildhauerin des Surrealismus“ bekannt. In ihrem Werk hinterfragt sie die Vorstellungen von Weiblichkeit, Brasilien und den Tropen. Maria Martins konzentrierte sich vor allem auf die schlangenartigen Figuren von Reptilien und Lianen - Figuren an der Schnittstelle zwischen amazonischen Themen, Form (gewundene Verdrehungen) und surrealistischer Inspiration. André Breton sah in diesen Werken den vitalistischen und primitiven Impuls der heiligen Flamme, der seiner Meinung nach im „Westen“ fehlte.
Isabelle Waldberg
Isabelle Waldberg (Oberstammheim 10.5.1911–12.4.1990 Chartres) war eine Schweizer Künstlerin und Bildhauerin des Surrealismus, die im New Yorker Exil zu ihrem Stil fand und mit Künstler:innen des Surrealismus aber auch des Abstrakten Expressionismus bei Peggy Guggenheim ausstellte.
André Kertész
Der 1894 in Budapest geborene Fotograf André Kertész kam im September 1925 nach Paris. Er hatte sich in Ungarn autodidaktisch mit Fotografie beschäftigt und dort bereits einen so originellen Stil entwickelt, dass er 1927 als erster Fotograf weltweit in einer Einzelausstellung zeigen konnte. Ende der 1920er Jahre arbeitete er für das Fotomagazin „VU“, indem er in Fotoessays bildlich über verschiedene Themen berichtete. Als Kertész mit einer Serie von gewagten Figurenstudien beauftragt wurde, schuf er 200 Negative zweier weiblicher Akte mit verzerrten Perspektiven. Eine Handvoll dieser Verzerrungen sind überzeugend surreal.
Joseph Cornell
Der amerikanische Autodidakt begegnete Marcel Duchamp 1930 in einer New Yorker Galerie. Inspiriert durch die Pariser Surrealisten begann er mit Collagen zu arbeiten und entwickelte bald erste Boxen, in denen er Fundstücke zu geheimnisvollen, poetischen Arrangements zusammenstellte. Diese Assemblagen sind Fantasiereisen in die Vergangenheit, nachempfundene Gedichte (z. B. Emily Dickinson), wissenschaftliche Visualisationen, Hommagen an Ballerinen etc. Obwohl Joseph Cornell u. a. von Peggy Guggenheim gesammelt wurde, galt er viele Jahrzehnte als artist's artist (Künstler für Künstler). Künstlerinnen wie Yayoi Kusama und Carolee Schneeman waren mit dem zurückgezogen lebenden Cornell befreundet bzw. arbeiteten am Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit als Assistentinnen bei ihm.
Skunder Boghossian
Skunder Boghossian (22.7.1937–4.5.2003) war ein äthiopisch-armenischer Maler und Kunstlehrer. Er verbrachte einen Großteil seines Lebens in den Vereinigten Staaten, wo er lebte und arbeitete. Er war einer der ersten und bei weitem renommiertesten zeitgenössischen schwarzen Künstler des afrikanischen Kontinents, der internationale Aufmerksamkeit erlangte.
Zusammenfassung: Der Surrealismus in Paris 1921–1966
Gründer des Surrealismus
- André Breton (Tinchebray 1896–1966 Paris)
- Louis Aragon (Paris 1897–1982 Paris)
- Philippe Soupault (Chaville 1897–1990 Paris)
Vorbilder des Surrealismus
- Comte de Lautréamont (eigentlich Isidore Lucien Ducasse, Montevideo/Uruguay 1846–1870 Paris): Die Gesänge des Maldoror
- Arthur Rimbaud (Charleville-Mézières 1854–1891 Marseille)
- Marcel Duchamp (Blainville 1887–1968 Paris)
- Giorgio de Chirico (Volos/Griechenland 1888–1978 Rom)
- Pablo Picasso (Malaga/Spanien 1881–1973 Mougins/Frankreich)
- Francis Picabia (Paris 1879–1953 Paris)
- Paul Klee
Literaten des Surrealismus
- Robert Desnos (Paris 1900–1945 KZ Theresienstadt)
- Paul Éluard (eigentlich Eugène Grindel, Saint-Denis 1895–1952 Charenton-le-Pont)
- Georges Bataille (Billon 1897–1962 Paris)
- Jean Cocteau (Maison-Lafitte 1889–1963 Milly-la-Forêt)
- Michel Leiris (Paris 1901–1954 Mexiko)
- Tristan Tzara (eigentlilch Samuel Rosenstock, Mineşti/Rumänien 1896–1963 Paris)
Surrealistische Zeitschriften
- Littérature 1919–1926?
- La Revolution Surréaliste 1924–1929, hg. von André Breton, Pierre Naville und Benjamin Péret
- Documents 1929–1931, hg. von George Batailles
- Minotaure
Surrealistinnen und Surrealisten in der Malerei
- Max Ernst (Brühl/Deutschland 1891–1976 Paris)
- André Masson (Balagny-sur-Thérain/Frankreich 1896–1987 Paris)
- Joan Miró (Barcelona 1893–Palma de Mallorca 1983)
- René Magritte (Lessines/Belgien 1898–1967 Brüssel)
- Salvador Dalí (Figueras/Spanien 1904–1989 Figueras)
- Yves Tangui (Paris 1900–1955 Woodbury/Conneticut/USA)
- Leonora Carrington (Lancashire/England 1917–2011 Mexiko)
- Leonor Fini (Buenos Aires/Argentinien 1907–1996 Paris)
- Dorothea Tanning (Galesburg/USA 1910–2012 New York)
- Wolfgang Paalen (Wien 1905–1959 Mexiko)
Surrealistinnen und Surrealisten in der Bildhauerei
- Hans Arp (Straßburg 1886–1966 Basel)
- Alberto Giacometti (Stampa/Schweiz 1901–1966 Chur)
- Meret Oppenheim (Berlin 1913–1985 Bern)
- Hans Bellmer (Kattowitz 1902–1975 Paris)
Surrealistinnen und Surrealisten in der Fotografie
- Man Ray (Philadelphia/USA 1890–1976 Paris)
- Lee Miller (Poughkeepsie/USA 1907–1978 Sussex/England)
- Dora Maar (Paris 1907–1997 Paris)
- Claude Cahun (eigentlich Lucy Schwob, Nantes 1894–1954 Jersey)
- Brassaï (eigentlich Gyula Halàsz, Brasso/Ungarn 1899–1983 Paris)
- Eli Lotar (Paris 1905–1970 Paris)
Surrealisten in Theater und Film
- Antonin Artaud (Marseille 1896–1948 Ivry sur Seine)
- Luis Bruñuel (Calanda/Spanien 1900–1983 Mexiko)
Beiträge zum Surrealismus
- Zitiert nach Antonin Artaud, Anfang 1925, in: Fiona Bradley, Surrealismus, Ostfliedern 2001, S. 6.
- Siehe die Chronologie aus: IMAGINE! 100 Years of International Surrealism (Ausst.-Kat. Royal Museums of Fine Arts of Belgium, Brüssel, 2024), Brüssel 2024, S. 220-223.
- Siehe: Simone Collinet [Kahn], The Exquisite Corpse, in: Il cadavere squisito, la sua esaltazione (Ausst.-Kat. Galleria Schwarz, Mailand) [1975].
- Die Aufnahme Uccellos in die Liste der Vorläufer und Vorbilder des Surrealismus beruht u.a. auf zwei Texten von Antonin Artaud aus den Jahren 1924 bis 1926. Bis Ende der 1920er Jahre war Uccellos Werk zudem erst in einer Biografie - "Paolo Uccello, peintre" (1895) von Marcel Schwob - sowie im Überblick "Florentine Painters of the Italian Renaissance" (1896) von Bernard Berenson dem breiten Publikum vorgestellt worden. In den 1910er Jahren wurde der Renaissance-Künstler von den italienischen Futuristen rezipiert. Umso erstaunlicher erscheint es, dass Uccello in einer Reihe mit Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel dem Älteren und William Blake genannt wurde. Breton nennt ihn ihn seinem "Ersten Manifest" von 1924, daraufhin reiste Philippe Soupault nach Italien, um dessen Werke im Original zu studieren und verfasste schlussendlich das Buch "Paolo Uccello" (1929). Daraufhin bezogen sich Künstler wie Salvador Dalí und Georges Hugnet auf Uccellos Kunst. Siehe: Tessel M. Bauduin, Paolo Uccello in French Surrealism: Doubling Antonin Artaud, in: RIHA Journal (20.2.2023).
- Zitiert nach Schneede, S. 16.
- Zit. n. Oliver Kase, »mit Verbindung nach dort oben« – Paul Klees Verteidigung des Metaphysischen, in: Oliver Kase (Hg.), Paul Klee. Konstruktion des Geheimnisses (Ausst.-Kat.Pinakothek der Moderne, München, 1.3.–10.6.2018) München 2018, S. 40.
- Zitiert nach Rubin, S. 556-558.
- William Rubin (Hg.), Primitivism in 20th Century Art (Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1984), New York 1984. Deutsche Ausgabe Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, München 1984.
- Wolfgang Kemp, Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München 2011, S. 66.
- Kemp, S. 68.
- Zitiert nach Schneede, S. 90.
- Schneede, S. 97.
- Zitiert nach Isabel Maurer Queipo: Délir – Désir, in: Nanette Rißler-Pipka, Isabel Maurer Queipo (Hrsg.), Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007, S. 129–158, hier S. 143-144.
- Ebenda, S. 145.